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Es gibt verschiedene Formen der Gewalt gegen Frauen. Die mächtigste und zugleich unsichtbarste Form ist die wirtschaftliche Gewalt.

© Montage: Tagesspiegel/Schneider | Getty Images, freepik

Wie Frauen unterdrückt werden: Freie Wahl zwischen Armut und Misshandlung

Es gibt verschiedene Formen der Gewalt gegen Frauen. Die mächtigste und zugleich unsichtbarste Form ist die wirtschaftliche Gewalt. Wir müssen endlich die Systemfrage stellen!

Ein Essay von Asha Hedayati

Warum trennt sie sich denn nicht? Warum hat sie sich überhaupt auf ihn eingelassen? Warum ist sie nicht früher gegangen?

Ich kann diese Fragen nicht mehr hören. Ich höre sie regelmäßig in den unterschiedlichsten Varianten von Polizei, Justiz, Verwaltung und Gesellschaft. Es fällt mir schwer, ruhig zu bleiben und nicht zurückzuschreien: Weil die Strukturen, in denen wir leben, die Trennung erschweren und die Gewalt begünstigen. Weil Gewalt gegen Frauen System hat. Weil unser Rechtsstaat dabei versagt, Frauen zu schützen. Weil so viele Frauen sterben und trotzdem nichts passiert.

Es gibt verschiedene Formen der Gewalt gegen Frauen: körperliche, sexualisierte, psychische Gewalt. Und dann ist da noch die wirkmächtigste und zugleich unsichtbarste Form: die wirtschaftliche Gewalt.

Sie durchdringt unsere Gesellschaft und unser Wirtschaftssystem, die beide auf der ökonomischen Unterwerfung der Frau aufbauen und nur durch sie überleben können. Es geht um Frauen, die unbezahlte Care-Arbeit übernehmen, in schlecht bezahlten Care-Berufen arbeiten oder als prekär bezahlte Teilzeitkraft im Niedriglohnsektor angestellt sind. Diese Frauen haben keine Ressourcen und oft keine Kraft, sich aus gewaltvollen Beziehungen zu befreien.

Beinahe täglich versucht in Deutschland ein Partner oder Ex-Partner, eine Frau zu töten

So zum Beispiel bei der Frau, die ich hier Maria nenne. Sie steht exemplarisch für viele Mandant*innen, die in den letzten zehn Jahren in mein Büro gekommen sind. Sie ist 35 Jahre alt und lebt am Stadtrand in einer ruhigen Gegend. Maria könnte auch ich sein oder eine Nachbarin, Freundin oder Arbeitskollegin.

Denn jede vierte Frau erlebt in Deutschland statistisch gesehen mindestens einmal im Leben Partnerschaftsgewalt. Mehr als 170.000 Frauen wurden laut Lagebild des BKA im Jahr 2022 Opfer von häuslicher Gewalt. Beinahe täglich versucht in Deutschland ein Partner oder Ex-Partner, eine Frau zu töten. Alle drei Tage überlebt eine Frau die Gewalt durch ihren (Ex-)Partner nicht. Die Betroffenen kommen aus allen sozialen Schichten und Milieus, sie sind behindert, trans, Schwarz, weiß, reich, arm.

Maria lernt ihren Freund kurz nach ihrer Ausbildung zur Altenpflegerin kennen. Sie ist Mitte zwanzig und sehr verliebt. Sie denkt nicht weiter an die Zukunft, genießt das Daten, die frisch verliebte Phase. Es wird schnell sehr ernst mit ihr und ihrem neuen Freund, nach einem halben Jahr spricht er schon davon, zusammenzuziehen. Er hat eine große Wohnung, die für beide reiche, so könnten sie Miete sparen. Eigentlich eine kluge Idee, denkt sich Maria. Sie möchte schon länger aus ihrem WG-Zimmer ausziehen, findet nur keine Wohnung, die sie sich allein leisten könnte. Sie zieht also zu ihrem neuen Freund.

Viele Frauen sind aus ökonomischen Gründen in gewaltvollen Beziehungen gefangen.

