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Berlin: Lange Geschichte im Schlepptau

Auf der Havel treffen sich Segler zur Klassiker-Regatta samt Bootskorso – auch heute Für ein paar von ihnen war schon die Anreise ein Höhepunkt: mit alten Schiffen einmal quer durch die Stadt.

Steuerbord wechseln verrumpelte Höfe mit geschniegelten Kleingärten, Backbord folgt das satte Grün alter Brachen auf eine verdorrte „Getränkeoase“ und Industriebauten aus drei Jahrhunderten. Vor dem Bug hängt die Leine, die unser Segelboot „Tigra“ mit dem historischen Schlepper „Aurora“ verbindet. Achtern, am Ende einer weiteren Leine, döst ein ebenfalls geschleppter Segelfreund an Deck seiner Jolle. Ein kurioser Tross durchquert Berlin auf dem Weg zu einer ungewöhnlichen Regatta: Die an diesem Sonnabend zum 16. Mal veranstaltete „Havel Klassik“, bei der alle Segelboote starten dürfen, die älter als 40 Jahre sind.

Auf der 109 Jahre alten „Tigra“freuen sich Jutta Boergers und Götz Gaertner über das für sie doppelt interessante Ereignis: Die Regatta und den Weg dorthin aus ihrem Revier an der Dahme bis an die Scharfe Lanke nach Spandau. Vom Wasser aus sieht man Seiten von Berlin, die einem sonst verborgen bleiben.

Goetz Gaertner sieht ohnehin mehr als andere. So erkennt er hinter hohen Bäumen in Köpenick das Backsteinhaus des Textilfabrikanten John Blackburn, der Niederschöneweide ab 1869 zur Blüte verhalf. Er sieht auch die ockerfarbene AEG-Halle, in der die E-Mobility vor gut 100 Jahren schon einmal anrollte: Elektroautos mit Nabenmotoren in Serie. Und er erkennt den Turm, von dem aus die mutmaßlich erste Funkverbindung der Welt aufgebaut wurde. Als Blackburn sich hier niederließ, war am gegenüberliegenden Ufer in Oberschöneweide allerdings noch schöne Weide.

So vergeht schnell eine Stunde bis zur Mühlendammschleuse. In der Schleusenkammer ist keine Muße mehr, um über die soeben passierte „Tavernengesellschaft“ zu plaudern, den ersten Berliner Genussseglerverband mit Quartier auf der Halbinsel Stralau und Karl Marx als zeitweiligem Nachbarn. Jetzt stehen dort gehobene Stadtvillen zu abgehobenen Preisen. Auch die Mediaspree, auf der hinter Strandkörben das Daimler-Quartier in den Sommerhimmel wächst, ist jetzt vergessen, weil von hinten die „Mark Brandenburg“ nachrückt. Ausgerechnet der größte Dampfer der Stadt schiebt sich hinter die Mahagoni-Veteranen und den fast 100 Jahre alten Schlepper in die Schleuse. Der Käpt’n verschafft sich den nötigen Platz mit seiner abfalleimergroßen Tröte.

An der Museumsinsel münden Regenwasserkanäle vor Weltkulturerbe. Am Weidendamm schleicht sich durch ein Loch in der Ufermauer die Panke dazu. Die Spree muss einiges mitmachen, zumal sie hier ständig gerührt wird: Dampfer im Kolonnenverkehr. Private Skipper dürfen tags gar nicht hier entlang.

Jutta Boergers ist froh, dass ihre „Tigra“ ohne Schrammen durch die City gekommen ist. Das Boot ist eines von rund 300 Exemplaren der sogenannten Sonderklasse, die der schiffsbegeisterte Kaiser speziell für Regatten entwickeln ließ. In ihrem ersten Lebensjahrhundert gehörte die „Tigra“ etwa einer Handvoll verschiedener Leute. Sie hieß erst „Benjamin“ und später „Windspiel“. Benjamin, das war der Spitzname ihres Erbauers Max Oertz, ein Mitglied des Akademischen Segler-Vereins (ASV). Der 1886 von zehn Studenten gegründete Klub ist das Ziel dieser Reise – das geografische zumindest. Doch eigentlich ist die Regatta eine Mischung aus Gaudi, Schönheitswettbewerb und Oldtimertreffen. Der Sieger der Herzen stand in diesem Jahr auch schon vorher fest: Die „Jugend“, eine 1911 in Köpenick gebaute Sonderklasse, die als nagelneues Schiff den „Kranichpokal“ gewann und nun – nach 90 Jahren österreichischen Exils, zumeist am Wolfgangsee – ein zweites Mal gewann. Denn tatsächlich segelte sie am Samstagnachmittag als Erste durchs Ziel.

Als der Schlepper am Freitagabend nach vier Stunden Fahrt am Steg des ASV festmacht, liegt die gerade vom Bootswagen gehievte „Jugend“ schon da und sieht mit ihrer schmalen, langen Form so jung und dynamisch aus, dass niemand an ihrem Sieg zweifeln mag. Wenn da nicht diese internationale Tabelle wäre, die Bootstypen und lokale Besonderheiten kompliziert verrechnet. So ist der Erste im Ziel am Ende nicht immer der Regatta-Sieger. Aber dass bei der Havel Klassik anderes zählt, zeigt die Bemerkung eines Stegnachbarn mit besonders sorgsam poliertem Holzboot: Ein altes Boot zu betreiben, sei gar kein soo großer Zeitfresser, sagt der Mann. Aber reichlich 1300 Arbeitsstunden habe er schon investiert.

Damit sich auch andere an solchem Aufwand erfreuen können, wollen einige der 81 Regatta-Teilnehmer am Sonntagvormittag ab 10 Uhr noch als Bootskorso eine Runde über die Havel zwischen Pichelsdorf und Wannsee drehen. Man wird sie vom Ufer aus sehen können, wie sie auf der Sonnenseite Berlins entlangsegeln. Und wer am Sonntagmorgen aus Neugier direkt aufs Vereinsgelände des ASV kommt, wird laut Veranstalter auch nicht verscheucht. Stefan Jacobs

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