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Kultur: Narziss und Falschgold

Warum macht die Popkultur krank? Die Stars, die Fans und das Borderline-Syndrom

Sie kommt aus einem gutbürgerlichen Elternhaus, färbt sich die Haare orange und schließt sich den tough girls einer Gang namens „Frozies“ an, der Vorläufergang der „Hells Angels“. Sie pendelt zwischen Bohème und bürgerlicher Welt: ein Irrlauf, der sie durch Business College, Bank of America, Red Mountain Bourbon und Speed-Trips in Haight Ashbury jagt. Schließlich ist sie auf 44 Kilo abgemagert. Es folgen Entziehungskuren, die Flucht ins Elternhaus, Canasta-Abende mit hoch gesteckter Frisur, Nervenzusammenbrüche und Sex mit Minderjährigen. Sie gilt als Idol einer Generation, ihr Look aus Chiffon und Grüntönen strahlt von den Hochglanzseiten der „Vogue“. Auf dem Gipfel ihres Erfolgs stirbt Janis Joplin am 3. Dezember 1970 an einer Überdosis Heroin.

Ein Jahrzehnt nach ihrem Tod begannen amerikanische Psychiater eine neue Krankheit mehr zu konstruieren als zu entdecken: das Borderline-Syndrom, Sammelbegriff für so unterschiedliche Symptome wie Promiskuität, finanzieller Exzess, übermäßiger Drogenkonsum, Kleptomanie, rücksichtsloses Autofahren, Fressanfälle, Stimmungsschwankungen, Wutausbrüche, Selbstmordversuche und Selbstverletzungen sowie Identitätsstörungen. Janis Joplin könnte der erste Prototyp dieses Krankheitsbildes gewesen sein.

Bis heute gilt es als schwer bis gar nicht therapierbar. Denn seine Eigenschaften sind positiv besetzt. Borderliner scheinen in ihrem unstillbaren Verlangen nach dem „wahren Leben“ und ihrem mitunter fetischisierenden Interesse an der Umwelt Exzesse zu wiederholen, für die Celebrities wie Paris Hilton verehrt werden. Die Exzentrik des Pop-Lebens blockiert bei Betroffenen oft, sich als Kranke wahrzunehmen. Sie profitieren sogar davon, dass die Krankheit sie mit narzisstischen Gewinnen bedenkt. So wie die Magersucht sich an Schönheitsidealen orientiert, die in der Popkultur mit ihren Supermodels als begehrenswert gelten und in Selbstzerstörung enden, macht Borderline aus liebesbedürftigen Teenies narzisstische Vamps.

Allein in Deutschland sollen bis zu einer Million Menschen vom Borderline-Syndrom betroffen sein. In psychiatrischen Einrichtungen werden spezielle Abteilungen eingerichtet. Winona Ryder und Angelina Jolie spielten sich im Film „Durchgeknallt“ (1999) durch die Symptompalette und adelten das Phänomen als eine Form der jugendlichen Rebellion. Andreas Heinz, Chefarzt der Psychiatrie der Berliner Charité, glaubt, dass sich jeder Kranke „Symptome sucht, die kulturell anerkannt sind“. So spiegelt sich in der Persönlichkeitsstörung auch der gesellschaftliche Wertewandel: „Die Borderline-Patienten folgen instabilen Beziehungsmustern, sie müssen kurzfristig auf was Neues gehen. Diese Impulsivität war früher negativ stigmatisiert. Dagegen fordert unsere heutige Kultur, impulsiv zu sein und zu tun, was einem Spaß macht.“

Obwohl Borderline nach Ansicht des Psychoanalytikers Otto F. Kernberg eine narzisstische Persönlichkeitsstörung ist, die auf Vernachlässigung oder Missbrauch durch die Eltern zurückgeht, werden Betroffene nicht als Außenseiter wahrgenommen. Während Neurotiker unter ihren Abwehrhandlungen leiden und sich bald als Fremdkörper fühlen, inszenieren Borderliner ein Größen-Ich, das sie beglückt – und andere auch. So kristallisiert sich in dieser Form des pathologischen Narzissmus, Philosoph Slavoj Zizek zufolge, ein zentraler psychischer Defekt unserer Zeit. Hinter dem Typus des krankhaften Narzissten verberge sich „ein Konformist, der sich als Outlaw begreift“. Und erstrahlt sie nicht in der Tat allabendlich auf der Mattscheibe, die selbstberauschte Allmacht der Medienelite, vom brachialen Wirtschaftsführer, höheren Kulturträger bis zur Politprominenz? Sie jongliert mit Selbstbildern, die vom Augenblickserlebnis und der drohenden Entwertung immer wieder neu befeuert werden. Im Grenzland zwischen Psychose und Neurose zeigt sich eine Pop-Krankheit. „Wir leben in einer Kultur der Selbstachtung“, meint der Kulturwissenschaftler Robert Pfaller. „Wenn man Selbstachtung akkumuliert, dann entsteht ein libidoökonomisches Problem, nämlich, dass sie sich nicht verausgaben lässt. Wir empfinden immer noch mehr Selbstachtung.“

Ein Teufelskreis? Auf einschlägigen Web-Seiten und in Gesprächen präsentieren sich Borderliner als bizarre Figuren einer dunklen Pop-Ökonomie: Sie zeigen sich fasziniert von der „Lolita“ Nabokovs und identifizieren sich mit dem Song „Narben“ der Böhsen Onkelz, in dem es heißt, „Schnitte so tief und wahr/ Geschichten von dem, der ich mal war/ Wunden der Zeit/ Für immer mein Kleid“. Eine sublime Todessehnsucht schwingt auch in der Begeisterung für Annett Louisan mit, in der Borderliner eine Leidensgenossin zu erkennen meinen. Sie kultiviere in Songs wie „Die Dinge“ oder „Daddy“ die ebenso gefährliche wie verwundete Femme fatale.

Die Affinität zur Popmusik zeigt sich auch in der Internet-Diskussion, „ob Robert Maximilian Williams in unseren Kreis aufgenommen wird oder nicht?“ Schließlich singe Robbie Williams in „Feel“ von der Leere in seiner Seele, er kenne Depressionen, Minderwertigkeitsgefühl, Drogenexzesse und Bindungsängste („I don’t want to die, but I ain’t keen on living either/ Before I fall in love/ I am preparing to leave her“). Da der Star gelegentlich mit Engelsflügeln posiert, einem Symbol der Borderliner, adoptiert ihn die Community als Role Model. So gesteht eine Betroffene: „Er wird von den gleichen Leuten, die mich verurteilen würden, angehimmelt wie ein Gott. Das verschafft mir Genugtuung. Weil ich etwas weiß, was offenbar die anderen nicht wissen.“ Doch auch Williams will davon nichts wissen. In seinen beiden autorisierten Biografien gibt er lediglich zu, ein drogenabhängiger Alkoholiker gewesen zu sein, unter Depressionen zu leiden, schizophrene und psychotische Phasen zu durchleben.

Es herrscht eine tiefe Kluft zwischen jenen, denen die Aufmerksamkeit der Mediengesellschaft zufliegt, den Göttern, und den Anderen, die sich eine eigene – ihre eigene – Realität nicht leisten können. Hier zeigt sich auch die bizarre Dimension des Borderlands: Die Opfer bedienen sich des Pop als Catwalk der Images. Die raunen ihnen zu: Macht verrückt, was euch verrückt macht!

Peter Kessen

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