© Getty Images/iStockphoto/Anton Vierietin

Mit dem Zusammenleben kommen die Probleme. Er möchte nicht, dass sie sich mit ihren Freundinnen trifft, möchte nicht, dass sie ihn allein lässt, irgendwann will er auch keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie – und vor allem will er irgendwann, dass auch sie den Kontakt zu ihrer Familie abbricht, aus Solidarität mit ihm. Er kontrolliert sie, manchmal ist er liebevoll und zärtlich, dann plötzlich unterkühlt und beleidigend.

Maria ist verzweifelt, sie versteht nicht, was passiert. Sie wünscht sich die schöne Zeit zurück, versucht alles, um es ihm recht zu machen, in der Hoffnung, dass es wieder wird wie am Anfang. Der Prozess der zunehmenden Isolation und Kontrolle ist schleichend. Es gibt Momente, da denkt sie sich, dass sie es nicht mehr aushält und sich trennen möchte. Aber wohin soll sie gehen? Sie hat kaum noch Kontakte, findet keinen bezahlbaren Wohnraum mehr, obwohl sie in Vollzeit als Altenpflegerin arbeitet.

Das erste Mal schlägt er zu, da ist sie im fünften Monat schwanger

Maria wird schwanger. Das Kind ist nicht geplant, ihr Partner droht, sich zu trennen, wenn sie „sein Kind“ abtreibt. Die Partnerschaft ist fast nur noch geprägt von Drohungen und Herabwürdigungen. Sie traut sich nicht, die Schwangerschaft abzubrechen, gleichzeitig wird das gewaltvolle Verhalten ihres Partners immer unerträglicher.

Das erste Mal schlägt er zu, da ist sie im fünften Monat schwanger. Das Kind kommt gesund auf die Welt, aber Marias Leben ist von nun an geprägt von Kontrolle und Gewalt. Für den Partner ist klar, dass sie die Care-Arbeit allein übernimmt, sie macht die Elternzeit allein und arbeitet danach in Teilzeit. Sie bittet den Partner um Hilfe bei der Betreuung des Kindes, er reagiert mit einem Faustschlag.

Der Mythos der „lügenden Frau“

Maria kann nicht mehr, sie will raus aus der Beziehung. Je mehr sie ihre Autonomie zurückerlangen möchte, desto massiver wird die Gewalt. Sie hat Angst, weil sie kein Geld für eine eigene Wohnung hat. Sie weiß einfach nicht, wie sie es allein mit Kind schaffen soll.

Sie weiß, dass sie als Alleinerziehende in Deutschland massiv von Armut bedroht ist, genauso wie ihr Kind. Sie weiß, dass ihr anstrengende und kostenintensive familiengerichtliche Verfahren bevorstehen, weil ihr Partner schon damit droht, ihr das Kind über Sorgerechts- und Umgangsrechtsverfahren „wegzunehmen“ – um auf diesem Weg seine verlorene Kontrolle über sie wieder zurückzuerlangen. Sie ahnt, dass ihr von Justiz und Polizei nicht geglaubt werden wird, weil sie keine Beweise hat und weil Betroffene immer noch viel zu häufig dem misogynen, aber sehr wirkmächtigen Mythos der „lügenden Frau“ ausgesetzt sind und diesen widerlegen müssen. Sie weiß, dass ihr ein anstrengender Überlebenskampf bevorsteht.

Ohne die unbezahlte Fürsorgearbeit oder schlecht bezahlte Care-Arbeit und die prekären Arbeitsverhältnisse vieler Frauen würde dieses jetzige System zusammenbrechen.

Asha Hedayati, Anwältin und Autorin

Als ihr Partner an einem Abend so lange auf sie einschlägt, bis ihr knapp zweijähriges Kind weinend auf sie zurennt und sie in den Arm nimmt, um sie zu schützen, packt sie heimlich ihre Sachen und zieht mit dem Kind in ein Frauenhaus.

Es gibt weniges, was so radikal, mutig und kraftvoll ist wie eine Frau, die in einer gewaltvollen Beziehung Nein sagt, aufsteht und geht. Und es macht gleichzeitig so wütend, dass sie überhaupt in diese Situation gedrängt wird, so viel Kraft und Energie für eine selbstbestimmte, freie Entscheidung aufwenden zu müssen.

