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Viele Berliner Schulen haben mittlerweile ukrainische Kinder aufgenommen.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS/ Markus Schreiber

Willkommensklassen in Berlin: Lohnt sich der Neustart ins deutsche Schulsystem?

Das Berliner Dreilinden-Gymnasium hat 28 ukrainische Schüler aufgenommen. Viele sind unsicher, ob sie sich noch um den Fernunterricht aus der Heimat kümmern sollen.

Was Tausenden von ukrainischen Flüchtlingskindern in Berlin noch bevorsteht, hat Artem, 13 Jahre und Klassensprecher am Dreilinden-Gymnasium in Steglitz-Zehlendorf, schon durchlebt. 2015, ein Jahr nach der Krim-Annexion, kam der aus der Ukraine stammende Schüler mit seiner Familie nach Berlin, lebte zunächst in einer Flüchtlingsunterkunft, lernte Deutsch in einer Willkommensklasse und besuchte unterschiedliche Schulen bis zu seinem Wechseln aufs Gymnasium.

Für den Schulleiter, Jens Stiller, ist Artems Anwesenheit in diesen Tagen ein großes Glück. Denn die Dreilinden-Schule hat sich dazu entschlossen, 28 Schüler:innen aus der Ukraine aufzunehmen. Und Artem – sowie einige andere Jugendliche mit Russisch- oder Ukrainisch-Kenntnissen – ist seitdem nicht nur fleißiger Übersetzer, sondern auch eine wichtige emotionale Stütze für die 28 Jungen und Mädchen, die praktisch ihr ganzes Leben hinter sich lassen mussten, um jetzt in einem fremden Land und ohne Sprachkenntnisse neu anfangen müssen.

Die Schule hat Erfahrungen mit Schülern mit Fluchterfahrungen

Die Schule habe damit Erfahrung, sagt Schulleiter Stiller. „Nach 2015 haben wir sehr viele syrische Flüchtlingskinder bei uns aufgenommen und viel dabei gelernt. Unser Vorteil ist, dass wir so viele tolle Kollegen haben, die das unterstützen“, sagt er. In Berlin ist es üblich, dass geflüchtete Schüler:innen zunächst in Willkommensklassen unterrichtet werden, damit sie Deutsch lernen.

Erst danach werden sie auf unterschiedliche Klassen verteilt. Mit den vielen syrischen Kindern war dies ein gut erprobtes System. Bei den ukrainischen Schülern gebe es aber Besonderheiten, die nicht nur Schulleiter Stiller Kopfzerbrechen bereiten, sondern wohl allen, die mit der Unterrichtsplanung der Geflüchteten betraut sind.

Bei einem Gespräch in der Aula am Montag mit knapp 15 anwesenden Schüler:innen, Eltern, Schülersprechern, dem Direktor und einer ukrainischen Lehrerin werden die Probleme offensichtlich.

Jens Stiller ist Schulleiter des Dreilinden-Gymnasiums in Steglitz-Zehlendorf.
Jens Stiller ist Schulleiter des Dreilinden-Gymnasiums in Steglitz-Zehlendorf.

© Saara von Alten

Alles scheidet sich an der Frage: Wie lange wird Putin seinen zerstörerischen Angriffskrieg noch fortsetzen? Einige Ukrainer hoffen, dass sie vielleicht schon im Mai in ihre Heimat zurückkehren können, andere fürchten, dass es kein Zurück geben wird und sie sich auf ein neues Leben in Deutschland einstellen müssen.

Artem (links) und Tilmann kümmern sich am Dreilinden-Gymnasium um die ukrainischen Schüler:innen.
Artem (links) und Tilmann kümmern sich am Dreilinden-Gymnasium um die ukrainischen Schüler:innen.

© Saara von Alten

Ein Schüler, der schon etwas Deutsch spricht, sagt, dass er sich lieber auf das Hier und Jetzt konzentrieren wolle – und somit auf den deutschen Lehrplan. Ein Mädchen aus der 9. Klasse mit langem schwarzem Haar sagt, sie sorge sich, dass sie mit dem ukrainischen Schulstoff nicht hinterherkomme. In der Ukraine wird mehr Stoff innerhalb kürzerer Zeit durchgenommen, weil es bis zum Abitur nur elf Schuljahre gibt. Wie wird das am Ende benotet? Und wird sie die Versetzung in die 10. Klasse noch schaffen? Das sind die Fragen, die sich das Mädchen stellt, weil sie offenbar auch mit einer baldigen Rückkehr in ihre Heimat rechnet.

