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Noreen Thiel will ein Vorbild für junge Menschen sein. Ihr Claim: „Man ist nie zu jung, um die besten Ideen zu haben.“

© Johannes James Zabel

Bundestagswahlkampf mit Depressionen: Noreen Thiels großes Selbstexperiment

Kontakt mit Menschen? Nicht ihr Ding. Hass im Netz? Macht ihr zu schaffen. Trotzdem will Noreen Thiel in den Bundestag, mit 18 Jahren und Depressionen.

Zielstrebig marschiert Noreen Thiel die Landsberger Allee entlang, den Blick nach vorne gerichtet. Regen durchtränkt den Stoff ihrer dünnen Bomberjacke und der schwarzen Schlaghose. Bundestagskandidatin Thiel sucht sich selbst: in Schwarz-Weiß und Übergröße. Irgendwo auf den knapp zwei Kilometern zwischen Don Xuan Center und Ikea muss ihr Wahlplakat stehen.

Zwischen den Kanzlerkandidaten Scholz und Baerbock und Thiels Parteivorsitzendem Christian Lindner von der FDP soll auf zweieinhalb Metern Höhe und dreieinhalb Metern Breite stehen: „Wir müssen reden! Über psychische Gesundheit.“ Thiels Herzensthema. Sie weiß, wovon sie spricht.

Mit 15 Jahren wurden ihr eine Essstörung, mittelschwere Depressionen mit Hang zur Selbstverletzung und eine Angststörung diagnostiziert. Als Auslöser nennt Thiel heute Schicksalsschläge in der späten Kindheit, zwei Jahre war sie in Therapie. Auch heute noch fürchtet sie den Kontakt mit Menschen, braucht Auszeiten, Stress holt manchmal noch depressive Symptome hervor. Jetzt kandidiert sie für den Bundestag. Als jüngste Bewerberin der diesjährigen Wahl.

Das ist ärgerlich. Das ist sehr ärgerlich.

Noreen Thiel

„Das kann doch nicht sein!“, Thiel redet mehr mit sich selbst als mit ihrem Freund James Zabel, der sie an diesem wechselhaften Samstagmittag, eine Woche vor der Bundestagswahl, begleitet. Zabel ist auch Thiels Pressesprecher, Fotograf, Kampagnendesigner, Wahlkampfassistent. Und moralischer Unterstützer.

300 Euro hat Thiel allein für den Standort des Plakats bezahlt. Druck und Plakatierung kosten etwa noch mal so viel. Nicht wenig Geld für eine 18-Jährige. Nicht zu stemmen ohne die Spenden, die sie durch Aufrufe in sozialen Medien gesammelt hat. An der Landesberger Allee Ecke Siegfriedstraße ragen zwei Werbetafeln zwischen Büschen und Straßenbäumen hervor: links für E-Zigaretten, rechts für Sportbekleidung.

Thiel checkt auf dem Handy noch mal ihren E-Mail-Verlauf mit dem Plakatflächenanbieter. Das muss die Stelle sein. Sie guckt niedergeschlagen auf die Fläche, wo sie abgebildet sein sollte: Noreen Thiel, Direktkandidatin für die FDP in Lichtenberg.

Eigentlich sollte Thiel vor ihrem Wahlplakat stehen, doch es kam anders.
Eigentlich sollte Thiel vor ihrem Wahlplakat stehen, doch es kam anders.

© Maria Kotsev/TSP

Das Zischen der über den nassen Asphalt bretternden Autos wirkt plötzlich noch lauter. Thiel starrt vor ihre Füße, presst die Lippen zusammen, muss sich erst mal sammeln. Dann sagt sie: „Das ist ärgerlich. Das ist sehr ärgerlich.“

Vereinbart war, dass ihr Plakat vom 10. bis 20. September hängt, doch wir haben den 18. September. Und Thiel hatte bisher keine Zeit gehabt, sich ihr zweites Großplakat, ausgerechnet das zum Thema Mental Health, mit eigenen Augen anzusehen, geschweige denn Fotos davon für ihren Social-Media-Auftritt zu machen.

