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Die Bewohner von Kybartai sind die Schüsse der russischen Armee gewohnt. Unweit der Grenze liegt ein Truppenübungsplatz.

© TSP/Cornelius Dieckmann

An der Nato-Außengrenze in Litauen: „Wenn die Russen anfangen zu schießen, fliegt das über uns hinweg“

Wir könnten die Nächsten sein, sagen die Litauer. Sie wissen noch genau, wie Moskaus Panzer durch Vilnius rollten – und hoffen, dass die Nato-Achillesferse standhält.

Um 9.19 Uhr, vier Minuten bevor der Fahrplan es vorsieht, rollt Zug 29 auf Gleis 12 des Hauptbahnhofs von Vilnius ein. Niemand darf aussteigen, nicht an diesem Montagmorgen, nicht an irgendeinem anderen Tag. Denn Zug 29 kommt aus Moskau – und wird gleich fast eine Viertelstunde in der litauischen Hauptstadt stehen, mitten in der EU, bevor er seine Fahrt in die russische Exklave Kaliningrad fortsetzt.

„Liebe Passagiere“, ertönt eine Durchsage auf Russisch. Man habe am Bahnsteig eine spezielle Ausstellung vorbereitet. Am Stacheldrahtzaun hängt ein Spalier des Grauens: eine Ukrainerin, der das halbe Gesicht fehlt; die todbleiche Schwangere aus Mariupol, deren Bild im März um die Welt ging; ein Vater, der die Leiche seines Sohnes beweint. Auf jedem der 24 Plakate steht: „Heute tötet Putin Zivilisten in der Ukraine. Seid ihr damit einverstanden?“

Manche der Reisenden ziehen sofort die Vorhänge ihres Schlafabteils zu, viele filmen mit dem Handy. Ein Mann mit einer Tasse Kaffee in der Hand starrt düster nach draußen, ein anderer winkt freundlich. Ein Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt, formt mit weit aufgerissenen Augen mit den Fingern eine Pistole.

Die Passagiere von Zug 29, Moskau–Kaliningrad, sehen am Hauptbahnhof von Vilnius Bilder der Gräuel des Ukraine-Kriegs.
Die Passagiere von Zug 29, Moskau–Kaliningrad, sehen am Hauptbahnhof von Vilnius Bilder der Gräuel des Ukraine-Kriegs.

© TSP/Cornelius Dieckmann

„Das hier ist die einzige Chance, den Propagandafilter zu brechen und die Köpfe der Russen zu erreichen“, sagt Jonas Staselis auf dem Bahnsteig. Der rauschebärtige Präsident des nationalen Fotografenverbands hat die Ausstellung mit der litauischen Bahn kuratiert, die Idee lieferte der Regisseur Evaldas Kubilius.

Der Ukraine-Krieg erinnert die Litauer an ihre eigene Geschichte

Vom Nachbarbahnsteig dringt ein Lied herüber, „Tscherwona Ruta“, rote Blume – ein alter ukrainischer Folkpop-Song. Eine Frau im grauen Hoodie spielt ihn über einen Lautsprecher. Anfang März sei sie aus Kiew geflohen, erzählt sie. Sie versuche, jeden Morgen hier zu sein. Während sie langsam die sieben Waggons abschreitet, hält sie eine blau-gelbe Flagge hoch, dazu ein Schild: „Russen, lasst meine Ukraine in Ruhe.“

Um 9.33 Uhr fährt Zug 29 nach Kaliningrad weiter.

Manche Passagiere ziehen sofort die Vorhänge ihres Schlafabteils zu, viele filmen mit dem Handy.
Manche Passagiere ziehen sofort die Vorhänge ihres Schlafabteils zu, viele filmen mit dem Handy.

© TSP/Cornelius Dieckmann

„Der Ukraine-Krieg berührt uns Litauer so tief, weil er uns an unsere eigene Geschichte erinnert“, sagt Jonas Staselis. Nach dem Massaker in Butscha habe seine Mutter, Jahrgang 1937, ihm gesagt, die Toten sähen aus wie die Leichen der Litauer, die die Sowjetsoldaten während der Partisanenkämpfe nach dem Zweiten Weltkrieg liegen ließen, um Terror zu verbreiten. „Damals war sie ein Kind“, sagt Staselis. Jetzt ist die Angst zurück.

„Russen, lasst meine Ukraine in Ruhe.“ Die Frau aus Kiew versucht, jeden Morgen zum Bahnhof zu kommen.
„Russen, lasst meine Ukraine in Ruhe.“ Die Frau aus Kiew versucht, jeden Morgen zum Bahnhof zu kommen.

