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500 Dollar und eine Kalaschnikow: Wie Terroristen vom Klimawandel profitieren

Im Tschad hat Boko Haram leichtes Spiel neue Rekruten zu finden, denn die Alternative sieht für viele Bauern noch düsterer aus. Eine Aktivistin will das ändern.

Die Aufnahmen ähneln sich alle: vermummte Männer in dunklen Kampfanzügen, breitbeinig mit grimmigem Blick, oft in der Wüste, auf sandigem Boden. Stolz präsentieren sie sich mit Patronengürteln über den Schultern und Maschinengewehren vor der Brust. Es sind die Propaganda-Videos der westafrikanischen Terrorgruppe Boko Haram. In so einem war kürzlich auch Bakura Modu zu sehen, der mutmaßlich neue Anführer der Islamisten-Miliz. Ihr bisheriger Chef, Abubakar Shekau, sei als „Märtyrer“ im Kampf gegen rivalisierende Dschihadisten gefallen, erklärte Modu.

Immer wieder hatte es Gerüchte über Shekaus Tod gegeben, doch dieses Mal scheint es zu stimmen. Der Mann mit dem dichten Vollbart galt als skrupelloser Sadist, der selbst vielen Islamisten zu gewalttätig war. Er hatte 2014 die Entführung von fast 300 Schulmädchen im nigerianischen Chibok in Auftrag gegeben, die damals für weltweites Entsetzen sorgte. Sein Tod vergangene Woche ist die jüngste Meldung aus dem Krisengebiet in Westafrika, die es in Deutschland in die Nachrichten geschafft hat.

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Seit ungefähr zehn Jahren sorgt Boko Haram in der Region um den Tschadsee für Angst und Schrecken, in Ländern wie Nigeria, Niger, Kamerun oder Tschad. Mehr als 40.000 Menschen starben bislang in dem Krieg zwischen Islamisten und Regierungstruppen, zwei Millionen wurden vertrieben. Der Aufstieg von Boko Haram, von einer kleinen Gruppe radikaler Koranschüler zu einer der gefährlichsten Organisationen der Welt, hat viele Gründe – einer davon ist der Klimawandel. Der sorgt in der Region für heftige Kämpfe um die knappen Ressourcen. Not und Armut machen es den Islamisten leicht, Kämpfer zu rekrutieren. Die Folge: eine Spirale der Gewalt.

Die zu durchbrechen ist zur Lebensaufgabe der Aktivistin Hindou Oumarou Ibrahim geworden. „Der Klimawandel bedroht nicht nur die Nahrungsversorgung, sondern auch den Frieden“, sagt sie. Die 37-Jährige entstammt einem Nomadenvolk aus dem Tschad, das unter Namen wie Mbororo oder Wodaabe bekannt ist. Sie will Lösungen für die Krise in ihrer Heimat finden. Auf internationaler Ebene setzt sie sich gegen den Klimawandel ein, bei UN-Gipfeln etwa. Zu Hause, südlich der Sahara, wo die trockene Savanne langsam in den Tropenwald übergeht, vermittelt sie zwischen rivalisierenden Ackerbauern und Viehzüchtern.

Hindou Oumarou Ibrahim will das alte Wissen der Völker nutzen, um Konflikte zu entschärfen.
Hindou Oumarou Ibrahim will das alte Wissen der Völker nutzen, um Konflikte zu entschärfen.

© Reed

Für die ist die Klimakrise längst kein Zukunftsszenario mehr. Die durchschnittlichen Temperaturen steigen in der Region anderthalbmal schneller als im Rest der Welt. Die Zahl der heißen Tage mit Temperaturen bis zu 50 Grad Celsius nimmt zu. Kleinkinder, Kranke und Alte überlebten das oft nicht, sagt Ibrahim. Doch nicht nur Hitze und lange Dürrezeiten machen Bauern, Hirten und Fischern zu schaffen, sondern auch die zunehmend unregelmäßigen und starken Regenfälle. Im vergangenen August mussten allein im Tschad etwa 120.000 Menschen ihre Heimatorte wegen Überschwemmungen verlassen.

Staatliche Hilfe gibt es kaum, die Regierungen der armen Länder haben wenig Mittel. Über die sumpfigen Ufer und vielen Inseln des Tschadsee, der zweieinhalb Mal so groß ist wie der Bodensee, haben sie kaum Kontrolle – ein ideales Rückzugsgebiet für Kriminelle und Islamisten. Die planen dort Angriffe aufs Militär, aber auch Überfälle auf Zivilisten. Die Eliten in den Hauptstädten kümmern sich wenig um die 30 Millionen Menschen in der Gegend. Die Bevölkerung wächst stark, das verschärft die Situation. „Boko Haram weiß sowohl die Nöte und die Unzufriedenheit der Menschen, als auch die bestehenden Konflikte in der Region für sich zu nutzen“, sagt Florian Köhler vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle.

