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Sängerin Joana Zimmer ist von Geburt an blind. Über ihr Leben hat sie jetzt ein Buch geschrieben.

© Promo/Christian Lietzmann

Joana Zimmer im Porträt: Stufe für Stufe

Joana Zimmer hat sich ihren größten Wunsch erfüllt: Sie kann vom Musikmachen leben. Widerstände haben die blinde Sängerin stets noch mehr angespornt. Jetzt trat sie bei der Verleihung des Inklusionspreises auf.

Eine Hürde ist in erster Linie ein Hindernis. Sie kann den Läufer ausbremsen, vielleicht auch einen Sturz verursachen. Bei Joana Zimmer war das anders: Wenn ihr etwas im Weg stand, hat sie zwar kurz angehalten. Aber dann eben noch mehr Anlauf genommen – und ist drübergesprungen.

Das war schon vor 15 Jahren so, als eine Berufsberaterin zu ihr kam, in die Brandenburgische Schule für Blinde und Sehbehinderte in Königs Wusterhausen. Sie erzählte den damals 16-Jährigen, dass ein großer Teil der Menschen mit Behinderung nicht arbeiten geht. Für Joana und ihre Klassenkameraden keine besonders ermutigenden Aussichten. Und vor allem keine Botschaft, die einen dazu bringt, etwas auf die Beine zu stellen – während Gleichaltrige sich immer intensiver ausmalen, wie ihr unabhängiges Erwachsenenleben wohl aussehen wird. „Mich hat das damals aber noch mehr angestachelt“, sagt die 31-Jährige.

Zwischen dem Besuch der Berufsberaterin und diesem Dezembernachmittag in einer Charlottenburger Pizzeria liegen zehn Singles, fünf Alben und zwei Goldene Schallplatten. Ihre kräftige Stimme wird oft mit der von Céline Dion verglichen. Sie steckt in einem schmalen Körper, der zart ist, aber auch zäh. Wenn man sich bei ihr unterhakt, spürt man die Muskeln. Als Sängerin arbeitet Joana viel mit ihrem Körper, aber sie treibt auch intensiv Sport, ist ausgebildete Yogalehrerin. Sie hält sich kerzengerade, beim Laufen sieht es ein bisschen so aus, als würde sie schweben. Ihr Gehör scheint sich auf den neuen Ort und das Stimmengewirr einzustellen. Mit der Hand fährt sie kurz über den Rand ihrer dunklen Brille. Dann gleitet ein Finger über den Holztisch wie über die Oberfläche eines riesigen Smartphones – um das Glas zu finden, das die Kellnerin ihr gerade hingestellt hat.

Mit Barbra Streisand fing alles an

Auf ihrem T-Shirt strahlt Barbra Streisand. Mit ihr hat alles angefangen, genauer gesagt mit dem Film „Yentl“, in dem Streisand die Hauptrolle spielte – und sang. Die Handlung begleitet eine junge Frau, die sich im Jahr 1904 als Mann verkleiden muss, damit sie studieren kann. Streisand sei die einzige Sängerin, die sie bislang zum Weinen gebracht habe. „Ich mag ihre Geradlinigkeit und ihre Konzentration auf die Kunst“, sagt Joana Zimmer. Nach „Yentl“ ist ihr klar, dass auch sie sich beruflich hundertprozentig auf die Musik konzentrieren will. Um ihre Gesangskarriere zu starten, muss sie sich zwar nicht als Mann ausgeben – aber über viele Jahre hartnäckig bleiben.

Schon lange vor dem Abitur singt sie in Hotelbars und Jazzclubs und steckt viel Geld in die Produktion von Demobändern. „Die habe ich an Plattenfirmen geschickt, die sich nie bei mir gemeldet haben.“ Trotzdem macht sie weiter, ihre Familie unterstützt sie. Bevor Nachwuchssänger ihre Videos auf Youtube hochladen konnten, war ein Gespräch bei einer Plattenfirma die Eintrittskarte ins Musikgeschäft. Schließlich schafft sie es, einen Termin zu bekommen – und wenig später tatsächlich einen Plattenvertrag. „Das war für mich wie ein Lottogewinn“.

