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Vielen Dank für die Blumen: Mit das Schwierigste im Leben ist die Selbstbeurteilung. Hier freut sich Gerhard Schröder beim SPD-Parteitag 2003.

© picture-alliance / dpa/dpaweb

Tagesspiegel Plus

Hirnforscher Gerhard Roth im Interview: „Wie jemand Komplimente annimmt, verrät extrem viel über ihn“

Warum alle Menschen süchtig nach Anerkennung sind und manche Männer nie "Ich liebe dich" sagen: Hirnexperte Gerhard Roth über das größte soziale Schmiermittel.

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Der Neurologe Gerhard Roth erforscht seit Jahrzehnten, wie Komplimente wirken.

Herr Roth, manche Menschen sind der Meinung, eine unabhängige, souveräne Persönlichkeit brauche keine Komplimente.
Jeder braucht Komplimente. Jeder braucht Lob. Mit das Schwierigste im Leben ist ja die Selbstbeurteilung, da wäre es fast unmenschlich, zu sagen, ich benötige keine Rückmeldung. Wer das behauptet, hat vermutlich Angst vor Kritik. Trotzdem kenne ich sogar langjährige Beziehungen, da beklagt die Frau: Mein Mann hat mir nie gesagt, dass er mich liebt. Entweder hat er es nicht gelernt, weil seine Eltern das nie gesagt haben. Oder er hat verinnerlicht, dass er seine Gefühle nicht preisgeben darf, weil er sich verletzlich macht. Wie jemand Komplimente annimmt, verrät extrem viel über ihn. Auch wenn ich lobe, enthülle ich etwas.

Mark Twain fand: „Von einem richtig guten Kompliment kann ich zwei Monate leben.“ Warum wirken Komplimente so stark?
Weil sie Drogen sind. Von Kindheit an bis ins hohe Alter handelt unser Gehirn nur, wenn es dafür etwas kriegt. Und die wichtigste soziale Belohnung ist das Lob. In jedem von uns steckt das Kleinkind auf der Suche nach Anerkennung. Es gibt Leute, die sind süchtig danach, bis ins Psychopathologische hinein. Die große Mehrheit allerdings reagiert eher abwartend auf Komplimente.

Warum?
Wenn ich einem Studenten einen Aufsatz zu lesen gebe und der sagt: „Herr Professor, das haben Sie wunderbar geschrieben“, würde ich mich fragen: Will er sich bei mir einschleimen? Soll ich seine Doktorarbeit betreuen?

Unter Frauen können Komplimente Giftpfeile sein.

Gerhard Roth, Hirnforscher

Sie unterstellen einen Hintergedanken.
Komplimente sind nie ohne Hintergedanken. Außer, es sind rein formale Floskeln …

… also wertlose Äußerungen?
Überhaupt nicht! Sie dienen der Höflichkeit. Wenn ich eingeladen bin, muss ich zu Protokoll geben: „Vielen Dank für das schöne Abendessen.“ Egal, wie es mir geschmeckt hat. Wer es wirklich gut findet, sollte etwas drauflegen: „Kann ich das Rezept haben?“ Komplimente sind das Schmiermittel des normalen Umgangs. „Ihr Schal ist toll“ – das bedeutet: „Ich tu dir nichts.“

Eine Art Nichtangriffspakt?
Genau. Stellen Sie sich vor, Sie treten in einen Kreis fremder Menschen. Wollen die Böses oder Gutes? Da ist man froh, wenn jemand herzlich ist: „Ich freue mich, Sie persönlich kennenzulernen.“

Gerhard Roth beobachtet: Komplimente wirken in unserem Gehirn wie Drogen.
Gerhard Roth beobachtet: Komplimente wirken in unserem Gehirn wie Drogen.

© Privat

Trauen Sie sich zu, ein ehrlich gemeintes von einem strategischen Kompliment zu unterscheiden?
Das ist der Kern der Dinge. Oft bleibt eine Restunsicherheit.

Wer dem Eisverkäufer vor der Bestellung ein Kompliment macht, bekommt zehn Prozent mehr Ware – das hat die Uni Innsbruck herausgefunden.
Glaube ich sofort. „Das sieht aber lecker aus“ reicht oft schon.