Die internationale Community kann viel von uns lernen

Hindou Oumarou Ibrahim

Die Aktivistin Ibrahim hat einen Plan, wie sich zumindest die Verteilungskämpfe entschärfen lassen. Sie will den Menschen helfen, sich besser auf die Veränderungen der Umwelt einzustellen. Ihre Idee: das traditionelle Wissen ihrer Vorfahren nutzen, wie man mit und nicht gegen die Natur lebt. Das werde in der Klimapolitik zu wenig beachtet, sagt sie. Im April trat Ibrahim beim Klimagipfel von US-Präsident Joe Biden auf. „Die internationale Community kann viel von uns lernen“, sagt sie. „Wir wissen, wie man die Balance der Natur aufrechterhält.“

Rund 50.000 Wodaabe leben unter den harschen Bedingungen der Steppe des Sahel. Ende des 19. Jahrhunderts durchlebten sie die Rinderpest, in den 1970er und 1980er Jahren lange Dürreperioden, die viele das Leben kosteten. Doch immer wieder fanden sie einen Weg aus der Krise. Seit Jahrhunderten ziehen sie mit ihrem Vieh durch die karge Landschaft. Im Sommer treiben sie ihre Zebru-Rinder, stattliche Kühen mit breiten Hörnern, zum Tschadsee. In der Regenzeit ziehen sie nach Norden, damit die Weiden sich erholen können.

Die Bedingungen der Steppe sind hart für die Menschen. Doch sie haben einen Weg gefunden, damit umzugehen.
Die Bedingungen der Steppe sind hart für die Menschen. Doch sie haben einen Weg gefunden, damit umzugehen.

© Reed

Neben Kühen und Ziegen besitzen die meisten nicht viel: ein paar Töpfe, ausgehöhlte Flaschenkürbisse zum Aufbewahren der Milch, Plastikkanister fürs Wasser, ein Plane als Behausung. Ihre Camps können sie in einer Stunde abbauen und weiterziehen; Orientierung bieten die Sterne und der Wind, Insektenschwärme, aber auch die eigenen Tiere. „Wenn sich die Kühe hinlegen, aber den Kopf hochhalten, heißt das: Der Regen kommt von Norden“, erzählt Ibrahim. Dieses Wissen werde über Generationen weitergegeben. Ihre Großmutter, sagt sie, sei die „beste Wetter-App“.

Das Nomadendasein prägt die sozialen Werte der Gemeinschaft. Genügsamkeit und Geduld – Tugenden, die wichtig sind, wenn man Monate auf den erlösenden Regen warten muss. Über die Grenzen des Sahel bekannt sind die Wodaabe für ein besonderes Ritual, das „geerewol“ genannt wird und in zig Filmen und Büchern dokumentiert ist. Für die mehrtägige Feier schminken sich junge Männer das Gesicht mit einer dicken Schicht rostbrauner Farbe, den Kopf schmücken sie mit weißen Federn und kunstvollen Lederbändern. Beim Tanzen ziehen sie Grimassen, fletschen die Zähne und spitzen die Lippen, damit jeder Gesichtszug zur Geltung kommt – und die Frauen beeindruckt sind.

Wodaabe-Männer feiern ihr Ritual.
Wodaabe-Männer feiern ihr Ritual.

© picture alliance / robertharding

Der Klimawandel bedrohe diese Kultur, sagt Ibrahim. „Wenn die Ressourcen zur Neige gehen, die Artenvielfalt abnimmt und extremes Wetter dazukommt, ist die erste Folge die Migration.“ Viele Wodaabe ziehen in die Ortschaften, verdingen sich als Wasserträger oder Straßenverkäufer. Wer es nicht schafft in der Stadt, kommt zurück in die Steppe – und steht nicht selten vor dem Nichts. Diese Menschen seien leichte Beute für Boko Haram. Die Islamisten lockten ihre Rekruten mit einem Gewehr und 500 Dollar – ein Vermögen in der armen Region.