© TSP/Cornelius Dieckmann

Kurz dachten die Litauer, sie könnten die Nächsten sein. Nach Russlands Überfall am 24. Februar verhängte die Regierung den Ausnahmezustand und empfahl, Notfalltaschen zu packen: Wasser für 72 Stunden, Taschenlampen, Fotos der Liebsten, um diese später wiederzufinden. Würde Putin auch das Baltikum angreifen?

Nur eine schmale Landverbindung besteht zum mitteleuropäischen Nato-Gebiet

Die litauisch-polnische Grenze, die „Suwałki-Lücke“, gilt als Achillesferse der Nato. Auf nur 104 Kilometern ist sie die einzige Landverbindung des Baltikums mit den übrigen Mitgliedstaaten, flankiert von Kaliningrad und Belarus.

Ist Litauen ein gefährlicher Ort?

„Nicht gefährlicher als jedes andere Nato-Land“, sagt Ingrida Šimonytė. Die litauische Premierministerin sitzt in einem hellen Besprechungszimmer in der Regierungszentrale in Vilnius, ans Revers ihres Blazers hat sie sich eine kleine gestrickte Hand in den Farben der Ukraine gesteckt. „Es gibt keinen Grund, warum ich Joseph Biden und anderen Staats- und Regierungschefs nicht glauben sollte, wenn sie sagen, jeder Zentimeter des Nato-Gebiets werde geschützt.“

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Seit 2004 ist Litauen Nato-Mitglied. Mancher hier glaubt, dass es den Baltenstaat mit seinen knapp drei Millionen Einwohnern heute sonst gar nicht mehr gäbe. „Vielleicht gäbe es ein Land namens Litauen mit Präsident und Nationalhymne“, sagt Šimonytė, „aber unter einer Stellvertreterregierung des Kremls.“

Die Regierungschefin warnte schon zu einem Zeitpunkt vor einem russischen Überfall auf die Ukraine, als viele Westeuropäer noch nicht an ihn glaubten – und davor, dass Deutschland mit der Gaspipeline Nord Stream 2 Russland geradewegs in die Hände spiele. „Leider behielten wir recht“, sagt die 47-jährige Ökonomin. Der deutsche Glaube, „man könne Putin durch Handel in die Zivilisation hineinholen“, habe letztlich dessen „militärische Muskelkraft“ finanziert.

Vilnius ist die EU-Hauptstadt, die der Außengrenze am nächsten liegt. Bis Belarus, das Šimonytė als „militärische Provinz des Kremls“ bezeichnet, sind es 45 Autominuten. Neben der deutsch-sowjetischen Besatzungsgeschichte erklärt das womöglich Litauens politische Mentalität: Lieber prescht man vor, als abzuwarten, wie übermorgen der Wind weht. Anfang April verkündete Litauen als erster EU-Staat das Ende russischer Gaslieferungen, inzwischen sind auch die übrigen Energieimporte eingestellt.

„Leider behielten wir recht.“ Ingrida Šimonytė beim Gespräch mit dem Tagesspiegel im Regierungssitz in Vilnius.
„Leider behielten wir recht.“ Ingrida Šimonytė beim Gespräch mit dem Tagesspiegel im Regierungssitz in Vilnius.

© TSP/Cornelius Dieckmann

Fast ein halbes Jahrhundert stand das Land unter Sowjetherrschaft. „Es war eine Atmosphäre der ständigen Lüge“, erinnert sich Šimonytė, die ein Teenager war, als die UdSSR kollabierte. „Mir wurde auch verschwiegen, dass meine Großeltern nach Sibirien deportiert worden waren.“ Am 11. März 1990 erklärte Litauen als erste Sowjetrepublik die Unabhängigkeit. Zehn Monate später rollten Moskaus Panzer durch Vilnius.

Karoliniškės ist kein schöner Stadtteil. Vor den Platten im Westen der Hauptstadt hängt Wäsche träge in der Brise, daneben ragt der Fernsehturm empor. Unten stehen 14 Namen und eine Inschrift: „Wenn ihr die Nacht des 13. Januar erinnert, als der Feind Blut wollte von Brüdern und Schwestern mit breiter Brust, gedenkt ihrer in gedankenvoller Stille.“

Ein kleiner Obelisk im Gras – hier erschossen sie seinen Vater

Robertas Povilaitis bittet einen Mitarbeiter, ihm das Tor zum Außenbereich aufzuschließen. Kleine Obelisken stehen im Gras, etwas mehr als kniehoch. Sie markieren Todesstellen. Der Mitarbeiter sagt: „Das ist der von Ihrem Vater.“

Apolinaras Povilaitis 1937 – 1991.