Ist das Kompliment nicht auch etwas, das Verbindlichkeit schafft, einfach Freude bereiten soll?
„Also, Sie sehen blendend aus!“ – Jetzt freuen Sie sich, weil Sie denken, hoffentlich stimmt es. Oder Sie denken: Das kann nicht stimmen, ich hatte zwei schlaflose Nächte und müsste dringend Artikel schreiben. Im besten Fall ist so ein Kompliment als Ermutigung, im schlimmsten zynisch gemeint. Unter Frauen, das habe ich gelernt, können Komplimente Giftpfeile sein. „Ihr Kleid ist hinreißend.“ Das soll in Wahrheit heißen: „Sie sind overdressed.“

Viele Frauen wehren ein Kompliment routinemäßig ab: „Ach, diesen Pullover habe ich schon ganz lange, der war total günstig.“
Frauen neigen eher dazu. So klein sollte man sich nicht machen.

Unter Katholiken jedenfalls wird Bescheidenheit als gutes Verhalten angesehen.
Ach, das ist wie der Pharisäer, der sagt: „Lieber Gott, ich danke dir, dass ich so demütig bin.“ Das sind die Schlimmsten.

„Fishing for compliments“ durch Selbstkritik?
Komplimente geben und „Fishing for compliments“ sind ja zwei Seiten derselben Sache. Im „Fishing for compliments“ zeigt sich das tiefe Bedürfnis nach Anerkennung. Man nimmt sogar in Kauf, billige oder deplatzierte Anerkennung zu bekommen. Große Diktatoren umgeben sich ja deshalb mit Speichelleckern, damit sie immer hören: „Du bist der Größte.“ Donald Trump fragt jeden Einzelnen in der berühmten Kabinettssitzung nach seiner Meinung – und alle sagen, das größte Erlebnis in ihrem Leben sei es, unter ihm Minister zu sein.

Nichts ist schlimmer, als ein Kind dauernd unangemessen zu loben. Dann verbiegt sich seine Selbstwahrnehmung.

Gerhard Roth, Hirnforscher

Sie sprachen vorhin von dem Kleinkind in uns allen.
Die Jüngsten brauchen dringend viel Lob und Anerkennung. In vielen Biografien steht: „Meine Mutter hat mich nie in den Arm genommen.“ In aller Regel sind das die späteren Delinquenten. Andererseits ist nichts schlimmer als ein Kind dauernd unangemessen zu loben. Dann verbiegt sich seine Selbstwahrnehmung. Hitler wurde von seinem Vater verprügelt und von seiner Mutter vergöttert, genauso Stalin und Mao. Es ist immer diese unselige Kombination – zu viel Härte vom Vater, zu viel Lob von der Mutter. Und die junge Seele weiß nicht, wer recht hat.

Sie haben drei Kinder. Wie sieht der Mittelweg aus?
Ich habe versucht zu ermutigen, aber nie ungerechtfertigt zu loben. Das ist die größte Schwierigkeit. Warum lobe ich? Einmal, wenn das Kind Fortschritte macht. Dann, wenn es sich über dem Altersdurchschnitt bewegt und auch, wenn es sich große Mühe gegeben hat. Mein Sohn ist auch Hirnforscher und bis heute misstrauisch: Findet er das jetzt nur gut, weil er mein Vater ist?

Selbst ein ‘Wie läufst du denn rum?’ ist besser als gar kein Feedback.

Gerhard Roth, Hirnforscher

Andererseits ist man enttäuscht, wenn eine Reaktion ausbleibt. Jemand macht am Ende einer Präsentation einen mutigen Witz oder trägt eine gewagte Frisur – und niemand kommentiert das. Das ist wie eine Ohrfeige.
Ja. Selbst ein „ Wie läufst du denn rum?“ wäre besser. Wir sind Primaten. Das Wichtigste für unser Überleben ist das Verhältnis zu den anderen, zu wissen, was die jetzt von uns denken. Bringen die mich gleich um oder ernennen sie mich zum Chef?

