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Die Bandidos sind im Ruhrgebiet stark vertreten.

© pa/dpa/Gero Breloer

Über Interna, den Ehrenkodex und Straftaten: Jetzt reden die Rocker – wieso?

Normalerweise ist Schweigen Bruderpflicht. Doch im Lockdown geben einige Rocker plötzlich überraschende Interna preis. Ein Risiko.

Ein paar Monate will sich Ali Osman noch zurückhalten. Dann läuft seine Bewährungsfrist ab. Was anschließend passiere, wird nicht verraten, sagt Osman in die Kamera. Jedenfalls befinde er sich in der Form seines Lebens. Er habe sogar dazugelernt, während er in Ratingen bei Düsseldorf gemeinsam mit Dreifachmördern und Psychopathen seine Haftstrafe verbüßte. Er sagt, er habe sich dort „weitergebildet“.

Auf dem Tisch vor ihm liegen eine Axt und ein Totenkopf. Ali Osman, Mitte 40, ist Mitglied des Rockerklubs Satudarah. Er war auch mal Präsident der Ortsgruppe Duisburg - bis Fahnder ihn wegen Drogen- und Waffenhandels verhafteten, ein Gericht ihn zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilte. Später gab es noch einmal Nachschlag, wegen dieser Sache mit den Betreibern einer Tabledance-Bar in Recklinghausen. „Ich sag mal so, da wurde einem mit der Machete ins Gesicht geschnitten“, erzählt Ali Osman in dem Video.

Normalerweise schweigen Rocker in der Öffentlichkeit. Verraten keine Details über interne Strukturen, Regeln und schon gar nicht über begangene Straftaten. Die Geheimhaltung gilt als Bruderpflicht und Beleg der eigenen Verlässlichkeit, sie erschwert den Ermittlern ihre Arbeit, befeuert gleichzeitig Mythen und Gerüchte: Was mag in dieser Szene wohl schlimmes vor sich gehen, das unbedingt verborgen bleiben muss?

Ali Osman (rechts) zu Gast bei Deniz Ceylan.
Ali Osman (rechts) zu Gast bei Deniz Ceylan.

© Screenshot:Youtube

Umso mehr erstaunt ein Phänomen, das sich derzeit auf verschiedenen Online-Plattformen beobachten lässt. Rocker einschlägiger Klubs berichten auf Youtube, Twitch, Clubhouse und Instagram ausführlich über das Innenleben der Bruderschaften. Geben seit Monaten immer wieder in stundenlangen Sitzungen Interna preis.

Es ist nicht davon auszugehen, dass sie stets die Wahrheit sagen. Und doch gewähren sie Einblicke, die vor einem Jahr noch undenkbar gewesen wären. Manches, was sie erzählen, klingt äußerst brutal, manches unterhaltsam und anderes einfach nur traurig.

Wer die vorhandenen Videos sichten möchte, braucht dafür mehrere Tage. Und wird sich fragen, ob es wohl Zufall ist, dass die Rocker ausgerechnet in Pandemiezeiten zu Hause vor ihren Rechnern ins Plaudern geraten sind.

Ali Osman, das Satudarah-Mitglied, schildert anschaulich, wie er einst seinen eigenen Klub hochrüstete, um es mit den verfeindeten Hells Angels aufnehmen zu können. Unter Kokaineinfluss sei ihm eines Abends klar geworden: „Wir müssen uns bis an die Zähne bewaffnen.“ Bis zu 40.000 Euro habe er für Schusswaffen ausgegeben. Bezogen habe er diese über einen Ex-Söldner aus dem Balkan, geliefert wurde in großen Reisetaschen. Hätten ihn damals nicht Ermittler verhaftet, wäre „kein Stein auf dem anderen geblieben“, sagt er.

Ali Osman (zweiter von links) als Duisburger Satudarah-Präsident 2012.
Ali Osman (zweiter von links) als Duisburger Satudarah-Präsident 2012.

