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Uwe Tobias ist seit neun Jahren Teil des Querstadtein-Teams und führt Interessierte zu den Orten seines früheren Lebens auf der Straße.

© Julia Schmitz

„Draußen schlafen ist eine Kunst“: Stadtführer gibt Einblicke in die Obdachlosigkeit

Sieben Jahre lebte Uwe Tobias in Berlin auf der Straße. Seit 2013 führt er für den Verein Querstadtein Interessierte zu Schauplätzen seiner Lebensgeschichte.

„Hört auf zu klatschen, ick hab schon Gänsehaut!“ Uwe Tobias wischt sich eine Träne aus den Augenwinkeln und streicht sich verlegen sein T-Shirt glatt. Er hat es sich extra für diesen Tag bedrucken lassen: „1000te Tour“ steht in dicken schwarzen Buchstaben neben einem Foto von ihm. Dass er diese runde Zahl einmal erreichen würde, hätte er nicht geglaubt. „Als mich der Verein querstadtein 2013 fragte, ob ich Lust hätte, Führungen zu geben, wollte ich das nur für ein halbes Jahr machen“, erzählt er.

Mittlerweile ist er seit neun Jahren Teil des Teams und seine Tour „Draußen schlafen ist eine Kunst“ gehört zu jenen, die am häufigsten gebucht werden. Über 20.000 Menschen aller Altersgruppen hat der 63-Jährige bisher seine Lebensgeschichte erzählt. Und die sei keine Geschichte wie aus dem Märchenbuch, betont er.

Von 1991 bis 1998 hatte Uwe Tobias keinen festen Wohnsitz, schlief unter Brücken und auf Parkbänken. Im Rahmen der Führungen kehrt er mehrmals die Woche an die Schauplätze seiner Obdachlosigkeit zurück. Zum Beispiel an die Sandkrugbrücke zwischen Charité und Wirtschaftsministerium in Mitte.

Fluchtversuch aus der DDR

Die Brücke hat für ihn eine besondere Bedeutung. Nicht nur, weil sie über ein Jahr sein Zuhause war, sondern weil er als 22-Jähriger ganz in der Nähe einen Fluchtversuch aus der DDR unternommen hatte. „Eigentlich waren auf dem Friedhof hinter dem Ministerium, in dem sich früher das Regierungskrankenhaus der DDR befand, nie Grenzsoldaten. In dieser Nacht aber schon“, erzählt er. Sie nahmen ihn fest, er kam für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis.

Schon vorher hatte er dort einige Monate verbracht, weil er sich gegen das Regime aufgelehnt hatte. „Im Stasi-Verhör sagten sie mir, ich sei ein Geschwür am Arsch der sozialistischen Gesellschaft. Ich habe dann geantwortet, dass ich lieber drüben in der Gosse schlafe, als in diesem Land Trabant zu fahren“, sagt er. Fünf Jahre Berlin-Verbot und Arbeitsplatzbindung in Eisenhüttenstadt waren die Konsequenz.

Als er 1991 zurück in das nicht mehr geteilte Berlin kam, blieb er erstmal auf der Straße. Mit drei Freunden, die mittlerweile alle verstorben sind, zog er durch Mitte und übernachtete mal unter der Brücke, mal in einem ungenutzten Gebäude der Charité. Oder fuhr nach Potsdam, um den Tagessatz der Sozialhilfe abzuholen, der in Berlin nicht ausgezahlt wurde.

„Es wäre schön gewesen, wenn ich mir von dem Geld eine Wohnung hätte finanzieren können. Aber ich hatte damals zwei feste Freundinnen: Fräulein Pils und Fräulein Korn. Zwischen Bier und Schnaps ist nicht viel Luft und den Gedanken an eine Wohnung habe ich schnell wieder aufgegeben“, erzählt er.

Drei Flaschen Schnaps pro Tag

Nach sieben Jahren war Uwe Tobias am Tiefpunkt angekommen. Eine halbe Flasche Schnaps und sechs Flaschen Bier brauchte er, um morgens überhaupt aufstehen zu können; mindestens 24 Flaschen Bier und zwei Flaschen Korn folgten über den Tag. Dann fiel er eines Tages am Hohenzollernplatz die Treppe hinunter, brach sich das Sprunggelenk, kam ins Krankenhaus. Dort machte er zwar eine Entgiftung, wurde aber nach der Entlassung sofort rückfällig.

„In dem Moment hat bei mir im Kopf etwas Klick gemacht: Ich wollte auf einmal eine Therapie machen“, erzählt er. Der Verein Karuna vermittelte ihm einen Platz, danach kam er über die Berliner Stadtmission in ein Männerwohnheim und fand später eine Sozialwohnung, in der er noch heute lebt.

2013 hörte er von querstadtein. Der Verein hatte sich 2012 aus einer Gruppe von Ehrenamtlichen gegründet und ist mittlerweile zu einem kleinen Sozialunternehmen mit drei Festangestellten und zehn Stadtführer:innen gewachsen. Neben den Führungen zum Leben auf der Straße werden auch Rundgänge von Migrant:innen angeboten, die ihre Sicht auf die Stadt weitergeben. Für ihre Arbeit bekommen alle eine Übungsleiterpauschale ausgezahlt, die momentan bei 250 Euro pro Monat liegt.

„Ich sage, was ich denke“

Bei den ersten Touren zu den Orten seines Lebens auf der Straße habe er manchmal ganz schön schlucken müssen, erzählt Uwe Tobias. „Aber es ist meine Möglichkeit, dass Ganze nicht zu vergessen und sich trotzdem nicht von den Erinnerungen überwältigen zu lassen.“ Außerdem möchte er seinen Zuhörer:innen vermitteln, dass jeder Mensch, selbst wenn er aus gutem Elternhaus stammt, auf der Straße landen kann. In den Jahren der Obdachlosigkeit hat er vor allem gelernt, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen: „Ich sage, was ich denke. Und wenn ich etwas sage, dann mache ich das auch.“

Bis zum 10-jährigen Jubiläum des querstadtein e.V. im nächsten Jahr will er 1111 Touren geschafft haben. Vor Anfragen kann er sich bereits jetzt nicht retten, bis zu 15 Führungen gibt er im Monat, jede dauert fast zwei Stunden. Ein Blatt vor den Mund nehme er dabei nicht, sagt er: „Wenn man diese Führungen macht, muss man mit dem Kopf und dem Herzen dabei sein. Und das bin ich auch.“

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