Erinnern Sie sich an ein ausgebliebenes Lob?
Vor ein paar Jahren habe ich das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse bekommen, auf das ich sehr stolz war. Der Lokalzeitung war dies damals nur eine Kurznotiz wert. Doch wenn jemand aus der Kreisklasse den sechsten Platz gemacht hat, erscheint eine halbe Seite! Meine rationale Ebene sagt: „Reg dich doch nicht auf.“ Während das limbische System, die untere Etage, nach Anerkennung lechzt: „Selbst im Käseblättchen sollte das doch erwähnt werden!“

Ein folgenreiches Kompliment?
Als ich neun Jahre alt war, kam mein Klassenlehrer mit einem Ritterburgmodell unterm Arm auf mich zu. „Du interessierst dich doch für Ritter und Burgen, komm mal mit und erzähl den anderen Schülern was.“ Das wurde mein erster Auftritt als Vortragender. Lehrer können viel bewirken.

Sie haben mal gesagt, Lob halte länger als eine Gehaltserhöhung. Das wäre ja Wertschöpfung durch Wertschätzung.
Absolut, denn Motivation ist nichts anderes als Belohnungsaussicht. Was kriege ich dafür, wenn ich mich anstrenge? Die materielle Belohnung wirkt sofort, verliert aber schnell ihre Wirkung. Anerkennung ist der Schlüssel.

Das heißt, Unternehmen könnten eine Menge Geld sparen, wenn sie mehr loben würden?
Ja klar, die Steigerung der Bonuszahlung können sich ab einem gewissen Gehalt alle schenken. Viel schlimmer ist, dass in den höheren Etagen der deutschen Wirtschaft niemand mehr lobt.

Führungskräfte, heißt es, konzentrieren sich zu häufig auf diejenigen, die wenig Leistung bringen und vergessen dabei, denjenigen Anerkennung zu zollen, die auf einem hohen Level verlässlich arbeiten.
Selbst der, der Lob gewohnt ist, braucht es. Denn dann ist das Ausbleiben umso schmerzhafter. Außerdem gibt es eine Asymmetrie zwischen positiven und negativen Äußerungen. Negative wirken doppelt so stark.

Was halten Sie von dieser Beziehungsformel: Für jede Kritik sollte man fünfmal freundlich sein?
Ich habe eine Strichliste. Für jeden negativen Strich muss es einen positiven geben. Nehmen wir an, meine Partnerin hat was Blödes getan, dann hat sie mir ein tolles Essen gekocht. Letztlich wird immer unbewusst kalkuliert.

Eine der wichtigsten Botschaften an Führungskräfte: Ist die Anerkennung im Minus, werden die Leute minderleistend.

Gerhard Roth, Hirnforscher

Wirklich? Eine Beziehung beruht doch auf Großzügig- und Selbstlosigkeit!
Unsere unteren Hirnetagen rechnen sowieso. Dagegen kann man sich nicht wehren. Gute Beziehungen sind kein Selbstläufer: Wenn ich in einer Partnerschaft lebe, zeige ich einen bestimmten Einsatz, der mich etwas kostet. Und dafür will man Belohnung kriegen. Die Münze, mit der man bezahlt wird, muss nicht identisch sein.

Wie meinen Sie das?
Angenommen, die Frau ist hochintelligent, sieht gut aus – und hat dann so einen vermeintlichen Knilch zu Hause sitzen. Möglicherweise vermittelt er ihr Sicherheit oder kümmert sich um die Kinder. Die Rechnung muss für beide aufgehen.

Gibt es am Arbeitsplatz ähnliche Zählsysteme?
Definitiv. Sobald die Strichliste nicht stimmt und man eine Wahl hat, haut man bei der nächsten Gelegenheit ab. Das ist eine der wichtigsten Botschaften an Führungskräfte: Ist die Anerkennung im Minus, werden die Leute minderleistend.

Es heißt jedenfalls, dass Arbeitnehmer, die regelmäßig Gutes über sich hören, weniger krank werden.
Wenn wir gelobt werden, werden Endorphine ausgeschüttet. Die haben eine deutliche Auswirkung auf das Immunsystem und begünstigen die Schmerzunempfindlichkeit.

