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Polizisten öffnen die Tür dem Haus Rigaer 94 in Berlin-Friedrichshain.

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Berlin und andere Hotspots: Wie gefährlich ist der gewaltbereite Linksradikalismus?

Die Ausschreitungen in der Rigaer Straße erschüttern die Hauptstadt. Doch die Gewaltneigung radikaler Linker wächst nicht nur hier. Droht gar eine neue RAF?

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Zunächst wurde viel geredet. Die Anwälte der Bewohner des teilbesetzten Hauses in der Rigaer Straße 94 in Friedrichshain versuchten am Donnerstagmorgen noch zu verhindern, dass die Polizei in das Haus geht. Das Angebot der Bewohner: Sie lassen den vereidigten Brandschutzsachverständigen freiwillig rein – aber ohne Polizei. Für die Experten war das keine Option.

Mit eineinhalb Stunden Verspätung begann die Polizei um 9.30 Uhr, die erste Tür zu öffnen. An der zweiten Tür, die ebenfalls mit schwerem Gerät geöffnet werden musste, wurde ein Pulver-Feuerlöscher auf die Beamten entladen. Im Hof flogen Böller. 21 Beamte wurden verletzt, davon erlitten acht Atemwegsreizungen und 13 ein Knalltrauma.

Drei Stunden später konnte der Sachverständige ins Haus. Aus den Lautsprechern der Bewohner dröhnte „Cop Killer“. Die Brandschutzbegehung und der Polizeieinsatz wurden am frühen Donnerstagabend beendet. Demnach hat der Gutachter zwar Mängel festgestellt, diese seien jedoch „nicht so gravierend, dass ein sofortiges Handeln nötig ist“, sagte ein Polizeisprecher.

Warum eskaliert die Situation jetzt?

Der Brandschutz im Gebäude muss überprüft werden. Das geht in dem von Linksextremisten besetzten Haus nicht ohne die Polizei. Das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg ignorierte jahrelang Hinweise der Polizei auf Brandschutzmängel.

Dabei geht es etwa um die Frage, ob Rettungskräfte im Notfall ungehindert und schnell in das von den Bewohnern verbarrikadierte Haus kommen.

Zwar war eine Mitarbeiterin des Bezirksamts seit März drei Mal im Haus, um den Brandschutz zu prüfen. Doch sie ist keine vereidigte Sachverständige, auch die Gerichte hatten Zweifel.

Die Bewohner finden, dass der Senat, die Polizei und die Eigentümer für die Eskalation verantwortlich sind. Nach ihrer Ansicht erfolgt der Einsatz nur, weil sie den Gebäudekomplex als ihren Besitz, als autonome Zone im internationalen Kampf gegen das Kapital, gegen den Staat und Immobilieninvestoren betrachten.

Dabei ist die Polizei nur für den Bezirk tätig geworden, der erst widerwillig war und von den Gericht dazu gezwungen werden musste.

Wer sind die Täter und wie gefährlich sind sie?

Eskaliert wird vor allem von den Bewohnern selbst, sie sehen Gewalt als legitimes Mittel an, um die Rigaer 94 zu verteidigen. Die Sicherheitsbehörden sehen das Haus als Hotspot des militanten Linksextremismus – über Berlin hinaus. Die Bewohner sind bundesweit und in Europa vernetzt. Sie können auf ein breites Potenzial an Unterstützern zurückgreifen.

Wozu sie imstande sind, haben sie in den vergangenen Wochen oft gezeigt. Mehrere Autos brannten in der Stadt, auch die eines Brandschutzprüfers des Rigaer-94-Eigentümers. Mehrfach sind Polizei und Feuerwehr in der Rigaer Straße in einen Hinterhalt gelockt worden und erlebten einen Steinhagel. Wie ernst die Lage ist, zeigt auch, dass in der Nachbarschaft der Rigaer 94 am Donnerstag eine Schule, zwei Kitas und das Bezirksamt geschlossen blieben.

Die politischen Lager sind sich einig, dass die Rigaer Straße 94 eine große Gefahr ist. Mehr als 700 Straftaten zählte die Polizei dort 2020, die meisten werden dem Autonomen-Haus zugerechnet. Nachbarn, die sich kritisch äußern, werden schon mal drangsaliert. Am Mittwoch warfen rund 200 vermummte Autonome Steine auf Polizisten, teils von den Dächern. 63 Polizisten wurden verletzt, zwei davon schwer. Ermittelt wird wegen versuchten Totschlags, gefährlicher Körperverletzung und besonders schweren Landfriedensbruchs. In der Nacht zu Donnerstag wurden bei einem Immobilienunternehmen 20 Scheiben eingeworfen, daneben stand: „R94 bleibt“.