Zwei Jobs, ein Studium und die Bundestagskandidatur: Wie schafft Noreen Thiel das?

Das ist nicht der erste Dämpfer, den der Wahlkampf für Noreen Thiel bereithält. Shitstorms auf den sozialen Medien. Beschmierte Wahlplakate. Hasskommentare, weil sie „zu jung“, „zu depressiv“ für die Politik sei. Und Tage, an denen nichts mehr ging. Weil ihr der Hass aus dem Internet psychisch zusetzte. Weil der Stress und die Arbeitsbelastung ihren Körper niederzwangen und sie deshalb Podiumsdiskussionen absagen und Pressetermine abbrechen musste. Weil ein Teil ihrer Vergangenheit sie einholte, den sie dachte, hinter sich gelassen zu haben.

Ein Bundestagswahlkampf im Speziellen und der Politikbetrieb im Allgemeinen erfordern Disziplin und Durchhaltevermögen. Viel Arbeit, wenig Freizeit, ständig auf Abruf sein und im Zweifel wenig Schlaf – Politikern wird nicht gerade nachgesagt, ein gesundes Leben zu führen. Wer bei Verhandlungen am längsten durchhält und am wenigsten Schlaf braucht, erntet Bewunderung.

Krankheiten, besonders psychische, scheinen im Politikbetrieb keinen Platz zu haben. Gerade deshalb fällt Noreen Thiel auf.

Thiel wird so stark nachgefragt, dass „gestandene Parteisoldaten aus der FDP durchaus neidisch“ auf sie sind

...heißt es aus der Partei.

Sie passt nicht ins Bild. Das will sie ändern und mit Klischees über psychisch kranke Menschen aufräumen. Damit, dass Depressive den ganzen Tag im Bett liegen und nichts auf die Reihe bekommen würden, etwa. Mit ihren zwei Jobs – bei einem FDP-Abgeordneten und als Social-Media-Managerin der Jungen Liberalen –, ihrem Marketingstudium und ihrer Bundestagskandidatur kommt Thiel nicht selten auf 18 Stunden Arbeit am Tag.

Vor Presseanfragen kann sie sich seit dem Frühjahr kaum retten, gibt sogar Medien aus Österreich, der Schweiz und Hongkong Interviews. Thiel wird so stark nachgefragt, dass „gestandene Parteisoldaten aus der FDP durchaus neidisch“ auf sie sind, wie man aus der Partei hört.

Das neue Polit-Phänomen Noreen Thiel: In ihrer Schwäche liegt die Kraft.

Auch auf den sozialen Medien hat Thiel sich einen Namen gemacht. Auf Twitter folgen ihr mittlerweile etwas über 11000 Accounts, auf Instagram über 6000. Doch die ganze Zeit im Scheinwerferlicht zu stehen, heißt auch, funktionieren zu müssen. Wie lässt sich der Druck einer Bundestagskandidatur mit einer Depression bewältigen? Wir haben sie fünf Wochen vor der Wahl begleitet.

11. AUGUST 2021

Zweieinhalb Stunden vor dem ersten geplanten Treffen mit dem Tagesspiegel schreibt Thiel eine SMS: „Hey! Ich weiß, das ist sehr spontan, aber könnten wir unser Treffen um eine Woche verschieben? Ich bräuchte heute etwas Selfcare.“ Nervöses Smiley.

Sie wird später erzählen, dass solche Tage, an denen sie sich niedergeschlagen und schlapp fühlt, ihr nur noch selten widerfahren, drei oder vier Mal im Jahr. Und dafür sei sie „sehr, sehr dankbar“. Wenn es aber doch passiert, „dann kannst du dich nicht zu Terminen zwingen, wo du vorgeben musst, dass alles gut ist“.

Dass ihre Depression sie an diesem Tag einholt, hat einen bestimmten Grund. Zwei Tage nachdem sie ihre Wahlplakate in Lichtenberg aufgehängt hatte, bekam sie deswegen viele spöttische bis beleidigende Bemerkungen auf Twitter zu hören.