Wie es für ihn sei, hier zu sein? „Es ist ein besonderer Ort.“

Ob er bereit sei, über seine Erinnerungen an jene Nacht zu reden? „Let’s not.“

Robertas Povilaitis will nicht über seinen Vater sprechen. Er will über den Mann sprechen, der seinen Vater auf dem Gewissen hat. Dieser Mann, davon ist er überzeugt, ist Michail Gorbatschow.

Robertas Povilaitis verlor seinen Vater (2. v. r.) durch die Sowjetarmee.
Robertas Povilaitis verlor seinen Vater (2. v. r.) durch die Sowjetarmee.

© TSP/Cornelius Dieckmann

Kurz vor 1.30 Uhr am 13. Januar 1991 rollen Panzer die Allee der Kosmonauten hinauf, auf den Fernsehturm zu, den Tausende umstellt haben, um die Unabhängigkeit Litauens und seines Rundfunks zu schützen. Tage zuvor hat der mit dem Friedensnobelpreis prämierte Kremlchef Litauen ein Ultimatum gestellt, das Land wieder in die UdSSR einzugliedern.

Robertas Povilaitis’ Vater starb an Schusswunden in Herz, Lunge, Arm und Bein. Der Metallarbeiter, 53, war der Älteste unter den Toten des „Blutsonntags“.

„Wenn Gorbatschow es nicht selbst befohlen hat, hat er es zumindest zugelassen“, sagt Povilaitis, damals 14. Er lehrt heute Psychologie an der Universität Vilnius, engagiert sich gegen Kinder-Mobbing. „Ich weiß, wie man mit Gefühlen umgeht“, sagt er. Aber die Geschichte seiner Familie solle privat bleiben.

Zehn Monate nach der Unabhängigkeitserklärung schickte Moskau die Armee nach Vilnius. Hier eine Demonstration am 11. Januar 1991, zwei Tage vor dem „Blutsonntag“.
Zehn Monate nach der Unabhängigkeitserklärung schickte Moskau die Armee nach Vilnius. Hier eine Demonstration am 11. Januar 1991, zwei Tage vor dem „Blutsonntag“.

© Imago/SNA

Acht Jahre lang versuchte der 45-Jährige vergeblich, Gorbatschow vor Gericht zu bringen, zuletzt reichte er ein 2500-seitiges Paket mit Dokumenten ein. Vor wenigen Tagen hat das Bezirksgericht Vilnius die Klageschrift endlich an das russische Außenministerium übersandt. 67 Personen, darunter der damalige sowjetische Verteidigungsminister Dmitri Jasow, wurden in Litauen bereits verurteilt, meist in Abwesenheit.

„In Litauen wussten wir immer, dass wir einen gefährlichen Nachbarn haben“

Povilaitis widerspricht nicht, wenn man sagt, dass Russland auch den 91-jährigen Gorbatschow kaum ausliefern wird. „Das Wichtigste ist nicht das Ergebnis, sondern zu zeigen, dass es nie zu spät ist, um die Frage der Rechenschaft zu stellen. Für viele mag es die Vergangenheit sein, aber für mich hat es nie aufgehört.“

Neulich hat Povilaitis gelesen, dass die Einheit, die 1991 nach Vilnius geschickt wurde, Fallschirmjäger aus Pskow, in die Ukraine abkommandiert worden sei. Er sagt: „In Litauen wussten wir immer, dass wir einen gefährlichen Nachbarn haben.“

Die Allee der Kosmonauten heißt heute anders – und eine Nebenstraße nach Apolinaras Povilaitis, wie sein Sohn zeigt.
Die Allee der Kosmonauten heißt heute anders – und eine Nebenstraße nach Apolinaras Povilaitis, wie sein Sohn zeigt.

© TSP/Cornelius Dieckmann

Anderthalb Autostunden nordwestlich von Vilnius, auf einem großen Antreteplatz, machen niederländische Soldaten Frühsport zu „Smells Like Teen Spirit“. Hin und wieder sind vom nahen Übungsplatz Schüsse zu hören, die in den Fichtenwäldern um Rukla verhallen. Früher war in dem 2500-Einwohner-Städtchen die Sowjetarmee kaserniert, heute beherbergt es die meisten der rund 1700 Soldaten des Nato-Kampfverbands Enhanced Forward Presence (EFP) Litauen.