Viele der Waffen stammen aus dem Bürgerkriegsland Libyen. „Oft bietet Boko Haram auch nur Geld und ein Motorrad für Botenfahrten“, sagt Köhler. „Die Hemmschwelle ist dann geringer, sich den Dschihadisten anzuschließen.“ Mit Waffengewalt bekämpfen sich auch Nomaden und sesshafte Bauern. Über Jahrhunderte hätten sie gut zusammengelebt, sagt Helga Dickow vom Arnold-Bergstraesser-Institut in Freiburg. Wenn die Felder abgeerntet waren, ließen die Hirten ihre Tieren dort weiden. Die Bauern bekamen Dünger und Milch. „Doch mittlerweile spielen sich auf den Feldern tödliche Konflikte ab“, sagt Dickow. Auch, weil sich neureiche Eliten Vieh zulegten und ihre angeheuerten Hirten über noch nicht abgeerntete Felder schickten.

Es ist also nicht nur der Klimawandel, der die Konflikte um Land, Wasser und Nahrung anheizt. Misswirtschaft, Korruption und Bevölkerungswachstum spielen auch eine Rolle – und staatliches Versagen. In vielen Gegenden, den weitläufigen Steppen etwa, können die Regierungen ihr Gewaltmonopol nicht ausüben. Dort, wo der Staat sich durchsetzt, nimmt er teils wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Im Kampf gegen die Islamisten blockieren Soldaten Versorgungsrouten und schließen Wochenmärkte. „Wenn die Menschen nicht mehr in neue fruchtbare Gebiete ziehen können, beeinträchtigt das ihre Lebensgrundlagen“, sagt die Konfliktforscherin Janani Vivekananda vom Thinktank Adelphi.

Es ist ein Teufelskreis: Um mit dem Klimawandel zurechtzukommen, brauchen Viehzüchter wie die Wodaabe mehr Bewegungsfreiheit. Doch die ist wegen des Kriegs gegen Boko Haram stark eingeschränkt. In ihrer Not schließen sich manche islamistischen oder kriminellen Banden an.

In West-Afrika haben sich mehrere Staaten zusammen getan und eine Anti-Terror-Einheit aufgebaut, die gegen Boko Haram vorgehen soll.
In West-Afrika haben sich mehrere Staaten zusammen getan und eine Anti-Terror-Einheit aufgebaut, die gegen Boko Haram vorgehen soll.

© Issouf SANOGO / AFP

Kann es da überhaupt einen Ausweg geben? Ibrahim will einen finden – etwa im Südwesten des Tschad, wo es immer wieder zu Streit zwischen sesshaften Bauern und Nomaden kam. Sie reiste als Schlichterin dorthin und setzte sich mit den Hirten zusammen. Die ließen sie auf Karten Höhenzüge, Flüsse und Viehkorridore dokumentieren. Die Frauen vermerkten Quellen, wo sie Wasser holten oder Orte, wo sie Pflanzen für Medizin fanden. Am Ende entstanden 3D-Landschaftsmodelle, die später digitalisiert wurden.

Die Karten zeigen den Bauern, wo ihre Felder den Viehhirten den Weg blockieren. „Wissen zu teilen, kann helfen, Konflikte zu vermeiden“, sagt Ibrahim. Sichtbar wurden auch Gebiete, in denen bestimmte Pflanzen ausgestorben waren. „Die Kartierung hilft uns auch zu sehen, welche Arten wir verlieren und wie wir sie schützen können.“ Ihre Vision: altes Wissen und neue Technologie zusammenzubringen. Nur so, ist Ibrahim überzeugt, lasse sich der Klimawandel bekämpfen.

„Der Dialog zwischen den Gruppen ist wichtig“, sagt der Experte Köhler. „Doch für eine Lösung der vielen Probleme in der Tschadsee-Region braucht es mehr grundsätzlichere Strategien. Um dem Problem des Bevölkerungswachstum entgegenzuwirken, ist Bildung ganz zentral.“ Das weiß auch Ibrahim, die 2012 an Schulprogrammen für Wodaabe-Kinder mitgearbeitet hat. Der Unterricht sei seither auf deren Bedürfnisse angepasst, sagt sie. Mit Unterrichtszeiten, die den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit böten, morgens beim Melken zu helfen – und einem auf die Nomaden-Kultur abgestimmten Lehrplan. „Bildung ist mehr als dass alle am Schluss gleich aussehen, gleich denken, einen PhD haben und ins Büro gehen“, sagt Ibrahim. „Bei Bildung geht es auch um Vielfalt.“

Um Wissen wie das ihrer Vorfahren.

Mit diesem, davon ist die Aktivistin überzeugt, könne die ganze Welt Strategien zur Anpassung an den Klimawandel finden. Den zu stoppen, die Emissionen zu drosseln, Erderwärmung und Artensterben aufzuhalten – das sei allerdings die Pflicht der Industrienationen und nicht die Aufgabe der Wodaabe aus dem Süden des Tschad.

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