Nutzer:innen schrieben Kommentare wie: „Es ist ja erfreulich, dass einige in der FDP psychische Krankheiten als Problem erkannt haben. Es wäre allerdings hilfreich, wenn ihr erkennen würdet, dass Leistungsdruck, Zukunftsängste & Entsolidarisierung im Kapitalismus kein Zufall sind.“

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Andere wiederum warfen Thiel vor, den Claim der Antirassismusbewegung „Black Lives Matter“ für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, indem sie Wahlwerbung mit dem Spruch „Mental Health Matters“ für sich macht. Ein User schreibt von „verstecktem Rassismus“ und einer „typisch neoliberalen Herrschaftsgeste. Widerlich.“ Thiel nennt die Tweets einen „megafetten Shitstorm“. Ihr Plakat mag sie trotzdem.

2. SEPTEMBER 2021

Noreen Thiel sitzt im Schneidersitz auf einer Couch zwischen pinken Kissen und einem aufblasbaren Gummi-Einhorn und nippt an einer Cola. Dann tippt sie weiter in ihr Handy. Die anderen Jungliberalen bereiten auf der anderen Seite des Raums an ihren Macbooks den Live-Stream vor. Thiel ist zu Gast in der „Streaming-WG“ der Julis, der Jugendorganisation der FDP – eine Art Filmstudio in einem Gewerbebau in Mitte.

Noreen Thiel in der „Streaming-WG“ der Jungliberalen in Berlin
Noreen Thiel in der „Streaming-WG“ der Jungliberalen in Berlin

© Maria Kotsev/TSP

Gleich beginnt eine Diskussion zum Thema Mental Health, die auf der sozialen Plattform Twitch übertragen wird. Die Formatreihe soll die politischen Inhalte der Julis in Wohnzimmeratmosphäre vermitteln.

Thiel trägt ihre Haare zu einem strengen Zopf gebunden. Das Mikrofonkabel muss noch unter ihrem weißen Rollkragenpullover versteckt werden. Eine Jungliberale hilft ihr dabei. Gleich noch etwas das Gesicht abpudern. „Du willst doch nicht glänzen“, sagt sie zu Thiel.

Vor dem Livestream noch schnell das Gesicht abpudern.
Vor dem Livestream noch schnell das Gesicht abpudern.

© Maria Kotsev/TSP

Ob sie aufgeregt ist? Nein, beim Thema Mental Health kenne sie sich aus, von den Julis sind zudem keine kritischen Fragen zu erwarten. Die Jugendorganisation war ihr erster Berührungspunkt mit Politik, ist ihre politische Heimat.

Aufgewachsen ist Thiel in der Lausitz und in Baden-Württemberg. Ihr Vater fühlte sich im Süden wohler, ihre Mutter in Brandenburg. Also zogen sie häufig um, später noch mal nach der Trennung ihrer Eltern. Ihr Abitur machte Thiel in Cottbus. Dort trat sie auch den Julis bei, denn sie wollte etwas am Bildungssystem in Deutschland ändern. Die vielen Umzüge und verschiedenen Schulen, die sie von innen gesehen hatte, brachten sie schon als Teenager zu der Überzeugung, dass der Bildungsföderalismus abgeschafft gehöre.

Erkältung, Migräne und ein abgebrochener Pressetermin

An diesem Donnerstag hat Noreen Thiel einen Ritt durch Berlin hinter sich, Marzahn – Mitte – Marzahn – trotz Bahnstreik. Thiel arbeitet beim FDP-Bundestagsabgeordneten Jens Brandenburg und kümmert sich dort vor allem um dessen Social-Media-Auftritt. Dann folgt eine Odyssee nach Marzahn, wo sie wohnt und ein Radiointerview am Telefon gibt. Das unterwegs zu machen, käme für Thiel nicht infrage: zu unruhig die Umgebung, zu laut, eben nicht ungestört.

Schon wenige Stunden später wird sie von den Julis in einem Hochhaus zwischen Askanischem und Potsdamer Platz, Standort der Streaming-WG, erwartet. „Gerade ist es sehr stressig. Deswegen dachte sich mein Körper letzte Woche: Nein, wir werden jetzt krank“, sagt sie.