Warum wirkt der Staat so hilflos?

Auch die Hausbesetzer und Bewohner der Rigaer 94 haben Rechte. Für die Verfolgung von Straftätern in sogenannte linke Szeneobjekte gibt es sogar eine Anweisung der Polizeiführung, die gibt es für Treffpunkte von Islamisten und Rechtsextremisten nicht. Seit 2019 müssen Einsatzkräfte bei „Verfolgung auf frischer Tat“ einen Beamten des höheren Dienstes fragen, ob sie die Täter in ein linkes Szeneobjekt hinein verfolgen dürfen.

Wenn sie vor einer verschlossenen Haustür stehen, können sie nicht einfach ohne Durchsuchungsbeschluss hinein. Staatsanwälte sehen das anders: Wenn die Gefahr bestehe, dass Beweise vernichtet werden, könne die Tür gewaltsam geöffnet werden oder Beamte könnten über einen anderen Hof ins Haus gelangen. Realität ist: Polizisten werden in der Rigaer Straße immer wieder angegriffen – die Täter haben wenig zu befürchten.

Welche anderen Hotspots des Linksextremismus gibt es in Deutschland?

Neben Berlin sind vor allem Sachsen, Hamburg und Nordrhein-Westfalen stark von linksextremer Militanz betroffen. Das zeigt schon ein Blick auf die Bilanz des Bundeskriminalamts für 2020. In Berlin wurden 389 linksextremistische Gewalttaten registriert, das war fast eine Verdopplung im Vergleich zu 2019 (205 Delikte). Es folgt Sachsen mit einer ähnlich dramatischen Entwicklung. Die Polizei stellte 2020 insgesamt 230 linksextreme Gewalttaten fest, 2019 waren es 117. Noch härter ist der Anstieg in Hamburg. Im vergangenen Jahr verübten Linksextremisten 162 Gewalttaten, 2019 waren es 15. Nur in NRW gab es einen Rückgang. Die Polizei meldete für 2020 insgesamt 135 linksextreme Gewaltdelikte, 65 weniger als 2019.

Autonome demonstrieren in Leipzig für die Freilassung der Studentin Lina E., die wegen des Verdachts linksextreme Anschläge angeführt zu haben, in Untersuchungshaft sitzt.
Autonome demonstrieren in Leipzig für die Freilassung der Studentin Lina E., die wegen des Verdachts linksextreme Anschläge angeführt zu haben, in Untersuchungshaft sitzt.

© dpa

In Sachsen ist es vor allem die autonome Szene in Leipzig, die mit wachsender Militanz auffällt. Attackiert werden vor allem Polizei, Rechtsextremisten und Unternehmen der Immoblienbranche. Der Verfassungsschutz zählt 250 Autonome in der Messestadt, das ist deutlich mehr als die Hälfte der Autonomen im Freistaat insgesamt (rund 400). Ein weiteres Indiz für die Radikalisierung ist die hohe Zahl der Brandanschläge in Leipzig. Insgesamt 28 wurden hier im vergangenen Jahr verübt, weitere acht im restlichen Sachsen.

Die Hamburger Szene gilt als besonders gewaltbereit, was sie auch beim G20-Gipfel 2017 unter Beweis stellte.
Die Hamburger Szene gilt als besonders gewaltbereit, was sie auch beim G20-Gipfel 2017 unter Beweis stellte.

© picture alliance / Markus Scholz

In Hamburg spricht der Verfassungsschutz von insgesamt 1270 Linksextremisten. Der Anteil der Gewaltorientierten ist mit 940 enorm hoch, das sind mehr als 70 Prozent der Szeneangehörigen. In Nordrhein-Westfalen ist 2020 das Potenzial der gewaltorientierten Linksextremen leicht auf 1020 Personen gewachsen, das sind etwa 40 Prozent des gesamten Spektrums. Schwerpunkt der militanten Aktionen sind seit Jahren schon Angriffe im Hambacher Forst auf Polizei und Mitarbeiter des Energiekonzerns RWE, der den Wald für das nahe Braunkohlerevier abbaggern will.

Bundesweit wuchs die linksextreme Szene auf 34 300 Personen. Das sind 800 mehr als 2019. Die Zahl der gewaltorientieren Linksextremisten stieg um 400 auf 9600. Dazu passt, dass die Polizei im vergangenen Jahr soviele linksextreme und sonstige linke Straftaten registriert hat wie nie zuvor seit 2001.