Oberstleutnant Daniel Andrä empfängt in seinem Büro in einem Containergebäude. Der deutsche Panzergrenadier, Jahrgang 1978, ist seit Anfang Februar Kommandeur in Rukla. Russlands Angriff hat auch ihn überrascht. „Die Bedrohungswahrnehmung der Litauer macht am Kasernentor nicht halt“, sagt er. „Zumal man ja nicht wusste: Wie schnell geht’s?“

Am Tag nach der Invasion ließ er den ganzen Kampfverband antreten – um Konzentration anzumahnen, aber auch um zu beruhigen. „So ein Aufmarsch und Angriff passiert nicht von jetzt auf gleich“, sagt er. „Es stehen keine russischen Panzer vor dem Kasernenzaun.“

„Eine Glaskugel haben wir alle nicht“, sagt Bundeswehr-Oberstleutnant Daniel Andrä in seinem Büro in Rukla.
„Eine Glaskugel haben wir alle nicht“, sagt Bundeswehr-Oberstleutnant Daniel Andrä in seinem Büro in Rukla.

© TSP/Cornelius Dieckmann

Deutschland ist mit derzeit etwa 1000 Soldaten Führungsnation der EFP Litauen. Entsandt wurde sie 2017 als Reaktion auf Russlands Krim-Besetzung. In Polen, Lettland und Estland existieren ähnliche Nato-Verbände. Nur habe das in Deutschland lange kaum einen interessiert, sagt Andrä. „Erst jetzt, wo man sieht, wofür der Einsatz gut und wichtig ist, steigt die Aufmerksamkeit.“

Aus der Bundeswehr ist zu hören, in den ersten Jahren habe es die Direktive gegeben, gegenüber Journalisten nicht explizit zu sagen, dass die Bedrohung im Baltikum Russland sei, da das in Deutschland nicht zu vermitteln sei. Man wolle jeden möglichen Aggressor abschrecken. Nur, wer sollte es sonst sein? Schweden?

Die ersten Bundeswehr-Soldaten hier seien nervös gewesen

„Als die Deutschen nach Rukla kamen, traf ich mich mit den Kommandeuren“, erinnert sich der Parlamentarier Eugenijus Sabutis, zu dessen Wahlkreis Rukla gehört. Die Bundeswehr-Offiziere seien nervös gewesen. Das letzte Mal, dass deutsche Soldaten in Litauen stationiert gewesen waren, von 1941 bis 1944, hatten sie, die NS-Besatzer, fast die gesamte jüdische Bevölkerung ermordet. „Ich versicherte ihnen, dass man sie nicht als Erben dieses Regimes betrachtet. Die Nato-Soldaten, besonders die Deutschen, sind unser wichtigster Schutz.“

Die Ukraine ist nur der physische Ort, an dem die Schlacht fürs Erste stattfindet.

Litauens Premierministerin Ingrida Šimonytė

Vielen Litauern genügt der nicht mehr. „Wir brauchen eine deutlich größere Truppenpräsenz am Boden, aber auch Vorpositionierung und Luftverteidigung“, fordert Premierministerin Šimonytė. „Letzteres ist wichtig, denn in der Ukraine sehen wir, wie Russland Krieg führen könnte – indem sie vom Sofa in Belgorod aus Raketen auf 300 oder 400 Kilometer entfernte Ziele abschießen.“

Putins Überfall betrachtet Šimonytė als vorgeschalteten Krieg gegen die Nato: „Die Ukraine ist nur der physische Ort, an dem die Schlacht fürs Erste stattfindet. Putin kämpft nicht mit der Ukraine, sondern durch sie.“

Marder-Schützenpanzer in der Instandsetzung in Rukla. Gerade hat der Nato-Kampfverband die Übung „Iron Wolf“ absolviert.
Marder-Schützenpanzer in der Instandsetzung in Rukla. Gerade hat der Nato-Kampfverband die Übung „Iron Wolf“ absolviert.

© TSP/Cornelius Dieckmann

Daniel Andräs Kampfverband hat gerade die Übung „Iron Wolf“ absolviert. Szenario und Landkarte waren fiktiv, der Angreifer hieß „Occasus“. Am Ende zertifizierte man ihnen, sie seien „combat-ready“. Kampfbereit.

Kampfbereit für den Ernstfall, Russland überfällt Litauen, die Nato löst den Bündnisfall aus?

