„Last Call Berlin“: Leben in der Lärmzone von Tegel
Der Fotograf Marvin Systermans ist dorthin gegangen, wo es am lautesten ist: Wo die Flugzeuge den Menschen über die Köpfe donnern. Eine Fotoreportage.
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Marvin Systermans hatte kaum die Möbel seiner neuen Wohnung zurechtgerückt oder Tassen in die Schränke geräumt, da hatte ihn Berlin auch schon gepackt. Mit einem Thema! Der Neuankömmling war sozusagen mitten hineingefahren, als er vor zwei Jahren den Umzugswagen am Flughafen Tegel zurückgab. Statt schnell wieder zu verschwinden, sah sich der Fotograf aus Bremen neugierig um in jener Zone um den Airport, die auf Lärmkarten rot bis violett eingefärbt ist.
Systermans, heute 30 Jahre alt, wanderte mit der Kamera den Sommer über durch die Kleingärten unter der Einflugschneise, durch Wohnsiedlungen und Einkaufsstraßen. Violett, das heißt ein Schallpegel von 70 Dezibel oder mehr. „Wirklich wahnsinnig laut“, sagt er.
Bevor Corona den Flugverkehr lahmlegte, hatte Tegel Jahr für Jahr mehr Passagiere befördert. Ungefähr 300 000 Menschen sind in der Hauptstadtregion durch den krank machenden Lärm der Maschinen beeinträchtigt, rechnete die Umweltverwaltung im Jahr 2017 für den Flughafen vor. In der dunkelrot-violetten Umgebung wurden damals 2500 Anwohner gezählt.
Mit jedem verpatzten Eröffnungstermin für den neuen Hauptstadtairport ging in den belasteten Wohngebieten der Krach in eine neue Runde, oft gab es auch nachts wenig Ruhe.
Als Systermans um den Flughafen zog, lief gerade die Fußball-WM. Das ist noch zu erahnen auf einem Bild, das der Fotograf an der Straße 443 aufnahm, am östlichen Rand des Flugfeldes. Fast ungehindert wuchert allerlei Grün zwischen den Wohnblöcken, verloren dazwischen eine Kette mit Deutschlandwimpeln.
Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich die Bewohner in ihrem kleinen Gartenparadies beim Public Viewing vorzustellen. Ob sie sich angeschrien haben, um ihre Unterhaltungen fortzusetzen, während von oben wieder ein Flieger „reinbretterte“?
Kurt-Schumacher-Damm. Eine Hüpfburg mit Aufblaspalme vor dem Zaun, daneben eine Reihe leerer Klappstühle in Flamingopink. Im Himmel zieht ein Flieger steil nach oben, den Rumpf voller Menschen, die vielleicht auf dem Weg in ein echtes Urlaubsparadies waren.
Die Nachbarschaft der lauten Quartiere konnte sich günstiger amüsieren, auch in den kleinen Familienzirkussen, die regelmäßig in der Zone vor dem Zaun gastierten.
Zu den kostenlosen Vergnügungen der Gegend zählte der Blick auf die startenden und landenden Flugzeuge. Marvin Systermans hat Kinder und ganze Familien dabei beobachtet, aber auch die Szene der erwachsenen Planespotter, die sich vom Fotografen auf ihren mitgebrachten Leitern oder Stromkästen nicht gern beobachten ließen.
Die Flugzeuge sind allgegenwärtig in dieser Fotoserie. Systermans hat sie mit einer Handy-App für Flugbewegungen abgepasst. Im Fünf-Minuten-Takt dröhnen die Maschinen über den Kurt-Schumacher-Platz, während unten zwischen Blumenkästen am Imbiss Currywurst gegessen wird. Wer sich die Ohren zuhält, kann die Schatten der Jets auf dem Boden verfolgen.
Schwer hängt eine Maschine über den Gräbern des Nazareth-Friedhofs an der Blankestraße. Im Himmel über den Bootsstegen der Insel Eiswerder nimmt sich ein Ferienflieger dagegen schon etwas kleiner aus. Laut ist es immer noch.
Einmal erlaubt sich der Fotograf den Scherz, eine Taube mit ins Bild zu bringen. „Man meint unwillkürlich, der Vogel sei ein Flugzeug, da man dort die Gedanken an den Luftverkehr nicht loswird.“
Die Lärmzone im Norden Berlins dürfte Geschichte sein, wenn mit neunjähriger Verspätung am 31. Oktober endlich der Flughafen BER eröffnet und am 8. November die letzte Maschine in Tegel abhebt.
Mit der Schließung rückt auch ein Randgebiet unter den Verwertungsdruck des Berliner Immobilienmarkts. Marvin Systermans hat die kleine Welt festgehalten, ehe sie verschwindet.