Über die Situation in der Heimat möchten sie nicht sprechen

So viel schulischer Ehrgeiz überrascht angesichts der Tatsache, dass alle anwesenden Schüler:innen vor Bomben geflohen sind. Aus Sicherheitsgründen möchten sie nicht namentlich genannt und fotografiert werden. Ihre Väter kämpfen an der Front. Wie denn der Kontakt in die Heimat sei? Darüber möchten sie nicht sprechen – auch nicht über das Erlebte in Kiew, Odessa oder anderswo. Artem sagt, dass aufgrund von Satellitenverstärkung die Verbindung über Internet und Mobiltelefone sehr gut sei. Man sei also bestens informiert – ein Problem ist wohl eher das Abschalten.

Neben dem Unterricht in den Willkommensklassen werden die Jugendlichen auch digital von ihren Lehrerinnen in der Ukraine unterrichtet. Seit Corona gibt es dafür Online-Plattformen - bessere als in Deutschland, heißt es. Das klappe, je nachdem wo sich Schule oder Lehrer befinden, unterschiedlich gut. In Kiew müssten Lehrkräfte immer wieder wegen Sirenenalarms in den Keller flüchten. Auch in anderen Landesteilen helfen die Lehrerinnen nebenbei noch als Freiwillige bei der Armee, kochen beispielsweise Essen für die Soldaten.

Der Lehrplan in der Ukraine hat Priorität - noch!

Schulleiter Stiller sagt, dass der ukrainische Unterricht Priorität habe, die Angebote können jederzeit in der Schule wahrgenommen werden. Einige der Schüler sind sich allerdings unsicher, wie lange sich das noch lohne. Ganz neu an der Schule ist auch Daria Posokhova, 24 Jahre und Lehrerin aus der Ukraine. Sie spricht fließend Deutsch und wird die Neuankömmlinge als Klassenlehrerin begleiten. Stiller hofft, dass er sie für längere Zeit fest anstellen kann. Neben dem Unterricht in den Willkommensklassen und der digitalen Onlineschule nehmen die Schüler auch am Fachunterricht der anderen Klassen teil. Sie alle sprechen Englisch, zur Not gibt es die Übersetzer.

Daria Posokhova, 24, ist Lehrerin aus der Ukraine und kümmert sich um die Willkommensklasse.
Daria Posokhova, 24, ist Lehrerin aus der Ukraine und kümmert sich um die Willkommensklasse.

© Saara von Alten

Wichtig sei daneben aber auch das soziale Ankommen, betont der 19-jährige Schülersprecher Tilmann. Er und andere Schüler haben zuletzt für die Jugendlichen einen Ausflug mit der Fähre von Wannsee nach Kladow organisiert. „Das hellt die Gesichter auf und lenkt ab“, sagt er. Positiv aufgefallen sei den ukrainischen Schülern, wie ebenbürtig Lehrer und Schüler in Deutschland miteinander umgingen. In der Ukraine sei der Ton strenger, es herrsche mehr Disziplin. Mehr eigene Ideen und Vorschläge einzubringen, das gefalle den Ukrainern, sagt Tilmann.

Ein Vater sagt, man wolle alles Positive mitnehmen, was möglich sei, auch wenn er hofft, dass es bald wieder nach Hause gehen kann. Momentan wohnen die meisten von ihnen bei Gastfamilien in Zehlendorf, die in ihren Einfamilienhäusern noch freie Zimmer hatten. Wie sie demnächst leben werden, ist unklar.

Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) hat vorgeschlagen, Geflüchtete künftig in Modulwohnungen unterzubringen, die schnell gebaut werden können. Für die Jugendlichen wäre es natürlich am besten, wenn sie in Zehlendorf bleiben könnten.

Aus seiner Erfahrung mit den syrischen Geflüchteten weiß Schulleiter Stiller, was ihnen in dieser Situation am meisten hilft. „Sie brauchen Normalität und Struktur.“ Alltag und Beschäftigung seien ganz wichtig, damit sie wieder aufblühten.

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