Asha Hedayatis neues Buch heißt „Die stille Gewalt“ (Rowohlt, 192 Seiten, 18 Euro).

© rowohlt Polaris

Marias Geschichte zeigt beispielhaft, dass Gewalt gegen Frauen Ausdruck von Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen ist, die strukturell in unserer Gesellschaft begründet sind. Ohne die unbezahlte Fürsorgearbeit oder schlecht bezahlte Care-Arbeit und die prekären Arbeitsverhältnisse vieler Frauen würde dieses jetzige System zusammenbrechen – und gleichzeitig macht dieser Zustand die Frauen wirtschaftlich abhängig von ihren Partnern und erschwert die Trennung aus der Gewaltbeziehung enorm.

Fast die Hälfte der Alleinerziehenden ist arm

Anders gesagt: Die (Wirtschafts-)Strukturen stabilisieren Gewalt gegen Frauen, und gleichzeitig stabilisiert Gewalt gegen Frauen die Strukturen. Wenn wir uns die Situation von Alleinerziehenden in Deutschland anschauen, dann sehen wir sehr deutlich, wie risikoreich eine Trennung sein kann: Alleinerziehende sind nach Arbeitssuchenden die am häufigsten von Armut betroffene Gruppe, 43 Prozent der Alleinerziehenden gelten als einkommensarm.

In einigen Fällen liegt es daran, dass sie zu wenig Zeit und Möglichkeiten haben, mehr als nur in Teilzeit zu arbeiten, weil es beispielsweise zu wenig Kita- oder Hortbetreuung gibt. Oft aber sind die Jobs im Niedriglohnsektor so prekär bezahlt, dass selbst eine Vollzeitstelle nicht für das Leben mit Kindern ausreichen würde. Eine meiner Mandantinnen, die während Corona in Vollzeit als Kassiererin arbeitete, also einen systemrelevanten Beruf ausübte, verschob ihren Trennungsgedanken. Sie verdiente 1400 Euro netto, das komplette Gehalt reichte nicht einmal für eine Wohnung für sich und ihre Kinder.

Dennoch gehen alleinerziehende Mütter sogar häufiger einer Beschäftigung nach als Mütter in Paarfamilien und arbeiten öfter in Vollzeit. Auch 40 Prozent der Alleinerziehenden, die Sozialleistungen erhalten, üben eine Erwerbstätigkeit aus, mehr als der Durchschnitt der Leistungsempfänger*innen.

Die Gesellschaft muss den Blick auf die Machtverhältnisse richten.

© Getty Images/iStockphoto/Anton Vierietin

Seit Jahren nimmt die Zahl der Menschen, die in Deutschland in Altersarmut leben, weiter zu. Auch hier sind Frauen, die besonders gefährdete Gruppe. Laut aktuellen Daten ist jede dritte Frau, die in Vollzeit arbeitet, davon bedroht. Auch in diesen Fällen zwingen die strukturellen Begebenheiten viele Frauen in wirtschaftliche Abhängigkeit von ihren Partnern, die eine Trennung enorm erschwert – und den Frauen am Ende nur die Wahl lässt, sich entweder für die Gewaltbeziehung oder für die Armut zu entscheiden.

In der Praxis hat eine Frau nach einer Trennung vor allem die Freiheit, hart zu arbeiten, einen Burnout zu riskieren und zu verarmen.

Asha Hedayati, Anwältin und Autorin

In diesem Land wird immer gern hochgehalten, dass Frauen mittlerweile die gleichen Rechte haben wie Männer: das Recht, zu arbeiten, das Recht, eine Familie zu gründen oder auch nicht, das Recht, sich zu trennen oder auch nicht. Eine Alleinerziehende hat in Deutschland nach einer Trennung sicher die gleichen Rechte wie ein Mann, sie ist „gleichberechtigt“, Vollzeit zu arbeiten und nebenbei Kinder zu betreuen. Sie ist frei und kann ihr Leben selbst bestimmen und die Möglichkeiten stehen ihr offen. In der Theorie. In der Praxis hat eine Frau nach einer Trennung vor allem die Freiheit, hart zu arbeiten, einen Burnout zu riskieren und zu verarmen.