© Daniel Naupold /dpa

Ali Osman packt nicht auf seinem eigenen Kanal aus, sondern dem seines Bekannten Deniz Ceylan. Der ist 30 Jahre alt, aktuell ebenfalls auf Bewährung und war unter anderem bereits bei den Chicanos und den Bandidos. Auf seiner rechten Hand hat er eine 1 tätowiert, die steht für das eine Prozent der Motorradfahrer, die sich der Autorität des Staats nicht unterordnen wollen, sondern nach ihren eigenen Gesetzen leben.

Vergangenes Frühjahr kam Ceylan die Idee, auf Youtube erste Videos zu veröffentlichen. Da Shutdown war, bestellte er die benötigten Mikrofone bei Amazon. Seinen Kanal nennt er „Cengiz44TV“. Ceylan erzählt dort etwa, wie in Texas 300 Bandidos zu den Rivalen der Mongols überliefen. Oder wie in der Türkei Necati Arabaci, der ehemalige „Pate von Köln“ von den Hells Angels, festgenommen wurde. Oder wie Rocker am Dortmunder Borsigplatz einmal mehrere Wohnungen stürmten und dort Drogendealern mit vorgehaltenen Kalaschnikows die Ware abnahmen. Der Rockerchef hatte selbst Amphetamin hergestellt und wollte die Konkurrenz loswerden.

Die Szene habe auf sein Youtube-Projekt zunächst äußerst skeptisch reagiert, berichtet Ceylan in einem Video. Leute hätten sich gefragt: „Warum redet der so offen über unsere Rockerkultur?“ Ihm sei bewusst, dass er aufpassen müsse und niemanden „versehentlich in die Pfanne“ hauen dürfe, etwa indem er bestimmte Namen mit konkreten Straftaten in Verbindung bringe. Deniz Ceylan weiß: „Die Staatsanwaltschaft hört ja immer mit.“

Ohnehin solle bitte keiner glauben, dass ein Rockerleben nur aus kriminellen Aktivitäten bestehe. Es bestehe auch aus Partys, gemeinsamen Ausflügen und dem Erfüllen von Vereinspflichten. Zum Beispiel die Thekenschichten an der Bar. Niederrangige Rocker müssten Kühlschränke auffüllen und rund um die Uhr für Chauffeurdienste bereitstehen.

Die Staatsanwaltschaft hört ja immer mit

Deniz Ceylan

Eine weitere typische Aktivität nenne sich „Präsenz zeigen“. Also rivalisierenden Rockerklubs beweisen, dass man schnell viele Männer, am besten bewaffnet mit Äxten und Macheten, aufbieten könne - sobald sich etwa ein fremder Rocker in Terrain wage, das man für sich selbst beansprucht. Bei den Bandidos habe er ständig sein Handy in Bereitschaft gehabt und dann Befehle wie „Alle Mann nach Oberhausen“ erhalten: „Die Zeit war geprägt von Fehlalarmen, viele Leute haben Gespenster gesehen.“ Es gab aber auch Gewalt. Er selbst stand einmal in Oberhausen vor einem Casino, er sollte Präsenz zeigen, da wurde aus einem vorbeifahrenden Wagen drei Mal auf ihn geschossen. Ceylan blieb unverletzt.

Die Hells Angels und Bandidos zählen zu den weltweit größten Rockerklubs.
Die Hells Angels und Bandidos zählen zu den weltweit größten Rockerklubs.

© imago/Ritzau Scanpix

In einer anderen Sendung hat Deniz Ceylan detailliert vorgerechnet, welche laufenden Kosten einem Durchschnittsrocker entstehen: vom Vereinsbeitrag über die Versicherung des Motorrads über Benzinkosten und Sonderausgaben ergibt mindestens 750 Euro pro Monat, sagt Ceylan.

Andererseits könnten Rocker gutes Geld als Türsteher vor Diskotheken verdienen, indem sie die Drogendealer in den Läden unter Druck setzen und eine Gewinnbeteiligung fordern.