Gibt es einen Gewöhnungseffekt?
Manche Gefühle habe ich nur, weil mein Gehirn Erfahrungen bewertet und daraufhin bestimmte Chemikalien aussendet. So kann es sein, dass ich mich über die erste Gehaltserhöhung freue, beim zweiten Mal denke: „Ach, das war ja zu erwarten“ und sie mir beim dritten Mal egal ist. Dann löst dasselbe Ereignis eine unterschiedliche Wirkung aus, weil mein Gehirn gelernt hat.

Was halten Sie vom Rainer-Brüderle-Zitat „Sie können ein Dirndl auch ausfüllen“?
Heute weiß man: Es darf nicht sexistisch sein. Ich finde es übertrieben, sich total zurückzuhalten. Unser Umgang erfordert Komplimente. Meine Frau freut sich, wenn ich ihr sage: „Das steht dir gut.“ Sie will es sogar von mir wissen.

Der „Stern“-Bericht über Rainer Brüderle von Laura Himmelreich.
Der „Stern“-Bericht über Rainer Brüderle von Laura Himmelreich.

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Können Sie definieren, welche Komplimente noch erlaubt sind?
Ich doch nicht! Ich könnte höchstens sagen, welches mir selbst angenehm oder unangenehm ist.

Darf ein Professor einer Studentin in Zeiten von #metoo sagen, dass sie ein schönes Kleid trägt?
Ja. Wenn das völlig unverdächtig ist. Ich persönlich würde so was allerdings nicht sagen, es ist immer ein bisschen zweischneidig. Es kommt auf Situation und Ton an. Wichtig ist, dass die Empfängerin weiß: Der andere leitet daraus nichts ab.

Wiegt ein Kompliment schwerer, je origineller und spezifischer es ist?
Ja. Das dollste Kompliment der letzten Jahre habe ich von einem Philosophen bekommen, nachdem wir uns vor Publikum gefetzt hatten. „Herr Roth, mit dem hirnphysiologischen Quatsch in Ihrem Buch bin ich überhaupt nicht einverstanden, aber wie es ansonsten geschrieben ist – toll.“

Auch Kanzlerin Angela Merkel weiß: Die Menschheit giert nach Likes.
Auch Kanzlerin Angela Merkel weiß: Die Menschheit giert nach Likes.

© dpa

In den vergangenen Jahren hat die Menschheit gelernt, dass Anerkennung im Netz zu haben ist. Dort gieren alle nach Likes.
Einerseits. Andererseits gibt es dort enthemmte Hasstiraden. Die soziale Kontrolle hält uns ja zusammen. Wenn ich einsam für mich Botschaften schreibe, fällt die weg. Und unter starkem sozialen Stress werden die wirklichen Schweinehunde freigesetzt.

Das hieße, dass ganz unten im Menschen immer etwas Fieses ist?
Das wahre Ich gibt es nicht. Die Frage ist, wie durch Sozialisation, Erziehung und Erfahrung unsere tiefen animalischen Antriebe abgemildert werden. Hasstiraden, aber auch die Sucht, gemocht zu werden, sind ganz tiefe Anlagen in uns allen. Und das abgemilderte Ergebnis bin ja auch ich!

Ist die ausufernde Suche nach Bestätigung die Sucht unserer Zeit?
Nein, die gab es schon immer. Der alte Kaiser Nero hat in Griechenland Kämpfe geführt und vorher seinen Sieg per Dekret erlassen. Dann freute er sich, dass er immer gewonnen hat. Narzissten fallen auf sich selber rein. Ich will gelobt werden – wenn es nötig ist, auch durch mich selbst.

Sind wir alle ein bisschen Nero?
Wir gieren jeder auf unsere Weise nach Anerkennung – und spüren zugleich in Schule oder Beruf: Man darf das nicht zeigen.

Wie sähe eine Welt ohne Komplimente aus?
Ohne Lob kollabiert die Gesellschaft! Es gäbe einen sofortigen Motivationsverlust. Beziehungen würden nicht mehr angebahnt. Die Menschheit stürbe aus.

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