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Blick nach unten. Antonio Rüdiger und die Nationalelf mussten gegen Polen die nächste Niederlage hinnehmen.

© IMAGO/Schüler

Ein Jahr vor der Fußball-EM im eigenen Land: Die DFB-Elf sucht die Leichtigkeit und findet sie nicht

Kein Selbstvertrauen, keine Siege. Keine Siege, kein Selbstvertrauen: Bundestrainer Hansi Flick und sein Team wirken wie in einem Teufelskreis gefangen.

Ein Fußballspiel über 90 Minuten liefert nicht nur Bilder in Hülle und Fülle. Es liefert auch Bilder, die jede abseitige und nicht so abseitige These entsprechend zu illustrieren vermag. So war das auch am Freitagabend, als im Nationalstadion von Warschau Polen und Deutschland aufeinandertrafen.

Etwas mehr als eine Stunde war vorüber, als die Gäste einen Freistoß in aussichtsreicher Position zugesprochen bekamen. Vor der Abwehrmauer der Polen formierten sich einige deutsche Spieler, um ihre Gegner zu irritieren. Joshua Kimmich lief an, er schoss den Ball Richtung Tor – und traf seinen Kollegen Antonio Rüdiger, der umgehend zu Boden sank.

Viel pointierter hätte man die Bemühungen der Nationalmannschaft nicht zusammenfassen können. Im Moment lassen die Deutschen kaum eine Peinlichkeit aus. Die 0:1-Niederlage gegen Polen fügte sich jedenfalls passgenau in die vergangenen Wochen und Monate. Die Nationalmannschaft fahndet zwanghaft nach ihrer alten Leichtigkeit. Und findet sie einfach nicht.

Nur drei Siege gab es in den zehn Länderspielen der Saison 2022/23: gegen den Oman, gegen Costa Rica und gegen Peru. Diese Bilanz schlägt nicht nur dem Publikum zunehmend aufs Gemüt. Sie geht auch an den Beteiligten nicht spurlos vorüber. Hansi Flick, der Bundestrainer, wirkt inzwischen erkennbar angespannt und fast schon ein bisschen dünnhäutig.

Am Dienstag endet mit dem Länderspiel gegen Kolumbien in Gelsenkirchen seine zweite Saison als Bundestrainer. Der Zauber des Anfangs ist längst verflogen.

Flick, Nachfolger des ewigen Jogi Löw, ist als Bundestrainer mit acht Siegen in sein neues Amt gestartet. Dass die Gegner allenfalls zweitklassig waren? Geschenkt, weil der erfolgreiche Beginn als Bundestrainer eine Fortschreibung seiner erfolgreichen Zeit als Cheftrainer beim FC Bayern München zu sein schien. Mit den Bayern hatte Flick schließlich im ersten Jahr mehr Titel geholt, als es Titel gibt.

Deutschland war gegen Polen klar überlegen

Flick selbst hat die Dinge realistisch eingeschätzt und immer gewusst, dass er auch von günstigen Umständen profitiert hatte. Er habe, so hat es der Bundestrainer vor dem Länderspiel in Warschau erzählt, „in München eine Phase erwischt, wo alles super lief“. Das Momentum war damals ein Münchner und mit Flick per du. Inzwischen trägt das Momentum – je nach dem, gegen wen die Deutschen spielen – ein japanisches, ein belgisches oder ein polnisches Trikot.

In Warschau war die Nationalmannschaft nach einer trägen und uninspirierten ersten Hälfte zumindest nach der Pause deutlich überlegen. Sie hatte gegen harmlose Polen einige gute Chancen. Aber entweder waren die Deutschen vor dem Tor nicht entschlossen genug, oder sie scheiterten am überragenden Torhüter Wojciech Szczesny.

Trost vom Bundestrainer. Hansi Flick (links) und Jamal Musiala.

© dpa/Christian Charisius

„Es fehlt einfach die letzte Gier“, sagte Innenverteidiger Antonio Rüdiger. „Das ist ein bisschen sinnbildlich für uns.“ Auch Flick empfand die Bemühungen seines Teams als „leider nicht 100 Prozent zwingend“.

Die deutsche Nationalmannschaft hätte dieses Spiel nicht verlieren müssen. Aber dass sie es verloren hat, schien irgendwie logisch. „Man hat gemerkt, dass wir ein Tor schießen wollten“, sagte Joshua Kimmich. „Aber momentan geht’s nicht so einfach.“

Die Niederlage passte in die Zeit, die inzwischen als ähnlich bleiern empfunden wird wie die Endphase der 15-jährigen Amtszeit von Flicks Vorgänger Löw. Der erhoffte Aufbruch nach der missratenen WM im Advent ist ausgeblieben. Immer größer werden daher die Zweifel, ob es wirklich die richtige Entscheidung war, mit Flick weiterzumachen.

Flick wirkt erratisch wie sein Team

Im Moment strahlen der Bundestrainer und seine Mannschaft wenig aus: zumindest keine Stärke, keine Überzeugung, keine Selbstsicherheit. Die Aussagen des Bundestrainers („Wir werden nächstes Jahr im Juni eine Mannschaft haben, die funktioniert“) klingen wie Phrasen.

Manchmal wirkt Flick sogar ähnlich erratisch wie seine Spieler vor dem gegnerischen Tor. Einerseits hat er von den Medien gefordert, seine Spieler von Kritik auszunehmen. Andererseits ist er selbst Niklas Süle öffentlich angegangen.

Nach der enttäuschenden Weltmeisterschaft genießt der Bundestrainer nur noch einen minimalen Kredit, und das ist auch ein Grund, warum die Nationalmannschaft aktuell in einem Teufelskreis gefangen scheint. Sie braucht Erfolge zur Bestätigung, stattdessen verstärkt jeder Misserfolg die eigenen Zweifel.

Flicks berechtigter Wunsch, mit Blick auf die EM im kommenden Jahr sowohl taktisch als auch personell etwas auszuprobieren, wirkt wie ein Spiel mit dem Feuer. „In dem Prozess, in dem wir gerade sind, ist ein Sieg einfach sehr, sehr wichtig, weil das Vertrauen gibt und dann auch ein bisschen Ruhe reinkommt“, sagte Flick.

Das Spiel am Dienstag gegen Kolumbien bietet nun die Chance, zumindest mit einem Erfolgserlebnis in den Urlaub zu gehen. „Wir müssen fighten und gewinnen“, sagte Flick. „Das ist letztendlich unser Auftrag.“ Was passiert, wenn dieser Auftrag nicht ausgeführt wird, das will er sich vermutlich lieber nicht vorstellen.

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