Wie viel versteht Finanzminister Lindner von den Zahlen?

Noch immer wird in Deutschland über die Einführung der Kindergrundsicherung diskutiert, die helfen soll, Kinderarmut zu beenden. Und das in einem Land mit der viertgrößten Wirtschaftsleistung weltweit. Finanzminister Christian Lindner behauptete in einer Pressekonferenz zum Thema, Alleinerziehende arbeiteten immer weniger, deswegen seien ihre Kinder arm.

Nun lässt sich das sehr leicht mit Zahlen und Daten widerlegen. Laut Statistischem Bundesamt waren 2011 noch 64,9 Prozent der Alleinerziehenden erwerbstätig, 2012 waren es 64,6 Prozent. Dann stieg die Zahl bis 2019 auf 70 Prozent. Erst zum Pandemiejahr 2020 sank die Zahl wieder etwas – auf 67,9 Prozent und für 2021 auf 66,4 Prozent. Wie sollen Alleinerziehende während einer Pandemie bei geschlossenen Betreuungseinrichtungen und Homeschooling arbeiten? Insbesondere im Niedriglohnsektor und in den prekär bezahlten Berufen ist Homeoffice meist keine Option. Die Erwerbstätigenquote stabilisierte sich mit Lockerung der Corona-Beschränkungen 2022 wieder bei 66,5 Prozent.

Christian Lindner scheint als Finanzminister wenig von diesen Zahlen zu verstehen. Jedenfalls ist das im besten Fall der Grund für seine Aussagen. Im schlimmsten Fall kennt er die Zahlen sehr genau, nur ist ihm die prekäre Situation von Alleinerziehenden einfach egal und er behauptet in aller Öffentlichkeit wissentlich falsche Tatsachen.

Wenn politische Entscheidungsträger*innen in Kauf nehmen, dass Frauen sich nicht aus Gewaltbeziehungen trennen können, weil sie wirtschaftlich abhängig sind, keinen bezahlbaren Wohnraum mehr finden, weil sie schlechter bezahlt werden, weil sie in prekären Arbeitsverhältnissen ausgebeutet werden, weil sie massiv von Altersarmut bedroht sind, weil 43 Prozent der Alleinerziehenden als einkommensarm gelten; und wenn ein Staat es zulässt, dass sich Frauen bei einer Trennung oft nur zwischen Gewaltbeziehung oder Armut entscheiden können; wenn ein Staat es zulässt, dass Kinder vernachlässigt werden, nicht teilhaben können, leiden, teilweise sogar hungern, wenn mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland arm oder von Armut bedroht ist, obwohl der Staat alle Möglichkeiten hätte, diese Zustände zu ändern – mit Geld! –, dann ist das eine still wirkende Gewalt.

Zurück zu Maria: Als ich sie ein paar Jahre später zu ihrem endgültigen Scheidungstermin begleite, lebt sie bereits einen längeren Zeitraum allein mit ihrem Kind. Ich frage sie, wie es ihr seit der räumlichen Trennung in ihrer eigenen Wohnung geht. Sie schaut mich an und sagt, sie habe noch nie diese Form der Freiheit gespürt und sie werde sie auch nie wieder aufgeben. Ihr leises, stolzes Lächeln dabei werde ich nicht mehr vergessen.

Maria konnte sich rechtzeitig trennen, dank ihrer beeindruckenden individuellen Kraft trotz massiver struktureller Widerstände. Sie fand nach der Flucht ins Frauenhaus mit Hilfe von engagierten Sozialarbeiter*innen eine bezahlbare Wohnung und zog mit ihrem Kind in eine andere Stadt. Sie konnte ein neues Leben beginnen.

Aber am Ende geht es nicht darum, einzelne Betroffene für ihre individuelle Widerstandskraft zu feiern. Es geht darum, eine Gesellschaft und Strukturen zu schaffen, die weniger traumatisch sind.

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