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Berlin: Fleischskandal: Mit dem Stahlhandschuh an die Schweinehälfte

In langen Reihen hängen zweihundert Schweinehälften von der Hallendecke, wie Mäntel auf einem Kleiderständer. Statt Markenschildern tragen sie rote Herkunftsstempel auf den Schwarten.

In langen Reihen hängen zweihundert Schweinehälften von der Hallendecke, wie Mäntel auf einem Kleiderständer. Statt Markenschildern tragen sie rote Herkunftsstempel auf den Schwarten. Hundert Körper, exakt an der Wirbelsäule getrennt, säuberlich ausgeblutet und ausgeweidet - so liefert sie der Schlachthof jeden Tag um Mitternacht bei Reichelt in Marienfelde ab. Das Körperinnere scheint blitzblank geschrubbt, da, wo einmal der Kopf war, hängt nur noch ein schlapper Hautlappen: die Schweinebacken.

Als größte Berliner Fleischerei verarbeitet Reichelt täglich 1000 halbe Schweine und 20 Rinderhälften vor allem für die eigenen rund 200 Supermarktfilialen in Berlin und Brandenburg. "Früher waren das mal hundert Rinder", sagt Rainer Krämer, Chef der Qualitätssicherung bei Reichelt. "Aber die Kunden mögen das derzeit nicht." Wie viele andere Hersteller auch, hat Reichelt die meisten Wurstrezepte auf Schwein umgestellt. Von 100 Wurstsorten werden noch 30 mit Rind produziert.

Ungern verzichten die Wurstkocher auf Rind. Ihnen fehlt das kräftig rote Fleisch, das dem Lebensmittel erst eine appetitliche Farbe und den typischen Geschmack gibt. Außerdem wird die Wurst durch die Mischung mit Rindfleisch schnittfester, denn pures Schweinefleisch, das lehrt die Erfahrung, bröckelt schneller, ist nicht so geschmeidig.

In den Produktionsräumen der 70 Jahre alten Reichelt-Halle verbreiten Fliesen und viel Edelstahl den eisigen Charme abwaschbarer Oberflächen. Eine Mischung aus kaltem Fleischgeruch und Desinfektionsmittel hängt in den konstant auf 12 Grad gekühlten Räumen. Trotzdem kommen die zwölf Fleischer am Zerlegetisch ins Schwitzen. In atemberaubender Geschwindigkeit zerteilen sie die Schweinehälften. Hochgerüstet wie die Ritter hantieren die Fleischer mit langen Messern. Zum Schutz vor Verletzungen tragen sie unter dem Kittel ein Kettenhemd, die linke Hand, mit der die Fleischstücke gehalten werden, steckt in einem stahlbewehrten Handschuh.

Zwei, drei schnelle Schnitte mit den rasiermesserscharfen Klingen und die Knochen sind ausgelöst und die Haut abgezogen. Routiniert trennen die Männer die Koteletts ab, schneiden den Schinken aus und legen die Filets frei. Wie am Fließband macht jeder immer nur die gleichen Handbewegungen. Hier und da werden kleinere oder größere Zipfelchen abgeschnitten, weil sie zu fett sind oder zu klein oder zu sehnig. Die Brocken landen in roten Plastikbottichen und werden später nach ihrem Fettgehalt sortiert. "Verarbeitungsfleisch" nennen das die Fachleute, das restlos gebraucht wird - für die Wurst.

Akkorddruck und immer gleiche Handgriffe - da kann in der Eile schon einmal etwas im Wurstbottich landen, was da nicht hingehört. Ein knorpliges Stück Vene zum Beispiel. Krämer fischt sie aus der Kiste. Doch im Großen und Ganzen überrascht die Qualität des Wurstmaterials: etwas viel Fett vielleicht, aber ansonsten sieht es für den Laien wie grob geschnittenes Gulasch aus. Hinzu kommt das Fett, das von den Schwarten abgelöst wird, ebenso wie die Schweinebacken und die weichen Sehnen. Täglich sieben Stunden lang kaltes Fleisch zu zerlegen, das kann den Appetit auf Kurzgebratenes schon beträchtlich schmälern. Zwar meint einer der Fleischer tapfer: "Das Steak schmeckt immer noch." Aber Umfragen unter den Reichelt-Mitarbeitern belegen: sie alle beißen nach Arbeitsschluss lieber in ein saftiges Stück Kuchen.

In großen Schreddern - Kutter genannt - werden die Brocken bei 1000 Umdrehungen pro Minute und einem ohrenbetörenden Lärm zu Fleischbrei gemahlen und mit Gewürzen versetzt. Die Masse, von der Farbe und Konsistenz her mit Kuchenteig vergleichbar, dem ein Schuss Kirschsaft zugefügt wurde, füllen Arbeiterinnen in Natur- und Kunstdärmen ab.

Dann sammeln die Fleischer Erfahrung mit einem ganz besonderen Zusatzstoff: Flüssigrauch. Man testet die Verwendbarkeit dieses im Wasser gereinigten und gebundenen Rauches, der laut Lebensmittelrecht auf die Oberfläche der Würste gesprüht werden darf. "Das ist viel gesünder, als echter Rauch, der Krebs erzeugen kann", erklärt Krämer. In anderen Kammern werden Wiener Würstchen noch über richtigem Buchenholz-Rauch aromatisiert.

In den Kammertüren raspeln automatische Fräsen Späne von einem etwa einem Meter langen Kantholz, die an Ort und Stelle verglimmen. Der dabei entwickelte Rauch strömt ins Innere der Räucherkammer, gibt den blassen Würstchen Geschmack und Farbe. Ein Teil des Rauches wabert durch den Raum, weckt bei geschlossenen Augen die Romantik großväterlichen Wurstkochens - bis man die Edelstahlkammern sieht, in denen eine genau berechnete Rauchmenge durch Düsen so verteilt wird, dass überall die gleiche Konzentration herrscht. Effizienz und Sauberkeit regieren, mit Romantik hat das industrielle Wurstmachen eben doch nichts zu tun.

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