In Deutschland ist es Rockergruppen, deren Mitglieder immer wieder durch Straftaten auffielen und teilweise dem Organisierten Verbrechen zugeordnet werden, inzwischen verboten, ihre Symbole und Abzeichen in der Öffentlichkeit zu zeigen. Das uniformierte Auftreten wirke einschüchternd, heißt es. Im August 2020 bestätigte das Bundesverfassungsgericht das Verbot. Der Kläger, ein langjähriger Präsident der Stuttgarter Hells Angels, hatte sich darüber beschwert, dass er die entsprechenden Tätowierungen nur noch im Privaten präsentieren dürfe, sich im Schwimmbad aber praktisch den gesamten Rücken abkleben müsse. Deniz Ceylan nennt das Verbot eine „Frechheit“, sagt aber, dass es kaum etwas an den Aktivitäten der Klubs ändere.

Anton Boyka, Hells Angel aus Kassel.
Anton Boyka, Hells Angel aus Kassel.

© Screenshot:Youtube

Auch Anton Boyka, Mitglied bei den Hells Angels in Kassel, hat in der Pandemie seinen eigenen Youtube-Kanal eröffnet. In seinen Videos macht er Führungen durchs Klubhaus, zeigt das renovierte Fitnessstudio mit den einstellbaren Deckenleuchten, berichtet über Stimmungsschwankungen im Shutdown. Er veröffentlicht sogenannte Unboxing-Videos, in denen er sich dabei filmt, wie er Pakete mit Nahrungsergänzungsmitteln für den Muskelaufbau auspackt. Boyka betreibt zudem einen Instagram-Kanal, auf dem er häufig in Rockerkutte posiert und dazu Sinnsprüche verbreitet wie „Der beste Lehrer ist Dein letzter Fehler“ oder „Sei immer Du selbst, denn das Original ist immer wertvoller als die billige Kopie“.

Aggressiver klingen die Ansagen von Birkan B. aus Köln-Kalk. Auch er wird dem Umfeld der Hells Angels zugerechnet. Allerdings war er früher Mitglied bei den Kölner Bandidos. Während seiner Zeit dort habe er „so viele Taten begangen für den Klub“, doch die Bandidos hätten ihn verraten. Jedes Verbrechen, das man gemeinsam begangen habe, sei nachträglich allein ihm in die Schuhe geschoben worden. Birkan B. schimpft: „Der Bandidos MC ist ein Zinker-Verein“.

Birkan B. aus Köln-Kalk.
Birkan B. aus Köln-Kalk.

© Screenshot: Instagram

Deniz Ceylan, der Betreiber von „Cengiz44TV“, erzählt regelmäßig von Neid und Missgunst unter Klubmitgliedern, auch von Verrat. Von Ortsgruppen, die sich auflösen, weil ein Mitglied die Klubkasse veruntreut hat oder mit der Frau seines Klubbruders schlief.

Er erzählt auch von Mitgliedern, die fallen gelassen werden, sobald sie im Gefängnis landen. Deren Motorräder verkauft werden, um angeblich Anwaltskosten zu bezahlen, in Wahrheit aber, um sich selbst zu bereichern. Deren Ehefrauen zur Prostitution überredet werden, um so vermeintlich Geld für den inhaftierten Gatten zu verdienen. Dieses Geld werde ebenfalls einbehalten.

Wenn der Rockerbruder Türken hasst

Was er in den Klubs auch erlebt habe, sei Rassismus, sagt Deniz Ceylan. Gerade ältere Rocker wollten Migranten aus ihren Gruppen heraushalten. Ein besoffener Klubbruder habe abends an der Theke gesessen und ihm ins Gesicht gesagt, wie sehr er Türken hasse und wie gern er „diese ganzen Kanaken mit einer Axt köpfen“ würde. In den USA sind die Bandidos erbost darüber, dass europäische Bruderklubs auch nicht-weiße Männer bei sich aufnehmen. Deshalb haben sie ihr Logo geändert: Der füllige Bandit, der traditionell hinten auf der Kutte jedes Mitglieds prangt, hat bei den amerikanischen Brüdern nun blonde Haare.