Noreen Thiel im Gespräch mit Kai Lanz von „krisenchat“.
Noreen Thiel im Gespräch mit Kai Lanz von „krisenchat“.

© Maria Kotsev/TSP

Ein Interview mit einem Journalisten des Online-Magazins „jetzt.de“ musste sie frühzeitig abbrechen. „Das tat mir echt leid, weil er extra aus München angereist kam“, sagt Thiel. Die darauffolgenden drei Tage lag sie mit einer Erkältung und Migräne im Bett.

Doch jetzt funktioniert Thiel wieder. Sie witzelt mit den anderen Julis, erzählt mit lauter Stimme, wie sehr sie es mag, im Wahlkampf Flyer verteilen zu gehen.

Noreen Thiel verteilt gern Flyer. Mit den Anwohnern zu reden, will sie aber möglichst vermeiden.
Noreen Thiel verteilt gern Flyer. Mit den Anwohnern zu reden, will sie aber möglichst vermeiden.

© Maria Kotsev/TSP

Oder dass sie noch nie einen Club von innen gesehen hat. „Echt?“ – „Ja, aber ich hasse feiern auch.“ – „Was machst du dann in deiner Freizeit?“ – „Ich bin gerne zu Hause. Wirklich jetzt. Ich bin ein Couch-Potatoe, ich hasse es, feiern zu gehen. Ich trinke auch keinen Alkohol.“

Einmal besuchte sie ein Konzert, das Lollapalooza-Festival, erzählt sie. Für eine Künstlerin: Billie Eilish. Thiel ist großer Eilish-Fan, nicht zuletzt weil die Sängerin auch offen über ihre Depressionen spricht. Nach dem Auftritt musste Thiel schnell weg, sie bekam Platzangst. Sie hat noch andere Ängste: vor OPs, Nadeln, vor dem offenen Meer und sozialen Interaktionen.

Dann machen dich alle fertig.

sagte Noreen Thiels Therapeut zu ihr.

Doch gerade letztere muss sie jeden Tag überwinden. Thiel will allen, die ihr sagten, sie könne nicht in vorderer Reihe Politik machen, beweisen, dass sie es doch kann. Ihrem Therapeuten zum Beispiel. Der ihr riet, nicht offen über ihre Krankheit zu sprechen, wenn sie in die Politik wolle. „Die machen dich alle fertig.“ „Na, dann machen die mich eben fertig“, dachte sich Thiel.

Sie will ein Vorbild sein für andere junge Menschen, ihnen zeigen, dass Politik nicht langweilig sein muss. Aber ihre Kandidatur ist auch ein Selbstexperiment, wie sie sagt.

Lernen wir gerade einen neuen Typ Politiker:in kennen?

Thiel könnte zur ersten Generation eines neuen Politiker:innentyps gehören: meist weiblich, jung und ohne den Anspruch der Makellosigkeit. Sie gehören einer Generation an, die größtenteils mit sozialen Medien aufgewachsen ist und sich nicht schämt, Privates öffentlich zu machen.

Dazu gehört Diana Kinnert, 30, von der CDU, die über ihre Depression spricht und ein Buch über Einsamkeit geschrieben hat. Oder Caroline Lünenschloss, 28, CDU-Bundestagskandidatin aus Wuppertal. Sie hatte während ihres Abiturs Depressionen. Oder Grünen-Politiker Christopher Lauer, der mehrere Therapien gemacht hat. Oder Ex-Juso-Chef Kevin Kühnert, der die hohe Arbeitsbelastung in der Politik thematisiert.

Nach zwei Jahren Therapie hat Thiel gelernt, mit ihren Ängsten umzugehen, mit ihrer Depression und Essstörung. „Ich habe erst gegen mich selbst gekämpft.“ Ihrem Therapeuten ist sie dankbar dafür, „dass ich stabil genug bin, darüber zu sprechen, ohne zu heulen. Dass ich stabil genug bin, mein Leben zu beschreiten.“

Ich hatte Glück, ich musste nur zwei Monate auf einen Therapieplatz warten.