Aber leider einer, bei dem man zunächst nicht viel vom Jackpot hat. Zwar beginnt sie 2002 mit den Aufnahmen. Doch bevor der Tonträger auf den Markt kommen kann, schließt die Plattenfirma die Abteilung, die sich um das Album gekümmert hat. „Damals war ich wirklich fertig“, erinnert sich Joana Zimmer. Es ist das erste Mal an diesem Nachmittag, dass ihrer Stimme kurz die Fröhlichkeit abhanden kommt. 2003 macht sie sich selbstständig, und sie hat Glück: Eine andere Plattenfirma kauft sie aus dem Vertrag heraus, 2005 schließlich erscheint das Album „My Innermost“, drei Monate später bekommt sie die erste Goldene Schallplatte. „Aber wenn mir die Leute damals gesagt haben, es sei cool, wie schnell das gegangen ist, dann habe ich ganz langsam den Kopf geschüttelt.“

Ihr Buch „Blind Date“ gibt es demnächst auch zum Hören

Die Geschichte ist eine von vielen, die sie auch in ihrem Buch „Blind Date – Die Welt mit meinen Augen sehen“ erzählt. Es geht darin aber nicht nur um die Karriere, sondern um Joana Zimmers ganzes Leben, und eben darum, Hindernisse in Herausforderungen zu verwandeln. Sie schreibt über Elan, Kreativität, Sport oder „Die Welt als Klang“. Aber auch über den ganz normalen Alltag einer blinden jungen Frau, die von den technischen Entwicklungen der vergangenen Jahre stark profitiert hat, und wie ihre sehenden Mitmenschen ohne Probleme im Internet surfen und E-Mails lesen kann.

Auch Louis Braille, der Erfinder der Punktschrift, wird gewürdigt – weil er den Bildungsprozess von Blinden und Sehbehinderten auf ein ganz neues Niveau gebracht hat: Sein Verfahren macht es möglich, Texte – mit der Hand und dem Kopf – schnell zu erfassen, weil jeder Buchstabe durch kleine, aus dem Papier spitz herausragenden Pünktchen ersetzt wird, die unter eine Fingerkuppe passen. Während Brailles Punkte längst als Standardschrift für Menschen mit Sehbehinderung etabliert sind, hatte er zu Lebzeiten viele Neider – und Gegner: Die Kritiker misstrauten seiner Erfindung, sie glaubten, die Schrift vertiefe die Kluft zwischen Blinden und Sehenden. Heute sei das zum Glück ganz anders: „Wir sind eine Gesellschaft, wir müssen zusammenhalten und aufhören, die Menschen in Gruppen zu unterteilen“, findet Joana Zimmer, die auch für die Gewinner des Inklusionspreises gesungen hat. Ob man ein Handicap habe oder nicht, sollte keine Rolle mehr spielen. „Schließlich sind viele Menschen irgendwann einmal auf Hilfe angewiesen, spätestens wenn sie alt sind.“

Rufus Beck und Judy Winter sprechen – und Zimmers Großmutter

Sie selbst ist schon blind auf die Welt gekommen und kann lediglich Helligkeit von Dunkelheit unterscheiden. „Ich muss mich stärker konzentrieren als sehende Menschen, um etwas erreichen zu können, das ist einfach so“, sagt sie sehr nüchtern. Dass sie dennoch ein ziemlich unabhängiges Leben führen kann, verdankt sie auch ihrem Organisationstalent. „Wenn ich weiß, wo ich etwas abgelegt habe, dann finde ich es auch alleine wieder und muss niemanden um Hilfe bitten“, sagt sie, und greift nach ihrem Glas.

Im Moment arbeitet Joana Zimmer an der Hörbuchfassung von „Blind Date“, die sie selbst aufnimmt und schneidet. Rufus Beck ist darauf zu hören, Judy Winter und viele andere Stimmen, die sie gerne mag. Auch die ihrer Großmutter. Wenn es bis Mitte 20 nicht geklappt hätte mit der Musik, dann würde sie heute vielleicht Literatur unterrichten. Texte und Sprache überhaupt faszinieren sie. „Als Teenager habe ich oft stundenlang Bücher eingescannt, um sie dann am Computer lesen zu können.“ 800 Seiten Text bedeuteten damals acht Stunden vor dem Scanner. Heute gibt es ja zum Glück andere technische Möglichkeiten.

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