Über die meisten Klubs äußert sich Ceylan diplomatisch, über manche aber deutlich. Bei den „Osmanen Germania“ etwa habe es sich um „Bodensatz“ gehandelt, deren Männer hätten sich „blamiert und lächerlich gemacht“. Die Hamburger Mongols hätten gar keine Erlaubnis gehabt, sich Mongols zu nennen, sie hätten sich mit fremden Federn geschmückt. Lediglich die Mongols aus Bremen seien offizielle deutsche Mongols gewesen.

Nach der anfänglichen Skepsis aus der Szene erhalte er inzwischen auch positive Reaktionen auf seinen Kanal, sagt Deniz Ceylan. Es gebe Rocker, die Interesse zeigten, selbst einmal in seiner Sendung aufzutreten und ihre Sicht zu schildern. Allerdings könne es bald auch zu Begehrlichkeiten kommen. Sollte sein Kanal noch populärer werden und sollte er mit den Videos am Ende Geld verdienen, könnten Rocker Gewinnbeteiligungen einfordern, so wie sie es bei Drogendealern und Prostituierten tun. Ceylan sagt schon jetzt: „Das läuft bei mir nicht.“

Bisher sei es ihm geglückt, in den Videos niemanden juristisch zu belasten. Nur gelegentlich bekomme er Anrufe von Rockern, die ihn bäten, dieses oder jenes Video zu löschen. In zwei Fällen habe er das auch getan.

Was für ein Kodex?

Ali Osman

Auf gar keinen Fall will er die Videos mit Ali Osman, dem Satudarah-Mann aus Duisburg, aus dem Netz nehmen. Innerhalb der Szene ist Osman sehr umstritten, weil er damals, nach seiner Festnahme, ein Geständnis ablegte und dabei auch eigene Klubbrüder belastete. Im Rockerkosmos macht ihn das zum „Zinker“, der den Ehrenkodex verletzt habe.

Auf Youtube wehrt sich Osman heftig: „Dieses Gelaber immer ... Was für ein Kodex? Jeder redet vom Kodex, aber ich möchte die Leute mal sehen, wenn die dann mal in so einer Situation stehen.“ Im Übrigen habe er damals lediglich gegen drei eigene Leute ausgesagt, und die hätten es verdient gehabt. Einer sei V-Mann gewesen. Leider hätten sich darüber hinaus viele seiner Mitstreiter versehentlich selbst belastet, indem sie allzu sorglos über Telefone kommunizierten, obwohl die Leitungen längst von Ermittlern abgehört wurden. Eine Anweisung wie „Bring mal Streckmittel!“ sei dann eben ungünstig.

Ali Osman heißt mit bürgerlichem Namen eigentlich Yildiray Kaymaz. Den Straßennamen habe er erhalten, weil er sich immerzu für die Schwachen einsetze.

Mittlerweile gibt es sieben Videos, in denen Ali Osman Details seines Rockerlebens preisgibt. Mal erteilt er Ratschläge („Der Schakal soll nicht vergessen, dass er ein Schakal ist), mal beschwert er sich über Kontrahenten („Warum macht der so ein Tora Bora?). Außerdem droht er dem Rapper Manuellsen. Dieser zählt zum Umfeld der Hells Angels und ist unter anderem dafür bekannt, dass er einmal versprach, er werde mit dem Motorrad nach Berlin fahren und dem Rapper Bushido eigenhändig eine Machete in den Kopf schlagen.

Eigentlich müsste man Manuellsen nun mehrere Finger abhacken, sagt Ali Osman und zeigt auf die Axt, die vor ihm auf dem Tisch liegt. Die genauen Hintergründe seines jüngsten Zwists sind derzeit noch unklar, doch Ali Osman droht: „Junge, dich kann keiner beschützen.“ Er sagt, er fühle sich gerade „wie ein Staudamm, der am Bröckeln ist.

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