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Anna Büchling zersticht am Donnerstag (26.04.2012) vor der russischen Botschaft in Berlin einen Luftballon mit dem Bild von Putin. In den Ballons befinden sich Zettel mit einer Petition an Wladimir Putin, mit der Aufforderung eine freie Berichterstattung in seinem Land zuzulassen. Foto: Hannibal dpa/lbn ++ +++ dpa-Bildfunk +++

© dpa/HANNIBAL HANSCHKE

Unterdrückung in Russland : Verstehen, wie die Gesellschaft verrückt wird

Auch innerhalb Russlands arbeiten immer noch unabhängige Journalistinnen und Journalisten. Eine von ihnen berichtet, wie sie lebt und arbeitet.

Von Marfa Sultanova

Der Name der Protagonistin wurde aus Sicherheitsgründen geändert und die Namen der Städte wurden weggelassen.

Die unabhängigen Medien in Russland sind vernichtet. Nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine begannen einige russische Medienredaktionen, das Land zu verlassen, um weiterzuarbeiten. Inzwischen gibt es mehrere Dutzend solcher Medien, die außerhalb Russlands arbeiten – innerhalb des Landes werden die meisten von ihnen als ausländische Agenten oder unerwünschte Organisationen eingestuft, und den Journalistinnen und Journalisten droht bei ihrer Rückkehr Gefängnis.

Aber auch innerhalb Russlands arbeiten immer noch unabhängige Journalistinnen und Journalisten. Hier ist der Bericht einer von ihnen darüber, wie ihr Leben und ihre Arbeit aussieht.

„Als der Krieg begann, war ich davon überzeugt, dass in jeder Straße Menschen protestieren würden. Ich stand in einer einsamen Mahnwache, ging zu Kundgebungen und klebte Anti-Kriegs-Flugblätter. Es schien, als stünde eine Revolution bevor. Aber nichts ist passiert“, sagt Maria. Im Jahr 2022 war sie arbeitslos, und dann brach noch ihr persönliches Projekt zusammen: Marias Mitautor wollte aus Angst vor strafrechtlicher Verfolgung nicht mehr an ihrem Dokumentarfilm über Antikriegskünstler weiterarbeiten.

„Das erste Jahr war absolut beschissen. Man hat sich ständig runtergemacht, geschämt und getrauert“, erinnert sich Maria. Im September 2022 wurde Maria wegen der Teilnahme an einer weiteren Antikriegsaktion für zwölf Tage inhaftiert: „Im Protokoll schrieben sie, dass ich Widerstand geleistet hätte, aber das stimmt nicht. Ich war wie gelähmt, als ich die zwei kräftigen Männer sah, die ganz in Schwarz gekleidet waren. Nur Schlitze für die Augen und aufgenähte Z-Zeichen. Ich bereue nicht, zu der Kundgebung gegangen zu sein, und weiß, dass ich richtig gehandelt habe. Dieses Recht ist in der Verfassung verankert.“

Ich muss aus diesem Sumpf raus

Im zweiten Kriegsjahr konnte sich Maria wieder aufrappeln: „Eine Dienstreise in eine Militärstadt, die für Exilmedien eigentlich geschlossen war, hat mir sehr geholfen. Ich lag im Bett und weinte viel und sagte meiner Redakteurin, dass ich krank sei und sie besser einen Ersatz für mich finden solle. Sie entgegnete: ,Sie werden besser gesund und machen es selbst.’ Ich dachte: ,Wenn sie schon an mich glauben, dann muss ich jetzt aus diesem Sumpf raus.’ Der Text wurde geschrieben, und ich halte ihn für eines der wichtigsten Dinge, die ich während des Krieges getan habe.“

Maria arbeitet jetzt als Korrespondentin für ein anderes Medienunternehmen im Exil und schreibt über Unterdrückung, politische Gefangene und darüber, wie sich der Krieg auf das Leben der Menschen auswirkt. „Es interessiert mich, die Realität des Landes zu erforschen. Vor kurzem bin ich dienstlich nach Sibirien gefahren - in ein Dorf, in dem Menschen leben, deren Vorfahren im frühen 20. Jahrhundert aus der Ukraine eingewandert sind. Sie sprechen Ukrainisch und können kein Russisch. Aber seit die Propaganda dort angekommen ist, ziehen viele Menschen in den Krieg - auf der Seite Russlands. Du sprichst mit einem Mann, und er sagt zu dir:  “Піду нацистів бити” (Ich gehe [in die Ukraine] Nazis schlagen - Ukr.).