Das BKA meldete 10.971 Delikte, das ist ein Anstieg um mehr als 1000 Straftaten gegenüber 2019. Bei den Gewalttaten war die Zunahme noch deutlich härter. In der Bilanz des BKA stehen 1526 Delikte und damit 45 Prozent mehr als 2019.

Wie entwickelt sich die Szene?

Ein Teil der Szene radikalisiert sich weiter. Die Neigung zu Gewalt wird stärker, allerdings ziehen da auch nicht alle Autonome mit. Doch die Sicherheitsbehörden beobachten, dass sich harte Kerne bilden, die auch von anderen Linksextremisten nur noch schwer zu erreichen sind. Das Bundesamt für Verfassungsschutz warnt im Jahresbericht 2020, „kleine, konspirativ agierende Gruppen besonders gewaltbereiter Linksextremisten schotten sich vom Rest der Szene ab und begehen eigene Tatserien“.

Diese Entwicklungen zeigten sich „insbesondere in den Schwerpunktregionen Leipzig, Berlin und Hamburg“, heißt es. Aber auch in Bayern, Bremen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Thüringen lägen „Anhaltspunkte für eine zunehmende Radikalisierung in Teilen des gewaltorientierten Spektrums vor“.

Zwei Beispiele. Eine Truppe Autonomer aus Leipzig hat von 2018 bis 2020 mehrmals Rechtsextremisten in Sachsen und Thüringen gezielt attackiert, bis hin zu Schlägen mit Hämmern. Die angegriffenen Personen erlitten zum Teil schwere Verletzungen.

Die Bundesanwaltschaft ermittelt gegen vier mutmaßliche Täter wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Die Gruppe sei sogar noch größer, sagen Sicherheitskreise. Die mutmaßliche Anführerin Lina E. sitzt in Untersuchungshaft.

Exemplarisch für die Verhärtung in Teilen der linksextremen Szene sind zudem die militanten Proteste in Hessen gegen den Ausbau der Autobahn 49 im Dannenröder Forst. Das Bundesamt für Verfassungsschutz berichtet, rund um den Beginn der Rodungsarbeiten am 1. Oktober 2020 hätten sich Straftaten und „militante Aktionen“ gehäuft.

Neben zunächst kaum sichtbaren Stahlseilen, die zum Beispiel auf Körperhöhe der berittenen Polizei über die Wege gespannt waren, wurden auch nach oben gerichtete Stahlspitzen im Boden vergraben.

Aus einem Bericht des Verfassungsschutzes

„Während der Räumung der Barrikaden, Baum- und Bodenstrukturen sowie der Auflösung der Besetzerszene im Wald kam es immer wieder zu gewaltsamen Angriffen auf die Arbeiter und die eingesetzten Polizeikräfte“, heißt es. „Diese wurden regelmäßig mit Pyrotechnik und verschiedenen Geschossen attackiert. Im Wald wurden Depots mit Zwillen, Stahlkugeln und Pyrotechnik gefunden sowie zahlreiche Fallen entdeckt. Neben zunächst kaum sichtbaren Stahlseilen, die zum Beispiel auf Körperhöhe der berittenen Polizei über die Wege gespannt waren, wurden auch nach oben gerichtete Stahlspitzen im Boden vergraben. Hinzu kamen Sabotageakte und Brandstiftungen an Baumaschinen, gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr durch das Besetzen von Autobahnbrücken und Sachbeschädigungen am Eigentum Unbeteiligter.“

Manche fürchten eine neue RAF. Ist das realistisch?

Die Tendenz zu Terrorattacken zumindest gegen einzelne Personen wird offenbar stärker. Das BfV warnt, „die Angriffe verschieben sich von einer institutionellen auf eine persönliche Ebene. Opfer werden gezielt ausgesucht und mit hoher Aggressivität angegriffen. Immer häufiger werden auch schwere Körperverletzungen bis hin zum Tod der Opfer als mögliche Folge in Kauf genommen.“

In Sicherheitskreisen wird ergänzt, Linksextremisten übten inzwischen Kampfsport ähnlich wie Neonazis. Dennoch wird eher eine Zunahme von sogenanntem Feierabendterrorismus befürchtet als eine Neuauflage der professionell agierenden Mörderbande RAF.

Diese verübte gezielt Anschläge mit Schusswaffen und Bomben, außerdem hatte sie über Deutschland hinaus für ihre Attentate eine enorme Logistik aufgebaut. Und die Mitglieder der RAF lebten im Untergrund.

Soweit seien die militanten Linksextremisten von heute noch nicht, sagen Sicherheitsexperten. Doch die vielen Brandanschläge und brutalen körperlichen Attacken seien zumindest eine Vorstufe von Terror.

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