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Wie füllt man diese Sitze? Im Streit um die Wahlrechtsreform stehen sich Ampel und Union gegenüber.

© dpa/Wolfgang Kumm

Streitobjekt Wahlrechtsreform: Der große Wurf oder ein Angriff auf die Demokratie?

Im Bundestag wird debattiert, auf welche Weise in Zukunft die Mandate im Parlament verteilt werden. Die Vorschläge von Ampel-Fraktionen und Union liegen weit auseinander.

Ist das nun ein großer Wurf, den die Ampel-Koalition mit ihrer Wahlrechtsreform vorlegt? Den Begriff wählte der SPD-Abgeordnete Sebastian Hartmann am Freitag in der Auftaktdebatte zu dem Vorhaben, den Bundestag wieder kleiner als die aktuell 736 Sitze zu machen.

Oder wird die Axt an die Grundlagen der Demokratie gelegt? Das warf der CSU-Mann Michael Frieser der Koalition vor. Man kann erkennen: Die Regierungsfraktionen und die größte Oppositionsfraktion sind beim Wahlrecht zumindest zum Auftakt der parlamentarischen Beratungen in unterschiedlichen Sphären unterwegs.

Die Koalition will erreichen, dass die auch bisher schon geltende gesetzliche Größe des Bundestags, also die „Normalzahl“ von 598 Mandaten, künftig verlässlich eingehalten werden kann. Keine Überhänge, keine Ausgleichsmandate – klappen soll das dank Hauptstimmendeckung und verbundener Mehrheitsregel.

Diese Kernbegriffe des Reformmodells wählten weder Hartmann noch die anderen Redner der Koalition. Zu technisch soll es nach außen nicht klingen. Doch geht es genau darum: Künftig soll es Bewerbern und Kandidatinnen in einem Wahlkreis nicht mehr reichen, die meisten Stimmen zu haben, um so das Direktmandat zu erringen.

Hauptstimmen und Bürgerstimmen

Ihre Partei muss im jeweiligen Bundesland auch so viele Zweitstimmen haben, dass alle errungenen Direktmandate zugeteilt werden können. Überhänge werden durch Nichtzuteilung vermieden. Es soll dann immer die Siegerinnen und Sieger in einem Wahlkreis treffen, welche die schlechtesten Prozentergebnisse haben. Es wird sozusagen von unten her gekürzt – deshalb ist diese Lösung als Kappungsmodell bekannt.

Im Ampel-Vorschlag wird die Erst- zur Wahlkreisstimme, die Zweit- zur Hauptstimme. Damit will die Koalition verdeutlichen, dass letztere Vorrang hat, die erstere nachrangig ist. Der Union missfällt das. Weshalb auch sie sich ans Umtaufen traditioneller Begriffe gemacht hat. Die Erststimmen heißen bei ihr nun „Bürgerstimmen“.

Die Logik dahinter: Wenn ein über diese Stimmen errungenes Direktmandat nicht zugeteilt wird (oder nach Unions-Lesart wieder weggenommen wurde), sind die Wähler dieser erfolglosen Kandidaten um diese Bürgerstimme betrogen worden.

598
Mandate soll es nach dem Vorschlag der Koalition künftig verlässlich geben.

Die Konfliktlinie ist klar und deutet auf Wahlkampf mit dem Wahlrecht hin. Oder lässt sich die Union befrieden mit Zugeständnissen der Ampel? Der Wahlrechts-Obmann der FDP, Konstantin Kuhle, bot der Unionsfraktion an, zumindest über einen Punkt in deren Vorschlag (kein Gesetzentwurf, nur eine Liste mit fünf Forderungen) zu reden. Man könne, so Kuhle, die Zahl der Wahlkreise verringern und die der Listenmandate erhöhen.

270 statt 299 hier, 320 statt 299 da, hat die Union vorgeschlagen – so wären etwas weniger Wahlkreissieger von einer Kappung betroffen, aber zumindest in der ersten Wahl nach diesem Modell hätten eben auch 29 bisherige Wahlkreissieger keinen Wahlkreis mehr.

Nach Prozent oder nach Stimmen?

Auf einen Punkt, der in der weiteren Debatte Eindruck machen kann, wies der CDU-Mann Philipp Amthor hin. In Bremen hätte das Ampel-Modell 2021 dazu geführt, dass eines der beiden von der SPD gewonnenen Direktmandate nicht zugeteilt worden sei.

Da die Ampel sich für das Prozentergebnis als Maßstab entschieden hat, säße Sarah Ryglewski, die auf gut 30 Prozent der Erststimmen kam, demnach heute nicht im Bundestag, wohl aber Uwe Schmidt (37 Prozent). Allerdings hatte Ryglewski knapp 56.000 Stimmen, Schmidt dagegen nur etwa 52.300.

Ein Problem? Möglicherweise. Allerdings dürfte die Ampel-Lösung hier verfassungsfester und auch praxisnäher sein. Denn würde das Nichtzuteilen von Direktmandaten sich an der tatsächlichen Stimmenzahl und nicht am Prozentergebnis orientieren, müssten alle Wahlkreise in Deutschland näherungsweise die gleiche Zahl von Wahlberechtigten haben. Das aber würde den permanenten Neuzuschnitt der Wahlkreise bedeuten.

Ob es noch Zugeständnisse, ein gemeinsames Abstimmen und damit keine Klage der Unionsfraktion in Karlsruhe geben wird? Der Grünen-Abgeordnete Till Steffen hielt der CDU/CSU-Fraktion vor, sie habe die Zeit nach der ersten Vorstellung des Ampel-Modells (das war im vorigen Mai) nicht genutzt. Nun muss sie sich in wenigen Wochen entscheiden. Denn die Abstimmung im Bundestag soll noch vor Ostern stattfinden.

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