Noreen Thiel

Mit 13 Jahren hatte Thiel Burn-out-Erscheinungen, wie sie beschreibt, um ihre Symptomatik auch jenen zu erklären, die mit dem Überbegriff „Depression“ nicht viel anfangen können. Sie fühlte sich leer, kraftlos. Wusste nicht, was ihr Spaß macht, hatte lebensmüde Gedanken. Aufgrund ihrer Essstörung war sie sehr dünn, musste deshalb mit ihrem Hobby Fußball aufhören. Zu groß war die Verletzungsgefahr.

Eines Tages erzählte sie ihrem Hausarzt von ihren Symptomen, er überwies sie in eine psychotherapeutische Praxis. „Ich hatte Glück, ich musste nur zwei Monate warten. Aber es war lange“, sagt Thiel während des Live-Streams. Deshalb setzt sie sich nun für mehr Therapieplätze und eine bessere Therapeutenausbildung ein.

Selbstbestimmt und zielstrebig: Ihren Wahlkampf führt Thiel in Eigenregie.

Außerdem fordert Thiel – das erzählt sie bei jeder Gelegenheit – eine Aufklärungskampagne für psychische Krankheiten im Stil der Organspendekampagne. „Ich will, dass die Stadt zuplakatiert wird und man um das Thema nicht herumkommt.“

Manchmal komme sie sich komisch vor, dass sie so häufig dasselbe fordere. Aber vermutlich falle das nur ihr selbst auf. „Das ist wie in der Werbung. Du musst acht Mal mit etwas konfrontiert werden, um es dir zu merken.“ Thiel studiert Marketingkommunikation an der privaten Berlin School of Design and Communication. Das Studium hilft ihr nun beim Bewerben ihrer eigenen Person.

Wie bei ihrer Wahlkampagne, so scheint Thiel auch im Studium sehr zielstrebig zu sein. Mit ihrem Freund James Zabel, der denselben Studiengang abgeschlossen hat, vergleicht sie nur halb scherzhaft ihre Noten. 1,3 in Communication Science und BWL. Nächstes Mal wolle sie ihre Projektarbeit allein und nicht in der Gruppe erledigen. Gruppenarbeiten möge sie nicht, weil die Abstimmung mit den anderen so kompliziert sei.

Arbeitsprozess. Thiel und ihr Freund bauen Grafiken für Thiels Facebook-Seite.
Arbeitsprozess. Thiel und ihr Freund bauen Grafiken für Thiels Facebook-Seite.

© Maria Kotsev/TSP

Ähnlich führt Thiel auch ihren Wahlkampf. Der Einzige, der ein Mitspracherecht hat, ist ihr Freund. Doch Thiel hält die Vetokarte immer griffbereit. Zum Beispiel, wenn sie Grafiken für ihre Social-Media-Auftritte bauen. Dann sitzt Zabel vor zwei Computerbildschirmen und bastelt in Photoshop Bilder von Thiel mit Wahlsprüchen. Sie sitzt hinter ihm und kommentiert: „Nein, nicht dieses Bild.“ „Das muss linksbündig.“ „Nicht so nah heranzoomen.“ „Das sieht blöd aus.“

Ob Thiel gut darin ist, Kompromisse zu machen? „An sich bin ich schlecht darin, gerade bei eigenen Projekten bin ich sehr verkopft.“

Die FDP und der Berliner Bezirk Lichtenberg: kein Match.

Laura Schieritz nennt Thiels Art „unkonventionell“. Schieritz vertritt die Julis im FDP-Bundesvorstand und kandidiert in Cottbus selbst für den Bundestag. Die beiden kennen sich seit beinahe fünf Jahren, Schieritz sagt, Thiel sei wie eine kleine Schwester für sie. Die Kandidatur sei wichtig für Thiels persönliche Entwicklung, sagt Schieritz – aber auch hart. „Dass ihre Wahlplakate zerstört wurden oder dass sie auf Social Media angefeindet wird, setzt ihr zu.“

Eine echte Chance auf ein Bundestagsmandat hat sie auch nicht. Prognosen sehen in Lichtenberg Gesine Lötzsch von der Linken vorne, wie bei den vergangenen fünf Wahlen. In Lichtenberg erfreut sich die FDP keiner großen Beliebtheit.

