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Von Peter Könnicke: Obdachlosigkeit mit zwölf Gesichtern

Die Potsdamer Agentur „Formtreu“ hat in einem Kalender Berliner Wohnungslose porträtiert

Rolf ist auf dem Blatt für den Monat November – die Schwarz-Weiß-Aufnahme des Kalenders zeigt den Obdachlosen vor einer Staffelei mit einem seiner Bilder. Der 65-Jährige teilt sich am liebsten in seinen Werken mit, er sei „menschenscheu“ geworden, sagt er. Rolf Kellermann malt Gesichter mit großen Nasen, Landschaften mit weiten Wegen, Häuser mit Graffitis. In dem Foto-Kalender ist er jetzt selbst zum Kunstobjekt geworden. Unter dem Titel „Adresse: Straße 2011“ finden sich zwölf Porträts von Berliner Obdachlosen.

Aufgenommen wurde das Porträt von Benjamin Jaworskyi, einem 23-jährigen Fotokünstler der Potsdamer Agentur „Formtreu“. Die seit einigen Monaten in Potsdam ansässige Agentur hat etwa Werbekampagnen für das Land Mecklenburg-Vorpommern begleitet und alte Potsdamer Villen fotografisch in Szene gesetzt. „Wir wollten Obdachlosen, denen wir in unserem Alltag häufig, aber nur flüchtig begegnen, ein Gesicht geben“, beschreibt Agentur-Inhaber Peter Jaworskyi die Idee für den Kalender. Statt betreten wegzuschauen, wollten sie die Menschen von der Straße in den Fokus der Kamera rücken.

Das Diakonische Werk, das den Fotografen bei der Kontaktaufnahme mit Obdachlosen unterstützte, schätzt allein in Berlin die Zahl der Wohnungslosen auf 10 000. „Wir haben 20 Leute gefunden, die bereit waren, sich fotografieren zu lassen und ihre Geschichte zu erzählen“, sagt Jaworskyi. Das Ergebnis sind kontrastreiche Porträts von Menschen, die im Alltag kaum wahrgenommen werden. Benjamin ist mit seiner Kamera so nah herangerückt, dass ein Wegschauen nicht mehr möglich ist. Dabei sind die Porträts alles andere als aufdringlich.

Rolf ist Künstler, seit zehn Jahren malt er in der „Gitschiner 15“, einem sozio- kulturellen Zentrum in Berlin-Kreuzberg. Seine Bilder waren schon in Ausstellungen und Kirchen zu sehen, an deren mediale Begleitung er sich ungern erinnert. „Die Fotografen waren total aufdringlich“, erzählt er. „Deshalb habe ich mich lange gescheut, mich fotografieren zu lassen.“ An sich seien Fotos und Interviews nicht schlimm, „es kommt auf die Fragestellungen an“, findet Rolf. „Und Benjamin hat eine Art, die mir gefallen hat“, lobt er den jungen Fotografen.

Nur eine Frau findet sich in dem Kalender. „Es gibt viele Frauen, die auf der Straße leben, aber wenige, die sich fotografieren lassen“, sagt Peter Jaworskyi. Kamila blickt mit einem zarten Lächeln in die Kamera. „Live fast and die young“, lebe schnell und stirb jung, hat die 25-Jährige unter ihre Signatur geschrieben. Eine von zwölf Lebensweisheiten, die die Obdachlosen mit ins nächste Jahr geben. „Ich bin, wer ich bin“, schreibt Thomas (48). Und Rolf verrät von sich: „Ich kann ohne Zähne besser beißen, als du denkst.“ Ihm fehlt die untere Zahnreihe, „deshalb bleibt beim Lachen auch die Lippe drüber“, erklärt er.

Für den Kalender einen Verlag zu finden, war nicht leicht. „Interesse von Verlegern war da, aber wenig Mut“, beschreibt Jaworskyi die Suche. Schließlich hat der Kalenderspezialist KV&H Verlag Produktion und Druckkosten übernommen. „Wir verfolgen dieses engagierte Projekt mit Begeisterung und sind sicher, dass sich der Kalender gut verkaufen wird“, meint Vertriebsleiter Michael Bork. Der Kalender kam im Herbst zum Stückpreis von 20 Euro in den Handel. Mit den Einnahmen werden ausschließlich Projekte für Obdachlose unterstützt. Für Rolf ist das ein gutes Gefühl. „Ich habe so viel geschenkt bekommen“, sagt er. Zwei Jahre hat er auf der Straße gelebt. Durch das Malen sei er „wieder auf einem fast normalen Weg angekommen“. Mit seinem Kalender-Porträt könne er nun ein Stück zurückgeben.

Peter Jaworskyi und Ines Schneider von der „Formtreu“-Agentur können sich eine Fortsetzung des Projektes vorstellen. „Vielleicht machen wir im nächsten Jahr etwas in Potsdam.“

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