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Die britischen Supermärkte können oftmals nicht mehr alle Regale auffüllen. Foto: Justin Tallis/AFP 

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Brexit-Folgen in Großbritannien: Leere Regale und geschlossene Tankstellen

Durch die strikte Einwanderungspolitik nach dem Brexit bleiben in Großbritannien immer mehr Regale leer.

Der Sainsbury’s-Supermarkt im Nord-Londoner Stadtbezirk Harringay an einem ganz normalen Werktag zur Mittagszeit: In den Regalen klaffen überall Lücken. Egal, ob frische Milch, gekühlte Fertiggerichte oder monatelang haltbare Nudeln – überall ist die gewohnte bunte Vielfalt für die Konsumenten stark eingeschränkt.

Doch nicht nur in Supermärkten gibt es Leerstellen. Tankstellen bleiben geschlossen, die Fastfood-Kette Nando’s sah sich zur zeitweiligen Schließung von 45 Filialen gezwungen, weil das Hauptnahrungsmittel Hähnchenflügel nicht in ausreichenden Mengen zur Verfügung steht. Diese Woche machte McDonald’s Schlagzeilen: Wegen „vorübergehender Lieferprobleme“ müssen dürstende Kunden dort bis auf weiteres auf Milchshakes verzichten.

Wegen der andauernden Versorgungsschwierigkeiten schlagen jetzt britische Firmen und Lobbyverbände wie der Industrieverband CBI Alarm: Der Lagerbestand im Einzelhandel befindet sich auf dem niedrigsten Niveau seit fast vier Jahrzehnten.

Sogar EU-feindliche Medien müssen einräumen: Der Brexit gehört zu den wesentlichen Gründen für die mittlerweile dramatischen Engpässe. „Das lässt sich nicht mehr als kurzzeitiges Problem abtun“, warnt Andrew Sentance von der Beratungsfirma Cambridge Econometrics. „Diese Situation könnte länger andauern als die Leute meinen.“

Aber wie lange? Weihnachten könnte zur Schlacht um die wichtigste Zutat zum traditionellen englischen Festessen kommen: Wenn die Branche weiterhin einen so eklatanten Personalmangel wie derzeit hinnehmen müsse, könnten bis Dezember ein Fünftel der jährlich verzehrten Truthähne fehlen, warnt der Geflügelzüchter-Verband BPC in einem Brandbrief an Innenministerin Priti Patel. Das für Einwanderung zuständige Ministerium hat nämlich gering Qualifizierte zu unerwünschten Personen erklärt. Gerade diese aber seien „für die Aufrechterhaltung der Ernährung im Land ungemein wichtig“, erläutern die Züchter.

Truthähne mögen nicht gerade als Grundnahrungsmittel gelten, doch die Klage der Branche ist bei weitem kein Einzelfall. Auch Verbrauchermärkte, die Bauindustrie, Obst- und Gemüsebauern, die Gastronomie – allen fehlen seit Jahresbeginn günstige Arbeitskräfte. Die Brexit- Regierung unter Premier Boris Johnson hat nach Kräften versucht, das Problem kleinzureden – oder die Corona-Pandemie dafür verantwortlich gemacht.

„Der Engländer an sich arbeitet ja nicht so gerne. Ohne Europäer läuft hier wenig bis nix“

Österreichischer Geschäftsmann

Immer klarer aber kristallisiert sich jetzt als Hauptgrund – und damit aus dauerhaftes Problem – der EU-Austritt Großbritanniens heraus: Mit dem endgültigen Verlassen von Binnenmarkt und Zollunion haben EU-Bürger seit 1. Januar die Freizügigkeit auf der Insel verloren. Nun fehlen der polnische Klempner und die rumänische Altenpflegerin, die spanische Kellnerin und der belgische Putzmann. Über die vergangenen Jahrzehnte haben Millionen vor allem junger Kontinentaleuropäer auf der Insel die schlecht bezahlten Jobs gemacht, zu denen die einheimische Bevölkerung nicht zu überreden ist.

Ein österreichischer Geschäftsmann bringt seine wenig schmeichelhafte Meinung über die Arbeitsmoral der örtlichen Bevölkerung unverblümt auf den Punkt: „Der Engländer an sich arbeitet ja nicht so gerne. Ohne Europäer läuft hier wenig bis nix.“ Wenn die Regierung gerade kleineren Geschäften, Restaurants und Cafes angesichts der dauernden Personalnot nicht bald unter die Arme greife, „gehen hier viele Businesses hops“.

McDonalds Kunden in Großbritannien müssen wegen Lieferproblemen auf Milchshakes verzichten. Foto: AFP
McDonalds Kunden in Großbritannien müssen wegen Lieferproblemen auf Milchshakes verzichten. Foto: AFP

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Das neue, gleich nach dem Brexit verabschiedete Einwanderungssystem der Regierung setzt dem Zuzug billiger Arbeitskräfte enge Grenzen. Von einzelnen Kontingenten für Branchen wie die Landwirtschaft abgesehen, müssen Antragsteller zur Einreise bestehende Arbeitsangebote mit Mindesteinkommen vorweisen.

Lobbyverbände der Nahrungsmittel- und Gaststättenindustrie möchten stattdessen gerade jüngere Leute mit einem System anlocken, wie es zwischen Großbritannien und Australien besteht: Junge Engländer erhalten dort zeitlich begrenzte Visa für den fünften Kontinent, die ausdrücklich die Möglichkeit zur Arbeitssuche einschließen.

Die Gewerkschaften hingegen hoffen auf höhere Einkommen für einheimische Arbeitskräfte. Tatsächlich bezahlen Supermarkt-Ketten und Warenhäuser vielerorts schon Begrüßungsgelder an neue Arbeitskräfte. Der US-Gigant Amazon begnügt sich für Paketpacker mit Prämien von bis zu 1000 Pfund (1168 Euro/1254 Franken) – ausgebildete Techniker erhalten beim Energiekonzern British Gas schon das Dreifache.

Erfahrenen Lastwagenfahrern bieten die Supermarktketten ebenfalls vierstellige Einstellungszahlungen. Denn bei den Brummis macht sich der Mangel am eklatantesten bemerkbar: Seit sich das Großbritannien-Geschäft für viele qualifizierte EU-Kraftfahrer nicht mehr lohnt, fehlt ein Sechstel der rund 600000 Menschen, die laut Branchenverband RHA für den verlässlichen Warentransport notwendig sind.

Das Coronavirus schuf dazu ein Nachwuchsproblem: Wegen der Pandemie fielen monatelang die Prüfungen für Lastwagen-Führerscheine aus. Eine begrenzte Rückkehr zur bisherigen Arbeitnehmer-Freizügigkeit, wie sie Spediteure gefordert haben, wurde von der konservativen Regierung trotzdem abgelehnt.

Sollte die Momentaufnahme vom Londoner Sainsbury’s übertragbar sein, müssen sich die Briten immerhin um bestimmte Konsumgutartikel keine Sorge machen: In den Alkohol-Regalen gibt es Bier, Wein und Schnaps in solcher Fülle, dass sich der Kummer über Versorgungsengpässe dauerhaft – womöglich sogar bis Weihnachten – ertränken ließe.

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