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Selbstporträt James Ensors mit Blumenhut aus dem Jahr 1883.

© Collectie Mu.ZEEv - foto Hugo Maertens

Zum 75. Todestag von James Ensor: Wenn sich die Dinge auflösen

2024 widmet Belgien dem Maler mit der Maskenmanie ein Jubiläumsjahr. Den Anfang macht Ostende, in dem Ensor die längste Zeit lebte. Das Museum aan Zee zeigt seine Stillleben und wie er die Zeitgenossen überflügelte.

Von Alexandra Wach

Nein, der Misanthrop mit der Maskenmanie, der für seine Karneval feiernden Skelette berühmt wurde, sozialkritische Karikaturen schuf und Musik komponierte, die sich seine Besucher erst einmal anhören mussten, bevor sie den Meister zu Gesicht bekamen, war nicht der Einzige, der dem diskreditierten Stillleben neues Leben einhauchen wollte. Symbolisch aufgeladen war es schon immer: Utensilien wie Blumen, Bücher, Früchte, Instrumente oder Totenschädel verwiesen nicht zuletzt in der Barockzeit auf die Endlichkeit des Daseins, die fünf Sinne oder die vier Jahreszeiten.

Spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fristete das Genre ein dekoratives Dasein in bürgerlichen Salons. Opulente Blumenbouquets verkauften sich prächtig, der metaphorische Gehalt oder gar das Herausfordern von Sehgewohnheiten waren weniger gefragt.

Nach den Bruegel-, Rubens- und Van-Eyck-Jubeljahren stellt die flämische Regierung anlässlich des 75. Todestages nun 4,5 Millionen Euro für das Ensor-Jahr 2024 bereit. Die von Bart Verschaffel und Sabine Taevernier kuratierte Schau „Rose, Rose, Rose à mes yeux“ im Kunstmuseum aan Zee in Ostende verfolgt als erste von sechs Ausstellungen entlang von 50 Gemälden die Entwicklung des Stilllebens in Ensors Werk: von frühen gediegenen Beispielen bis hin zu den fantastischen Variationen seiner letzten Schaffensperiode.

Dem diskreditierten Stillleben neues Leben einhauchen: James Ensors „Schelpen (Coquillages)„ von 1936.

© Foto: Gérald Micheels

Das Stilleben als „Prüfstein des Malers“

Schon als Kind interessierte sich James Ensor r (1860 bis 1949) für exotische Szenerien. Das lag auch daran, dass seine Mutter Maria Catharina Haegheman einen Laden für Kuriositäten, Scherzartikel, Masken und Karnevalskostüme mitten in Oostende betrieb. Wie Édouard Manet, der um eine Generation ältere französische Impressionist, erkannte Ensor im Stillleben den eigentlichen „Prüfstein des Malers“. Denn wer unspektakuläre Gegenstände wie Muscheln oder Geschirr so zu malen verstand, dass sie Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sei auch für scheinbar bedeutsamere Themen geeignet.

Ensors Bilder wirken dank der aufgehellten Palette spontan und leicht, während viele seiner Zeitgenossen mit einer dunkel gehaltenen Flut von Schalen, Krustentieren, Vögeln und Wild überwältigen wollten. Zu sehen gibt es auch bei ihm Blumen, Schmuck oder Beispiele für asiatisches Kunstgewerbe.

Der tote Rochen von James Ensor aus dem Jahr 1892 gewinnt dank sexueller Konnotation Lebendigkeit.

© Foto: J. Geleyns - Art Photography

Doch fühlt man sich von seiner Auswahl nie bedrängt. Vielleicht, weil sie eine Bühne herstellt, auf der auch existenzielle Aspekte eine Rolle spielen. Wenn er etwa den Kopf eines Rochens gegen ein Stück Holz lehnt, schaut dieser wie eine Maske aus. Den Fisch mit langem Schwanz kombiniert er mit einer Muschel, deren Inneres rosa leuchtet. Dank der sexuellen Konnotation erhält der tote Rochen auf humorvolle Weise seine Lebendigkeit zurück.

Ensor im Vergleich mit rund 100 Gemälden

Den Anstoß zu dieser Erweiterung des Themenkanons, so erklärt es Bart Verschaffel im Katalog, erhielt Ensor bei der Lektüre von Jules Champfleurys einflussreicher „Geschichte der Karikatur“, die er als Quelle immer verheimlichte. Der innovative Zugang des Malers bildet in der Ausstellung den Ausgangspunkt zu einem Überblick über das Stillleben in Belgien zwischen 1830 und 1930. Der Vergleich mit rund 100 Bildern, darunter auch einige exquisite Werke von vergessenen Malerinnen wie Alice Ronner, Berthe Art, Louise de Hem und Georgette Meunier, lohnt ungemein, auch wenn die Ausstellungsarchitektur aus Holzwänden und kaum abgedunkeltem Licht den Charme eines dicht gehängten Baumarkts verbreitet.

Das Museum aan Zee in Ostende befindet sich in einem ehemaligen Lagerhaus. Die beiden Kuratoren Bart Verschaffel und Sabine Taevernier benutzen diesen Umstand, um die Experimentierfreude Ensors zu unterstreichen - als Bindeglied zwischen den akademischen Malern und den Modernisten wie Edvard Munch, Claude Monet oder Odilon Redon.

Die Traditionalisten des 19. Jahrhunderts von David De Noter bis Frans Mortelmans gruppieren sich um das unbestrittene Zentrum Ensor herum. Durchblicke laden zum Vergleich von Gemälden ein. Es ist verblüffend zu sehen, dass damals erfolgreiche Maler wie Jean Robie oder Hubert Bellis ähnliche Arrangements aufgriffen, ohne aber etwa Ensors Mut nachzueifern, die Gegenstände in Licht und Farbe aufzulösen.

Magische Momente im „Theater der Dinge“

Andere versuchten sich genau wie er an abweichenden Bildkonstruktionen. Dazu gehören Individualisten wie Léon Spilliaert, Rik Wouters oder Gustave Van de Woestyne. Am Ende des Parcours trifft man auf Positionen, die den Bildraum des „Theaters der Dinge“ so stark erweitern, dass er kaum noch zu erkennen ist, etwa bei René Magritte.

Der Surrealist malte ein Paar Schuhe, die eine Metamorphose zu menschlichen Füßen durchmachen. 1955 stellte er auf dem Gemälde „Die Stimme des Absoluten“ nur eine einzige Rose dar. Sie ist eingefügt zwischen die Wörter „Une“ und „dans l’univers“. Was wohl Ensor von dieser irritierenden Wort-Bild-Akrobatik gehalten hätte?

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