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Politik: Osterweiterung: "Kein neuer Eiserner Vorhang in Europa"

In Polen ist in den vergangenen Jahren seit der Wende vieles in Bewegung geraten. Politisch war es ein Prozess der Entkrampfung.

In Polen ist in den vergangenen Jahren seit der Wende vieles in Bewegung geraten. Politisch war es ein Prozess der Entkrampfung. Deshalb kann man die polnische Politik auch nicht mehr mit den alten Begriffen von "Rechts" und "Links" einordnen. Diese These vertrat der Chefredakteur der größten polnischen Tageszeitung "Gazeta Wyborcza", Adam Michnik, am Samstag bei einem Besuch des Tagesspiegel. Der 54-jährige ehemalige Dissident und Mitstreiter von Arbeiterführer Lech Walesa sieht sich heute politisch näher zu dem ex-kommunistischen Präsidenten Aleksander Kwasniewski und den aus der KP hervorgegangenen Sozialdemokraten als zu seinen früheren Weggefährten aus der Bewegung der Gewerkschaft "Solidarnosc".

Das vergangene Jahrzehnt sei in der Entwicklung Polens das erfolgreichste "in den vergangenen 300 Jahren", meinte Michnik. In dieser Zeit des markwirtschaftlichen Umbaus und der Demokratisierung der polnischen Gesellschaft fand auch eine Umwertung der politischen Lager statt. Michnik verglich diesen Prozess mit einem Maskenball mit verkehrten Rollen. So sei zum Beispiel ein Teil des katholischen Lagers eher für eine geschlossene Gesellschaft, während die Postkommunisten für demokratische Offenheit und europäische Integration eintreten. Die Wurzeln der reaktionären, rückwärts ausgerichteten politischen Haltung seien sowohl im katholischen Nationalismus als auch in der kommunistischen Vergangenheit zu suchen. Als klare Sieger der in diesem Jahr stattfindenden Parlamentswahlen sieht Michnik schon jetzt die Sozialdemokraten, die zurzeit zwar den Präsidenten, nicht aber die Regierung stellen. Auch nach der wahrscheinlichen Ablösung der Minderheitsregierung von Premier Jerzy Buzek werde aber die EU-Integration weiterhin die absolute Priorität in der Warschauer Politik haben, so Michnik.

Wie deckungsgleich die Positionen ehemaliger polnischer Oppositioneller und einstiger Kommunisten heute sein können, zeigte sich beim Thema Ostpolitik. Genau wie Polens Präsident Aleksander Kwasniewski sieht auch Adam Michnik sein Land in einer Schlüsselrolle für die Kontakte zu den östlichen Nachbarländern einer erweiterten EU. Kwasniewski hatte vor kurzem im Tagesspiegel sein Land als das "neue West-Berlin für Osteuropa" charakterisiert. Michnik sagte, sein Land wolle "positiv auf die östlichen Nachbarn ausstrahlen". Nach dem EU-Beitritt werde Polen vor der schwierigen Aufgabe stehen, einerseits die Ostgrenze der Schengen-Staaten zu sichern, andererseits aber offen keinen "zweiten Eisernen Vorhang" in Europa entstehen zu lassen. Gleichzeitig könnten die EU-Staaten und vor allem Deutschland enorm profitieren, wenn sie den polnischen Erfahrungsschatz in eine gemeinsame Strategie gegenüber Russland und der Ukraine einbeziehen würden. "Polen hat hier ein wirkliches Ass zu bieten: Wir verstehen besser, was Transformation bedeutet," sagte Michnik.

"Deshalb wäre es sinnvoll, sich gemeinsam zu überlegen, wie man den ukrainischen oder den russischen Markt bewirtschaftet." Eine Stabilisierung der Ukraine ist nach Michniks Worten vor allem deshalb nötig, weil eine unabhängige Ukraine einen Grundpfeiler für ein unabhängiges und selbstständiges Polen darstellt.

Michnik, der sich selbst einen "antisowjetischen Russophilen" nennt, will aber auch Russland stärker in den Prozess der europäischen Integration einbinden. Russland dürfe nicht das Gefühl bekommen, dass die EU-Erweiterung seine Interessen bedrohe. Selbst eine Mitgliedschaft des Riesenreichs in der Union will Michnik langfristig nicht ausschliessen: "1989 wurde im Westen auch behauptet, eine Demokratie sei in Polen nicht möglich. Heute ist Polen in dieser Hinsicht ein ganz normales Land. Warum soll das für Russland und die Türkei nicht gelten?" Schließlich habe auch Frankreich einst die Demokratie erst lernen müssen. Momentan allerdings gehe der Westen im Umgang mit Moskau zu sehr davon aus, dass starke Staaten die innere Entwicklung Russlands beeinflussen könnten. Nach Michniks Ansicht eine Fehleinschätzung: Ein wirklicher Wandel könne nur aus Russland selbst kommen.

Doris Heimann, Alexander Loesch

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