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Politik: Kalte Füße

Von Gerd Appenzeller

Die Frage, ob ein zu 50 Prozent gefülltes Brennstofflager nun halb voll oder halb leer sei, könnte man im Streit um die russischen Energielieferungen ganz flapsig beantworten: Bei Januartemperaturen von 15 Grad plus kann uns das Moskauer Drehen am Ölhahn ziemlich egal sein. Leider taugt die Antwort genau für diesen Scherz und keinen Millimeter weiter. Was die russischen Energieunternehmen – und das heißt im Klartext: der russische Staat, heißt Wladimir Putin – mit den von ihren Öl- und Gaslieferungen abhängigen Staaten treiben, hat mit Wirtschaft nicht viel zu tun. Es ist Willkür, Erpressung, Machtpolitik ohne Kanonen.

Wir wissen nicht, ob die Nadelstiche, die unser russischer Energielieferant im Moment an verschiedenen Stellen setzt, nur kleine Drohgebärden sind, um höhere Preise durchzusetzen, oder ein Vorgeschmack auf denkbare ernstere Schikanen, mit denen eines Tages politisches Wohlverhalten erzwungen werden könnte. Dass sich die Sowjetunion in den Zeiten, in denen sie eine kommunistische Diktatur war, nie als vertragsbrüchig erwiesen hat, kann nicht trösten. Damals war die UdSSR eine Supermacht, die das global wirksame Druckpotenzial ihrer Energiereserven politisch nicht nutzen konnte – und das auch überhaupt nicht nötig hatte. Diese Sowjetunion gehört, wie der ganze Warschauer Pakt, der Geschichte an. Die ihr nachfolgende Gemeinschaft unabhängiger Staaten, GUS, ist eine papierne Größe.

Als Boris Jelzin 1994 vor der Duma wütend ausrief „Zu Russland muss man Sie sagen“, stand das Land auf dem Tiefpunkt seines Ansehens. Von da aus hat es Putin erfolgreich wieder nach oben führen können, weil er mit harter Hand alle politischen Widersacher ausschaltete und die schier unerschöpflichen Energievorräte geschickt zur Mehrung von Einfluss und Einkommen des Landes nutzte. Was bei diesem Prozess zu kurz kam, ist die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen und eines zivilisierten Umgangs des großen Landes mit seinen kleineren Nachbarn. Russlands Auftreten gegenüber seinen früheren Vasallen ist immer noch hegemonial und herrisch und oft nur mühsam gezügelt. Die ehemals von der UdSSR regierten oder unterdrückten Staaten sind entweder ebenfalls keine lupenreinen Demokratien oder machen sich das Leben wegen eines übersteigerten Nationalgefühls unnötig schwer. Der Region fehlt eine supranationale Organisation wie die Europäische Union, in der Zusammenarbeit fair organisiert wird und in der niemand dominiert. Russland ist weit davon entfernt, sich auf den dafür unabdingbaren Verzicht auf Druckpotenzial einzulassen.

Wer aber als politischer Faktor mit so vielen Unsicherheiten belastet ist, kann zumindest zurzeit kein ökonomischer Partner sein, von dem man sich abhängig machen darf. Geschäfte mit Russland, Einbinden in den europäischen und globalen Wirtschaftskreislauf, gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Stabilisierung – ja. Aber die deutsche, die europäische Zukunft auf die Verlässlichkeit russischer Energielieferungen zu gründen, wäre fatal. Mit einem mehr als 30-prozentigen Anteil beim Öl ist der kritische Punkt überschritten. Das hat die Bundeskanzlerin völlig richtig erkannt.

Was bedeutet das für die Praxis? Zunächst einmal Diversifikation der Energiequellen und der Lieferländer. Der Bau des Tiefwasserhafens in Wilhelmshaven ist eine Möglichkeit, die Versorgung auf dem Schiffsweg zu verbreitern. Forschungen zu regenerierbaren Energien und zur Wasserstofftechnologie müssen attraktiver gemacht werden. Selbstverständlich muss über eine längere Nutzung der Kernenergie offen geredet werden. Zumindest ist die Festlegung von und das Festhalten an Ausstiegsterminen fahrlässig, solange nicht klar ist, was stattdessen wann und in welcher Menge kommt – ohne dass neue Abhängigkeiten geschaffen werden. Mit dem Ausschalten der Stand-by-Funktionen und der besseren Isolierung unserer Häuser kann man viel sparen – als Lösung unserer Energieprobleme sollten wir uns das aber nicht länger vorgaukeln.

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