Genau das sieht Gesine Lötzsch als größtes Manko an Noreen Thiels Kandidatur. „Thiel hat schon ein Alleinstellungsmerkmal, vor allem durch ihr Alter“, sagt sie am Telefon. „Ich denke, ihr Ergebnis wird eher was mit der FDP zu tun haben und weniger mit Frau Thiel als Person oder mit ihrem Engagement.“

Die FDP trete in Lichtenberg kaum in Erscheinung, sei nicht einmal in der BVV. Lötzsch fragt sich, was Thiel bei der FDP will: „Die FDP ist eher die Ellbogenpartei im Parlament. Aber das muss natürlich jeder für sich selbst wissen, inwiefern man vielleicht auch versucht, die Partei von innen zu verändern.“ Für die Außenwirkung ihrer Partei ist Thiel allemal wichtig, findet Said D. Werner. Er betreut junge FDP-Bundestagskandidat:innen im Wahlkampf. Thiel hole durch ihren Wahlkampf, den sie fast ausschließlich auf Social Media führt, „junge Leute ab, die sich heutzutage nicht mehr in Parteien politisieren“.

10. SEPTEMBER 2021

Am 10. September ist Suicide Prevention Day. Thiel twittert: „Für mich sind Suizid und psychische Gesundheit sehr persönliche Themen. Trotzdem will ich offen darüber reden, damit sie nicht mehr (politisch) unter den Teppich gekehrt werden, sondern sich etwas ändert.“ Sie teilt die Nummer der Telefonseelsorge, 08001110111.

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Zwei Stunden vorher sitzt Thiel mit ihrem Freund vor einem Café in Berlin-Mitte. Die beiden lassen den bisherigen Wahlkampf Revue passieren, während sie Matcha-Drinks schlürfen und Waffeln aus Croissantteig essen. Ein koreanischer Essenstrend, der es nach Mitte geschafft hat.

Thiel und ihr Freund sind große Südkorea-Fans, spätestens seit Thiel im vergangenen Jahr die koreanische Pop-Band Blackpink entdeckte. Wenn Thiel von K-Pop erzählt – so heißt das Musikgenre kurz –, redet sie schneller, grinst. Wenn bei ihr zu Hause K-Pop läuft, dann singt und rappt sie mit.

Neuerscheinungen ihrer liebsten K-Pop-Künstler:innen verfolgen Thiel und ihr Freund immer aufgeregt.
Neuerscheinungen ihrer liebsten K-Pop-Künstler:innen verfolgen Thiel und ihr Freund immer aufgeregt.

© Maria Kotsev/TSP

Dann sieht man nicht, dass Thiel vor vier Jahren nicht gedacht hätte, ihren 18. Geburtstag zu erleben. Geschweige denn, dass sie sich für ein Bundestagsmandat bewerben würde. Gerade ihre Kandidatur und ihr politisches Engagement haben ihr aber auch geholfen, Fortschritte zu machen. Jetzt muss sie vor Menschen sprechen und – vor allem – mit Menschen sprechen.

15. SEPTEMBER 2021

Noreen Thiel verliert über Nacht ihre Stimme, es plagen sie Halsschmerzen. Sie muss eine Diskussion mit Schülerinnen und Schülern aus Lichtenberg absagen. Es wäre einer der ersten Termine gewesen, an denen Thiel direkt mit Bewohnern ihres Wahlkreises in Kontakt gekommen wäre. Im Nachhinein wird sie sagen, ihre Ärztin hätte ihr Stress als Ursache attestiert. Eineinhalb Wochen vor der Wahl sendet Thiels Körper ihr ein Warnsignal.

17. SEPTEMBER 2021

Am Freitagmorgen betritt Noreen Thiel zum ersten Mal seit ihrem Abitur vor einem Jahr wieder eine Schule. „Mal gucken, ob die Stimme hält“, sagt sie, als sie durch den Eingang der Manfred-von-Ardenne-Gymnasiums in Alt-Hohenschönhausen geht. In der Aula sitzt sie vor Siebt- und Achtklässlern, an der Seite von jungen Vertreter:innen der anderen Parteien. Mit ihrer Jacke, die mit dem Logo der Playstation-Konsole bestickt ist, kann sie bei manchen Teenagern auf den ersten Blick punkten.

