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Der Deutsche Bundestag: Künftig verlässlich bei 598 Sitzen.

© dpa/Christoph Soeder

Verfassungswidrig oder nur unschön?: Wie das Wahlrecht umgekrempelt wird

Die Ampel will Überhangmandate verhindern, aber es bleiben Widersprüche. Um den Koalitions-Entwurf wird (und muss) es noch Debatten geben. Eine kritische Analyse.

Die Ampel-Koalitionäre sind stolz auf ihre neueste Errungenschaft: Das nächste Kapitel in der schier endlosen Geschichte einer Reform des Wahlrechts für den Bundestag ist geschrieben. Ob es in Gänze so erscheint, wie es nun im Entwurf vorliegt – wer weiß. Die Union droht schon mit einer Klage in Karlsruhe.

Dabei hat der Vorstoß ohne Zweifel Pluspunkte. Dass die Ampel sich auf eine feste Größe von 598 Sitzen verständigt hat (jedenfalls als mutmaßlich meistens geltende Grundsatzregel), ist ein Fortschritt.

Damit ist (hoffentlich) die Zeit vorbei, in der an der bisherigen Form der personalisierten Verhältniswahl über das Drehen an allen möglichen Schräubchen alles immer nur noch schlimmer wurde. Dass der Bundestag 2021 auf 736 Abgeordnete anwuchs, ist letztlich diesem wahlrechtspolitischen Ansatz des mehr oder weniger interessengeleiteten Herumwerkelns in der Garage zu verdanken.

Etwas Verbalkosmetik

Auch gilt nun verlässlich das Prinzip der Verhältniswahl. Die zu erwartende Zusammensetzung des Parlaments nach Parteien beziehungsweise Fraktionen würde das Wahlergebnis recht exakt abbilden. Da kann man vielleicht darüber hinwegsehen, dass SPD, Grüne und FDP mit nicht geringer Verbalkosmetik nur ein längst bekanntes Modell umsetzen werden. Es hieß bisher Kappungsmodell.

In Bayern war es, das ist Jahrzehnte her, schon Gesetz. Es hatte eine kurze Lebensdauer. In der Wahlrechtsdebatte auf Bundesebene war das Modell zwar stets präsent, die Grünen gossen es auch einmal in einen Gesetzentwurf, zuletzt tat das die AfD. Aber es setzte sich nie durch.

Das Umbenennen der Erststimme in „Wahlkreisstimme“ und der Zweitstimme in „Hauptstimme“ kann zweifellos mehr Orientierung geben. Aber das ist nicht die Hauptsache. Der Kern eines Wahlmodells liegt in der Art der Sitzzuteilung. Oder eben der Nichtzuteilung.

Direktmandate nicht mehr garantiert

Und dafür hat sich die Ampel-Koalition nun entschieden. Um eine weitere Aufblähung des Bundestags zu vermeiden, sollen Direktmandate immer dann nicht mehr Siegerinnen und Siegern in Wahlkreisen zugeteilt werden, wenn es zu Überhangmandaten kommt.

Die entstehen bekanntlich, wenn eine Partei in einem Land über die Erst- und nun Wahlkreisstimmen mehr Direktmandate in den Wahlkreisen erringt, als ihr nach den Zweit- und nun Hauptstimmen überhaupt an Sitzen zusteht. Früher verzerrten die Überhänge den Parteienproporz im Parlament, später wurden sie ausgeglichen, um diesen Effekt zu verhindern, was im Zusammenwirken zu den erheblichen Sitzgrößen nach dem Wahlen 2017 (709 Mandate) und 2021 (eben 736) führte.

Wird das Wählen mit dem Ampel-Modell einfacher?

© dpa/Michael Kappeler

Der Parteienproporz wird nun durch Nichtzuteilung von Direktmandaten erreicht. Nach dem Ampel-Entwurf wird die „Hauptstimmendeckung“ verlangt, keine Partei soll mehr Sitze haben, als ihr nach diesen Stimmen zukommt. In der Union hält man das aber für verfassungswidrig.  Warum? Weil in den Wahlkreisen auch weiterhin Mehrheitswahl veranstaltet wird, und das Kerncharakteristikum dieses Systems ist die Direktmandatsgarantie – wer im Wahlkreis vorne liegt, hat einen Sitz.

Wir ändern den Mehrheitsbegriff. Der Gesetzgeber darf das.

Konstantin Kuhle, FDP-Politiker

Diese Garantie wird im Ampel-Entwurf nun quasi gestrichen, denn es werden so lange Direktmandate nicht zugeteilt, bis sich die Überhänge aufgelöst haben. Erreicht wird das dadurch, dass man alle Wahlkreissieger einer Partei dem Ergebnis nach reiht – nach den Prozentergebnissen, beginnend mit dem oder der Besten – und aus dieser Direktbewerberliste nur so lange zuteilt, wie es der Anteil an den Hauptstimmen erlaubt. Aber kann man ein Kernwahlprinzip so ignorieren?

Die Wahlrechtspolitiker der Ampel sagen, es sei Sache des Gesetzgebers, was er für Mehrheit hält und was nicht – so ausdrücklich der FDP-Mann Konstantin Kuhle. Und die Ampel hat nun die „verbundene Mehrheitsregel“ zum Maßstab gemacht – eben Wahlkreissieg plus Deckung durch Hauptstimmen.

