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Eine Fahne mit einer Friedenstaube.

© dpa/Frank Hammerschmidt

Ukrainisches Kriegstagebuch (125): Wie sollen Friedensgespräche mit Kopfabschneidern funktionieren?

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

12.4.2023
Frieden. Das Wort habe ich in den letzten Tagen fast so oft gehört wie in meiner sowjetischen Kindheit. Damals war es omnipräsent, auch in den Schullehrbüchern und den Songs, die wir im Gesangsunterricht lernten.

Gerade stelle ich fest, dass eines der populärsten Friedenslieder von damals auch ins Deutsche übersetzt wurde, wahrscheinlich war es auch ein großer Hit in der DDR: „Gegen den Krieg/ Gegen die Not/ Stehen wir auf für die Kinder./ Sonne und Glück/ Frieden und Brot/ Nie soll es anders mehr sein!“

In der Zeit, als wir Kinder es gesungen haben, führte die Sowjetunion den Krieg in Afghanistan. In meiner Klasse gab es jemanden, der seinen Vater dadurch verloren hat, auch der ältere Bruder eines Nachbarsjungen hat dort gekämpft.

Letzte Woche war ich in München und sah dort die Plakate, die den Ostermarsch für den Frieden angekündigten. Ich wache in Mannheim auf und denke in der frühen Morgenstunde über den Frieden nach. Gestern bin ich hier angekommen, um mich den Proben des neuen Theaterstücks von Anastasiia Kosodii anzuschließen. Abends lief ich unter dem Nieselregen zur kleinen Straße, in der sich meine Wohnung befindet.

Ich bin zu müde, um sofort aufzustehen, und es ist sowieso noch zu früh, also bleibe ich im Bett und scrolle durch meinen Facebook-Feed. In jedem zweiten Post geht es um irgendein Video – je weiter ich lese, desto klarer wird das Bild – vor wenigen Stunden wurde ein Clip veröffentlicht, bei dem russische Soldaten einem ukrainischen Gefangenen den Kopf abschneiden.

Ich stehe auf, ziehe die Vorhänge zur Seite und schaue aus dem Fenster. Auf dem Balkon direkt gegenüber hängt eine Friedensfahne. Der Balkon gehört zur Wohnung im zweiten Stock eines gut erhaltenen Altbaus. Vielleicht sehe ich in den kommenden Tagen diejenigen, die in dieser Wohnung leben, es kann ja passieren, dass sie die Wäsche aufhängen oder auf eine Zigarette rauskommen, da würde ich gern ein Friedensgespräch mit ihnen führen.

Ein Spaziergang mit meinem Freund Rostik

Auch über den Krieg sollten wir dann reden, den viele meiner Mitbürger*innen so schnell wie möglich zu Ende bringen wollen – mit friedlichen Verhandlungen natürlich. Frieden schaffen ohne Waffen, russland nicht provozieren, mit russland verhandeln. Aber wie stellen die Friedensfreunde sich solche Verhandlungen vor – zum Beispiel mit den russen aus dem Video von heute?

Mein Handy vibriert, es ist eine Nachricht von Rostik, meinem Schulfreund, der seit ein paar Wochen in Berlin untergekommen ist. Am Sonntag gingen wir zusammen spazieren, nachdem er seinen 91-jährigen Vater zur Panda Platforma in die Kulturbrauerei gebracht hat, wo sich wöchentlich Flüchtlinge aus der Ukraine versammeln.

Als ich 1995 nach Deutschland kam, habe ich Schritt für Schritt neue Freunde gefunden, die mich aber alle als erwachsenen Menschen kennenlernten. Es ist also etwas surreal, mit jemandem, der mich schon so lange kennt, durch Prenzlauer Berg zu laufen und sich über die Klassenkameraden, Lehrer*innen und erste Freundinnen zu unterhalten. In der Gleimstraße holen wir uns eine Focaccia und gehen auf einen Kaffee zu mir.

Gestern schaute sich Rostik einen Film über den Dichter Wassyl Stus an. Als er darüber berichtet, erinnere ich mich an den Tag, an dem man uns in der Schule zum ersten Mal von Stus erzählt hat, in der elften Klasse muss es gewesen sein. Für mich war es ein Schock – ich hatte bis dahin nie etwas auf Ukrainisch gehört, was mich so umgehauen hätte. Ich fragte Rostik nach ukrainischer Literatur zu unserer Schulzeit. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob meine Erinnerungen tatsächlich stimmen, aber ihm ging es genauso: Er hatte für das Fach null Interesse.

Auf dem Rückweg zu Panda redeten wir über Dmytro, unseren Klassenkameraden, der gerade an der Front ist. Obwohl wir miteinander immer russisch gesprochen haben, kommunizieren wir seit einem Jahr nur noch auf Ukrainisch und es fühlt sich ganz natürlich an. In den letzten Wochen hörte ich nur selten von ihm. Erst gestern hat er sich nach sechs Tagen Stille wieder gemeldet, als ich schon das Schlimmste befürchtet habe. „Meine Einheit gibt’s nicht mehr, aber ich lebe“, schrieb er. „Mal schauen, was als Nächstes kommt.“

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