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Karoline Georges.

© Secession Verlag

„Synthese“ von Karoline Georges: Das Model, das in den Cyberspace verschwindet

Virtuelle Schöpfung, physischer Zerfall: Karoline Georges ergründet in ihrem neuen Roman „Synthese“ die Gefahren der digitalen Scheinwelt.

Während sich die 16-jährige Ich-Erzählerin in Karoline Georges’ Roman „Synthese“ im Flugzeug von Kanada nach Frankreich befindet, um in Paris ihre Modelkarriere zu starten, explodiert in Tschernobyl ein Kernreaktor. Auf den ersten Blick stehen diese Ereignisse unverbunden nebeneinander. Als die junge Protagonistin nach ihrer Ankunft erfährt, dass eine radioaktive Wolke über Europa zieht, nimmt sie die Katastrophenmeldung ebenso gleichgültig hin wie alles andere auch. Selbst die Modewelt interessiert sie nicht; eigentlich will sie nur dem kleinbürgerlichen Mief ihrer Kindheit entfliehen. Auf subtile Art fließt das apokalyptische Grundrauschen der achtziger Jahre aber doch zusammen mit dem Bestreben der Erzählerin, „ein humanoider Kleiderbügel“ zu werden, „der Kreationen in titanischen Dimensionen trug“.

Die Synthese scheinbar disparater Elemente ist das strukturierende Prinzip des jüngsten Romans der 1970 in Montréal geborenen Autorin. Das Ergebnis: eine so faszinierende wie beklemmende Atmosphäre auswegloser Passivität. Die Unbeweglichkeit als kulturelles Phänomen interessierte Georges bereits in ihrem Vorgängerwerk „Totalbeton“: Dort vegetierten die Figuren in einem riesigen Gebäudekomplex dahin, ruhiggestellt mit Medikamenten, ohne Willen oder Wunsch nach sinnlichem Erleben.

[Karoline Georges: Synthese. Aus dem Französischen von Frank Heibert. Secession Verlag, Berlin 2020. 176 Seiten, 20 €.]

In „Synthese“ nimmt Georges das Vor-dem-Bildschirm-Gebanntsein einer ganzen Generation als Ausgangspunkt für weitere Reflektionen zum selben Themenkomplex. In Rückblenden geht es um die triste Kindheit der namenlosen Ich-Erzählerin an der Seite einer depressiven, kettenrauchenden Mutter und eines meist alkoholisierten, jähzornigen Vaters. Sie flüchtet sich in die fiktiven Welten der Bücher und Fernsehbilder; japanische Zeichentrickfilme oder auch die US-Serie „Bezaubernde Jeannie“ sind Referenzpunkte. Nachdem sie einen Model-Wettbewerb an ihrer Schule gewinnt, ist es – hier zeigt sich Georges’ Sinn für böse Ironie – eben jener „hypnotisierte Modus“, den sie jahrelang vor dem Bildschirm eingeübt hat, der ihr Erfolg beschert: Ihre Ausdruckslosigkeit und Unbeteiligtheit machen sie zur idealen Projektionsfläche.

In der Erzählgegenwart ist die Protagonistin längst erwachsen und hat sich in einem futuristischen Wohnturm in Montréal zur Ruhe gesetzt, wo sie ein abgeschottetes, asketisches Leben führt. Wir befinden uns in einer nahen Zukunft, vielleicht in einer leicht übersteuerten Gegenwart: Von Hausandroiden, selbst fahrenden Autos und Pflegerobotern ist die Rede. Die Welt der sozialen Medien hingegen funktioniert wie heute. Ihre virtuelle Zweitexistenz beschert der Protagonistin eine Flut von Likes und Kommentaren, die ihr trotz ihrer physischen Isolation ein Gefühl der Verbundenheit vermittelt. Was zu einer weiteren zentralen Fragestellung des Buches führt: Erlaubt ihr das Hineinwachsen in die Ära des Digitalen einen Ausweg aus der Passivität? Oder ist die permanente Interaktion mit Unbekannten eine weitere Form des Eskapismus?

Virtuelle Schöpfung, physischer Zerfall

Wieder laufen zwei gegensätzliche Prozesse parallel ab: Während die Erzählerin an ihrem virtuellen Avatar bastelt und ihm Leben einzuhauchen versucht, liegt in einem nahen Krankenhaus ihre krebskranke Mutter im Sterben. Komposition und Dekomposition, das Neben- und Ineinander von virtueller Schöpfung und physischem Zerfall bilden den roten Faden in diesem schmalen Roman. Zunächst weigert sich die Erzählerin, ihre Mutter am Krankenbett zu besuchen. Irgendwann aber begibt sie sich dann doch in die Offline-Welt – ähnlich wie das namenlose Kind in „Totalbeton“ schließlich trotz aller Warnungen nach draußen strebt. In beiden Fällen ist es kein Aufbruch ins Utopische, sondern eine brutale Konfrontation mit der eigenen Vergänglichkeit.

All das erzählt Georges in einer präzisen, beinahe aseptischen Sprache. Einerseits wird dieser Duktus dem Wunsch der Hauptfigur gerecht, ihrer körperlichen Existenz zu entkommen, zu einem perfekten Bild zu werden – andererseits erschwert das Fehlen zwischenmenschlicher Interaktionen und Emotionen an vielen Stellen den Zugang zum Text. „Synthese“ steckt voller kluger Überlegungen, etwa zur Repräsentation von Weiblichkeit oder zur inhärenten Verquickung von Bild und Tod. So wendet sich die jugendliche Erzählerin von ihrem Idol Olivia Newton-John ab, als diese schwanger wird, und schwärmt fortan für Marilyn Monroe: „Um Verehrung zu verdienen, sollten Idole alle tot sein“. Dies alles ist aufschlussreich und geschickt ineinander- montiert – doch liest sich der Roman streckenweise eher wie ein Essay.

Unmittelbar und sinnlich wird es vor allem da, wo man es am wenigsten erwartet: in der Beschreibung des Dahinsiechens der Mutter, das die Erzählerin doch um jeden Preis hatte vermeiden wollen. So ist die Mutter-Tochter-Dynamik die einzige im Roman, die Bewegung zulässt und katalysiert und durch die das Erzähl-Ich letztendlich auch sich selbst näherkommt. „Mein Körper ähnelt einem Nachbarn, von dem ich weiß, dass er da ist, den ich manchmal vage höre, aber dem ich noch nie so richtig begegnet bin“. Dieses Ausblenden eigener Verletzlichkeit ist im Krankenhaus nicht länger möglich.

In einer der eindrücklichsten Szenen läuft im Hintergrund, ganz analog, ein Oldie-Radiosender. „Life in a Northern Town“ von The Dream Academy katapultiert uns zurück in die Ära des Vordigitalen – und lässt der Protagonistin das Leben der Mutter noch einmal wie ein Film vor dem geistigen Auge vorbeiziehen. Solche zarten Passagen bewahren den Roman davor, selbst zu einer „Imago“, einer Totenmaske, zu erstarren.

Anja Kümmel

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