Unabhängige können kandidieren

Dass weiterhin Mehrheitswahl im klassischen Sinn veranstaltet wird, erkennt man allerdings daran, dass unabhängige Kandidaten und Kandidatinnen weiterhin zugelassen sind. Da fühlt sich die Koalition an eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gebunden, wonach es kein Parteienmonopol bei der Kandidatenaufstellung geben darf. Was natürlich nur bei einer Mehrheitswahl Sinn macht, denn in welches Verhältnis sollte man unabhängige Einzelkandidaten (und um solche geht es) bei einer Verhältniswahl stellen?

Zwei Arten von Bewerbern

Im Entwurf heißt es ausdrücklich, dass zur Wahl allein die „Grundsätze der Verhältniswahl“ gelten. Dann aber müssten Unabhängige nicht zwangsläufig zugelassen werden. Für die gilt im Übrigen im Ampel-Modell weiterhin die Direktmandatsgarantie. Damit aber schafft der Entwurf zwei Arten von Bewerbern. Für Kandidaten einer Partei gilt diese klassische Mehrheitswahlregel aber nicht mehr, sondern die „verbundene Mehrheitsregel“. Für Unabhängige allerdings gilt sie nicht, denn diese unterliegen ja keiner Hauptstimmendeckung.

Auch ist der Entwurf nicht ganz so konsequent, wie die Schöpfer ihn gerne darbieten würden. Denn wundersamer Weise hat die Grundmandatsklausel überlebt, also jene Regelung, wonach drei Direktmandate eine Partei in den Bundestag hieven, auch wenn sie unter der Fünf-Prozent-Marke geblieben ist. 2021 kam deswegen die Linke wieder in den Bundestag.

Für die Wahl zum Deutschen Bundestag gelten die Grundsätze der Verhältniswahl.

Aus Paragraph 1 des Ampel-Gesetzentwurfs

Wenn es aber der Kern des Ampel-Modells ist, dass allein die Hauptstimmen die Sitzverteilung der Parteien im Bundestag und die Größe des Parlaments bestimmen sollen, und die „Mitwirkung“ der Erststimmen daran (eben über die Überhänge) abgeschafft wird, müsste das Hineinschlüpfen einer Partei über drei Direktmandate, errungen auf Basis von Erst- oder nunmehr Wahlkreisstimmen, eigentlich auch ein Ende haben.

Die Erklärung aus der Ampel läuft, zugespitzt formuliert, darauf hinaus, dass man nett sein wollte zu den potenziellen Opfern der Fünf-Prozent-Hürde (Linke, AfD, zuletzt auch CSU). Aber wäre dann nicht eine Absenkung des Zugangsquorums, etwa auf drei Prozent, die bessere, weil saubere Lösung? Kuhle gesteht zu, dass das Festhalten an der Grundmandatsklausel eine „Durchbrechung“ sei. Die muss nicht gleich verfassungswidrig sein, aber sie ist eben systemwidrig, und in Karlsruhe ist systematische Klarheit durchaus ein Kriterium.

Zweifelsfrei verständlich?

Noch ein Punkt muss kritisch hinterfragt werden. Wenn in einem Land keine Überhänge entstehen, dann wird das bisher übliche Zuteilungsverfahren angewendet: Wahlkreissieg gleich Direktmandat, weitere Mandate werden über die Landesliste vergeben. Das ist die bisherige Verbindung von Mehrheitswahl und Verhältniswahl. Kommt es aber zu Überhängen, springt das Wahlrecht dann nicht zu einem anderen Zuteilungsverfahren? Eben zu einem, in der die verbundene Mehrheitsregel gilt? Oder gilt die, und zwar stets erkennbar für die Stimmbürger, in beiden Fällen?

Die Frage ist relevant, wenn es darum geht, wie groß die Akzeptanz für das Ampel-Modell in der Wählerschaft sein wird. Die hängt auch damit zusammen, ob verstanden wird, was passiert. Ist allen Bürgern beim Kreuzchenmachen bewusst, dass Direktbewerber eventuell trotz Wahlkreissieg unter die Nichtzuteilung fallen? Wie wirkt sich das auf das Wahlverhalten aus? Immerhin lassen sich heutzutage durch Wahlprognosen und die Erfahrung vergangener Wahlen mehr oder weniger plausible Erwartungen formulieren.

Ist den Wählern dann klar, dass unter Umständen die CSU-Bewerber in den bayerischen Großstädten gar keine Chance haben – wie es 2021 der Fall gewesen wäre? Oder dass die SPD im Südosten Brandenburgs kein Mandat erringen würde, eben wegen der Nichtzuteilung aufgrund der verbundenen Mehrheitsregel? Umgekehrt: Was wäre, wenn solche Prognosen den Wahlkampf bestimmen?

Meinungen zum mutmaßlichen Wahlausgang sind Teil des Wahlgeschehens, auch auf Wahlkreisebene. Ist es klug, wenn ein Wahlsystem selbst zur Unklarheit beiträgt, wer unter welchen Umständen drin oder draußen ist?

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