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Meinung: Koalitionen schmieden beim Korn

Pascale Hugues, Le Point

Die Menschen planen. Die Götter entscheiden.“ Diese Weisheit vertraute mir ein griechischer Taxifahrer an, als wir frühmorgens in flottem Tempo zwischen Schöneberg und Schönefeld unterwegs waren. Eine Lektion in Demut, die während des fieberhaften Wahlkampfs in Vergessenheit geraten war. Die Menschen und die Wahlforschungsinstitute hatten Angies makellosen Sieg geplant. Gerd und Joschka würden als Fußnoten in die Geschichtsbücher eingehen.

Doch die Götter entschieden anders. Die Urnen förderten das überraschendste Wahlergebnis der Nachkriegszeit zu Tage. Fast Stimmengleichheit. Derart Unvorgesehenes ist bei den Deutschen freilich sehr unbeliebt. Mit dem Diffusen tun sie sich schwer. Seit zwei Wochen befindet das Land sich im Zustand der Verwirrung, allen voran der Bundeskanzler. Gerhard Schröder führt sich auf wie ein Potentat, der seinen Regierungssessel auf Lebenszeit beansprucht. Er baut sich vor den Fernsehkameras auf und verkündet jedem, der es hören will, dass er der Beste und der Stärkste ist. Das Land ist besorgt: Nimmt Gerhard Schröder vielleicht Kokain? Ist Alkohol im Spiel? Oder handelt es sich um einen schweren Anfall von Realitätsverlust? Allerdings ist der politische Autismus eine in den anderen europäischen Ländern weit verbreitete Krankheit. Nachdem die Franzosen im Juni beim Referendum über die europäische Verfassung mit einem donnernden „Non“ geantwortet hatten, ging Jacques Chirac über diese persönliche Abfuhr selbstherrlich hinweg: Flankiert von französischen und europäischen Fahnen, verkündete er im Fernsehen: „Ich habe Sie verstanden!“ Business as usual. Chirac hielt an seiner Politik fest, als wäre nichts gewesen.

Streit im Fernsehen ist auch bei uns nichts Unbekanntes. In Deutschland war die Elefantenrunde bisher ein kleines, ziemlich gedämpftes Zeremoniell, das mit eisiger Höflichkeit gegenüber dem Gegner abrollte. Man schnitt sich nicht das Wort ab, man wahrte die Form. Die Deutschen sind Meister in der Streitkultur und in der Konfliktpartnerschaft! Für einen französischen Politiker dagegen sind das völlig abstrakte Begriffe. Die Elefantenrunde hat nichts mit unserem Raubtierkäfig zu tun, mit dem Geschrei, den Beleidigungen, dem höhnischen Gelächter, das die überreizten Kandidaten in den Wahlsendungen des französischen Fernsehens ausstoßen!

In diesen Tagen sind in Deutschland eher romanische Verhaltensweisen zu beobachten. Das Land wird von einem kulturellen Erdbeben erschüttert. Die üblichen Regeln gelten nicht mehr. In Berlin schrillen die Alarmsirenen wie die Glocken am Ostersonntag. Sie verkünden „Chaos“, „Revolution“. Man sagt den endgültigen Absturz des Aktienkurses für den Fall voraus, dass die Linkspartei sich an der Regierung beteiligt. Mein Zeitungshändler sieht das Land auf einem Abstellgleis, das direkt in der Lähmung endet. Ein Politologe erklärt, jetzt schlage die Stunde der Machiavellis und der Strategen. Ob Nord, ob Süd, ganz Deutschland zittert. 80 Prozent der Deutschen geben an, dass sie sich vor der Zukunft fürchten. Schon zeigt das Gespenst der Neuwahlen seine grässliche Fratze. Und was das alles den Steuerzahler wieder kostet! Meine Nachbarn wollen auswandern – in die Schweiz oder nach Patagonien? Das haben sie noch nicht entschieden. Und in der Eckkneipe stricken die Stammgäste in dichtem Qualm und bei Strömen von Korn die verrücktesten Koalitionen zusammen.

Nur wir Ausländer amüsieren uns und bleiben heiter. Chaos? Revolution? Da kennen wir uns aus. „Wir können mit so was leben!“ konstatiert mein italienischer Gemüsemann belustigt. Er ist stolz auf die Gelassenheit seiner Landsleute. „Unregierbar, Deutschland? Übertreiben wir mal nicht! In Deutschland bedenkt man alles sorgfältig und kommt dann zu einer Einigung. Man wird eine Lösung finden“, versichert der Leitartikler meiner Zeitung. Bewahren Sie also Ruhe. Ohnehin sind es die Götter, die entscheiden.

Aus dem Französischen von Elisabeth Thielicke.

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