Es ist wichtig zu verstehen, wie wir als Gesellschaft verrückt werden.

Maria, Journalistin in Russland

Maria sagt, sie sei manchmal verzweifelt, finde aber einen Sinn in ihrer Arbeit: „Es ist wichtig, die sich verändernden Normen zu erfassen, um zu verstehen, wie wir als Gesellschaft verrückt werden. Und um zu verhindern, dass wir endgültig verrückt werden. Und ich habe noch das Privileg, in verschiedene Regionen zu reisen, mit den Menschen zu sprechen, ihnen in die Augen zu sehen. Je mehr ich durch das Land reise, desto mehr liebe ich es.“

Im Januar 2024 reiste Maria in eine baschkirische Stadt, in der es Proteste gegen die Inhaftierung eines örtlichen Öko-Aktivisten gab.

„Circa 7000 Menschen riefen „Freiheit für Fail Alsynov!“ in zwei Sprachen, Baschkirisch und Russisch“, sagt sie. „Ich trat den baschkirischen Chats zur gegenseitigen Unterstützung bei – die Menschen hatten sich zusammengeschlossen, weil die Polizei durch die Dörfer fuhr, Demonstranten aus ihren Häusern holte und sie verhaftete. Menschen, die noch nie mit dem System konfrontiert worden waren, wurden plötzlich die Augen geöffnet: Haben wir keine Redefreiheit? Müssen wir ins Gefängnis, wenn wir zu einer Demonstration gehen? Diese Veränderungen sind ermutigend. Aber je rosiger die Illusionen sind, desto schmerzhafter ist das Erwachen.“

Ein Bekannter im Team-Putin-T-Shirt

Maria gesteht, dass sie durch den Tod von Alexej Nawalny und die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen niedergeschlagen ist. Sie hat den Eindruck, dass Putin tatsächlich von mindestens 80 Prozent der Bevölkerung unterstützt wird.

„Gestern hat mir meine Friseurin, sie ist 37, erzählt, dass viele ihrer Bekannten im gleichen Alter für Putin gestimmt haben. Dann habe ich bei einem Bekannten auf Facebook ein Foto gesehen, auf dem er in einem Team-Putin-T-Shirt mit seiner Frau zu sehen sind. Vorgestern habe ich mit einem Bekannten über Nawalny gesprochen, und er hat gefragt: Wie kommst du darauf, dass das nicht das Werk westlicher Geheimdienste ist?“

Maria denkt darüber nach, Russland zu verlassen, schiebt es aber auf. „Früher dachte ich: Wenn ein Krieg ausbricht, dann gehe ich. Dann dachte ich: Ich gehe, wenn ich strafrechtlich verfolgt werde. Danach dachte ich: Ich gehe, wenn meine Eltern belangt werden. Und dann wurde mein Vater verhört und verbrachte meinetwegen die Nacht auf dem Polizeirevier – und ich bin nicht gegangen.“

Sie glaubt, dass das eine Folge der allmählichen Gewöhnung an die neuen Normen ist. „Anstatt sich zu retten, sucht man nach Ausreden, um zu bleiben. Aber ich bin 31, ich habe keine Familie, ich will unbedingt Kinder. In Russland herrscht eine völlig unfruchtbare Atmosphäre, obwohl der Staat zum Gebären von Soldaten aufruft. Und ich glaube nicht, dass ich hier einen Mann treffen kann, mit dem ich eine Familie gründen könnte. Solange in meinem Land der Tod herrscht, kann ich mir kein Leben aufbauen. Ich glaube, für mich ist der Moment gekommen, an dem ich mich für mich selbst entscheiden möchte.“

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