Ein Kichern und ein leichtes Raunen gehen durch die Reihen, als Thiel sich vorstellt: „Ich bin Noreen, ich bin 18 Jahre alt.“ Ihre Stimme klingt dünn, das Mikrofon funktioniert zeitverzögert, Thiel muss neu ansetzen. Jedes Mal bevor sie anfängt zu sprechen, checkt sie das Mikro, sagt etwas wie „Na? Funktioniert es?“.

Noreen Thiel auf einem Podium an einem Lichtenberger Gymnasium.
Noreen Thiel auf einem Podium an einem Lichtenberger Gymnasium.

© Maria Kotsev//TSP

Thiel guckt während der Redebeiträge der anderen Kandidaten mal aufs Handy, mal blickt sie interessiert zu ihren Mitdiskutanten. Die Moderator:innen, eine Schülerin und ein Schüler aus der Oberstufe, sprechen die anderen Kandidaten häufiger direkt an. In Fragerunden, die „alle Kandidaten“ adressieren, wird Thiel auch mal vergessen. Sie meldet sich aber auch nicht zu Wort.

Doch die nächste Frage geht an die FDP: Wie soll Wohnen ohne Mietendeckel bezahlbar bleiben? Thiel antwortet nach einem kurzen Mikrocheck: „Aufbauen.“ Wieder geht Gemurmel durch die Reihen. „Berlin ist im internationalen Vergleich eine sehr, sehr gering bebaute Stadt. Berlin ist sehr tief, weil wir eine Traufhöhe haben, das heißt, es darf nur bis zu einer bestimmten Höhe gebaut werden.“

Nein, das ist voll das Klischee!

Noreen Thiel, verteidigt die FDP.

Die müsse man erhöhen, gar abschaffen. „Und, natürlich, je mehr Wohnraum du hast, desto mehr kannst du die Nachfrage bedienen. Das ist das klassische Ding von Angebot und Nachfrage. So könnte man dem Problem entgehen, dass es an Wohnraum mangelt.“

Stille. Thiel guckt in Richtung Moderatoren. Sie legt nach: „Ich habe das selbst erlebt, ich habe vor einem Jahr eine Wohnung in Berlin gesucht… ja.“

„Also zusammengefasst: Der freie Markt regelt das alles“, entgegnet der Moderator ihr.

Er will zur nächsten Frage übergehen, als Thiel ihn energisch unterbricht. „Nein, das ist voll das Klischee!“ Die SPD-Kandidatin feixt, der Grünen-Kandidat murmelt spöttisch etwas in ihre Richtung. „Was heißt denn ,der freie Markt regelt das‘? Natürlich muss der Staat eingreifen und sagen, wir bauen auf. Das kann der Markt nicht selbst entscheiden.“ Noreen Thiel hat ihre Stimme wiedergefunden.

Thiel beherrscht die Kunst, mit Rückschlägen umzugehen

Doch wer Thiel am Wahlsonntag eine Stimme geben will, wählt nicht Noreen Thiel. Sondern Lina Thiel. Noreen, das ist ihr zweiter Vorname. Ihren ersten, Lina, benutzt sie nicht mehr, spricht ihn auch nicht aus.

Zwar nennen ihre Mutter und ihre Oma sie noch so, doch seit ihrem 13. Lebensjahr stellt sie nicht nur noch als Noreen vor, damals begab sie sich zum ersten Mal in Behandlung und fing bei den Jungliberalen an.

„Das war für mich ein Abschluss mit allem, was für mich schlecht war. Ich hatte das Gefühl, bei den Julis konnte ich mit dem neuen Namen halbwegs neu anfangen.“ Doch nun steht ihr alter Name auf den Wahlzetteln. Sie hat erst davon erfahren, als die Unterlagen schon im Druck waren. Das schmerzt sie. Aber mit Schmerzen, und wie man mit ihnen umgeht, kennt sie sich aus.

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