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Improvisationsworkshop in Kiew

© Daniel Freiman

Ukrainisches Kriegstagebuch (103): Improvisieren im Dunkeln mit Daniel

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

Zum ersten Mal habe ich ihn im August 2020 am Potsdamer Platz gesehen, er nahm auch an den Demonstrationen teil, die meine belarussischen Bekannten organisierten. Obwohl meine Belarus-Reisen sich bis jetzt auf die Durchfahrten im Zug Berlin–Kiew in den Neunzigern sowie den 15-minütigen Halt in Minsk beschränkten, spürte ich das Bedürfnis, Teil dieser Proteste zu sein.

In diesen Wochen erinnerten die Nachrichten von den oft brutalen Ereignissen in Minsk stark an die ukrainische Maidan-Revolution, obwohl die Belarussen behaupteten, ihre Proteste, im Unterschied zu denen im Nachbarland, seien friedlich und hätten so bleiben sollen. 

Gesprochen habe ich mit Daniel damals nicht und ich kann mich heute nicht genau erinnern, wer von uns wen auf Facebook geaddet hat. Lange war ich mir sicher, er würde zu der in Berlin lebenden belarussischen Diaspora gehören, und war überrascht, als ich letztes Jahr seine Posts auf Ukrainisch sah. Man konnte erkennen, dass Ukrainisch nicht seine Alltagssprache ist, aber er hat sich trotzdem bewusst dafür entschieden.

Das kam mir bekannt vor – vor ein paar Jahren habe ich mir vorgenommen, allen, die mir auf Ukrainisch schreiben, auch auf Ukrainisch zu antworten, obwohl ich es eigentlich seit meinem Umzug nach Deutschland nicht mehr gesprochen habe. Die Sprache war immer noch da, sie versteckte sich bloß irgendwo in meinem Kopf und fühlte sich zuerst etwas verrostet an. 

Es stellte sich heraus, dass Daniel, wie ich, aus Charkiw kommt. 1989, als er 14 war, verließ seine Familie die Ukraine und emigrierte nach Israel, 20 Jahre später zog er nach Berlin. Im Mai 2022 hat er mich angeschrieben. Er ist Schauspieler, erzählte er und fragte, ob ich ihm Projekte mit ukrainischen Theatermacher*innen empfehlen könnte. „Ich muss etwas in diese Richtung machen, ich kann gerade an nichts anderes denken“, so endete seine Nachricht.

Ich habe Daniel mit jemandem verbunden und dann nichts mehr von ihm gehört, bis er sich Ende Oktober wieder meldete – diesmal mit der Idee, in Charkiw Workshops für Theaterimprovisation zu veranstalten. Das klang zwar verrückt, aber auch schön, bloß kannte ich kaum Theaterleute, die in der Heimatstadt geblieben wären. 

Workshop-Runde in Kiew

© Daniel Freiman

Anfang Januar hörte ich wieder von ihm. Er las von meinem Ausflug nach Charkiw und wollte wissen, ob ich über Przemysl gefahren bin oder ob es eine bessere Verbindung gebe. Seine Workshops finden Ende Januar in Kiew und Charkiw statt, habe ich von Daniel erfahren, und er hat noch Platz im Gepäck – falls ich etwas in die Ukraine schicken möchte, könnte er es gern mitnehmen. Für dieses Angebot war ich ihm tatsächlich dankbar. Denn bei meiner Ukraine-Reise im Dezember habe ich es nicht geschafft, alles, was ich von Freunden und Bekannten bekommen habe, in meinem Koffer unterzukriegen.

Anfang der Woche kam Daniel bei mir vorbei und bekam einen Beutel mit Powerbanks, Taschenlampen und Batterien. Wir plauderten kurz und es stellte sich heraus, dass er zu seiner Charkiw-Zeit in Saltiwka lebte, dem Bezirk, der letztes Jahr heftiger als alle anderen beschossen wurde. Ich zeigte ihm auf meinem Handy Bilder, die ich dort vor einem Monat gemacht habe. 

Heute früh chatteten wir. Inzwischen ist er in Kiew angekommen, seine Workshops sind gut besucht, berichtete er, aber es kam schon vor, dass der Strom abgeschaltet wurde und die Teilnehmer in Dunkelheit improvisieren mussten, das war lustig. Außerdem fehlt warmes Wasser in der Wohnung, wo er übernachtet, eiskalte Dusche im Winter ist ziemlich krass. Am 26. geht es weiter nach Charkiw. Dort ist er seit 1989 nicht gewesen. Ich wünsche ihm viel Glück, und dass zu seinen Workshops auch in der Heimatstadt viele Leute kommen. 

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