„Eine Glaskugel haben wir alle nicht“, sagt Andrä. „Vielleicht ist der Mensch da so wie bei vielen anderen Dingen und denkt: Es wird schon nicht passieren.“

Anfang Mai hat Russlands Armee in Kaliningrad nach eigener Aussage mit nuklearfähigen Iskander-Raketen geübt. Andrä überlegt kurz, wie er das jetzt formulieren soll. Dann sagt er: „Russland hat ganz andere Raketen, die von Russland aus jeden Ort in Europa treffen könnten. Dazu braucht’s keine Iskander in Kaliningrad.“

„Die Schüsse der russischen Armee hören wir in Kybartai schon immer“

Fünf Züge fahren täglich nach Kybartai, aber eigentlich sind es vier, denn der fünfte ist Zug 29, Moskau–Kaliningrad, und dessen Türen öffnen nicht. Wer mit der litauischen Bahn in der Grenzstadt ankommt, hört zuerst die Nationalhymne – und sieht dann, wo Litauen endet.

Hinter dem Friedhof von Kybartai führt ein Schotterweg an einen niedrigen grünen Zaun, Typus Supermarktparkplatz. Die Trennlinie ist unbemannt, nur Überwachungskameras sind auf die Liepona gerichtet, das Rinnsal von Grenzfluss. Dahinter: erst mal Niemandsland, dann ein russisches Eisenbahnhäuschen.

„Den Zaun haben sie erst vor drei, vier Jahren aufgestellt, weil es so viel Schmuggel mit Wodka und Zigaretten gab“, sagt Romas Šunokas und lehnt sich ans Geländer am Friedhofsrand. Der 61-Jährige, Lederjacke und Karohemd, ist Vorsteher der 4500-Einwohner-Stadt. „Was da drüben passiert, wissen wir nicht“, sagt er. „Das bleibt Fantasie.“

Romas Šunokas, Ortsvorsteher von Kybartai, fürchtet keinen Überfall. Der rot-grüne Pfahl hinter ihm markiert den Beginn des russischen Staatsgebiets.
Romas Šunokas, Ortsvorsteher von Kybartai, fürchtet keinen Überfall. Der rot-grüne Pfahl hinter ihm markiert den Beginn des russischen Staatsgebiets.

© TSP/Cornelius Dieckmann

Auf der Basanavičius-Straße hängt ein paar Hundert Meter vom Grenzübergang ein Banner mit der Aufschrift „Ruhm der Ukraine“.
Auf der Basanavičius-Straße hängt ein paar Hundert Meter vom Grenzübergang ein Banner mit der Aufschrift „Ruhm der Ukraine“.

© TSP/Cornelius Dieckmann

Nur manchmal höre er russisches Radio aus Kaliningrad. Da würden Lügen über Litauen erzählt, sagt Šunokas. „Neulich behaupteten sie, in unseren Läden gehe das Salz aus.“ Aber Angst? Nein. „Die Schüsse der russischen Armee hören wir in Kybartai schon immer.“ Ein paar Kilometer hinter der Grenze liegt ein Truppenübungsplatz. Als Kind ging Šunokas dort Patronenhülsen sammeln.

Vor ein paar Wochen riefen Journalisten an: Auf der russischen Seite würden Bäume gefällt, ob Šunokas glaube, dass dort Panzerschneisen entstünden? „Ich habe ihnen gesagt, dass wir auch Bäume fällen. Heißt das etwa, dass wir bald Panzer nach Russland schicken?“

Vor der russischen Grenze: Paris

Die letzte Siedlung Litauens liegt am Ende der Basanavičius-Straße, Kybartais einziger Verkehrsader. Aus nicht tradierten Gründen heißt das halbruinöse zweistöckige Haus „Paris“, im Ortskern gibt es noch das „Moskau“. Wer im „Paris“ wohnt, gehört zu den Ärmsten, manchen Wohnungen fehlen Fensterscheiben. Als Romas Šunokas aus dem Auto steigt, beschwert sich ein alter Mann mit Krücken, dass das Gras nie gemäht werde.

Ein alter Brunnen, leere Schuppen, ein Dixiklo – dahinter beginnt Kaliningrad.
Ein alter Brunnen, leere Schuppen, ein Dixiklo – dahinter beginnt Kaliningrad.

© TSP/Cornelius Dieckmann

Im Hof wuchert Löwenzahn, ein Hund liegt in einer Hütte, auf einem alten Brunnen steht ein rostiger Eimer. Und hinter den leeren Schuppen, am Dixiklo vorbei, da enden Litauen, die EU, die Nato. Das weiße Wohnhaus jenseits des schmalen Grenzstreifens liegt schon im russischen Örtchen Tschernyschewskoje.

Und hier soll ein Dritter Weltkrieg entbrennen können?

Romas Šunokas sagt: „Wir sind so nahe dran – wenn die Russen anfangen zu schießen, fliegt das über uns hinweg.“

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