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© Fotos: Harald Hauswald / Ostkreuz, Montage: TSP

Beim Springsteen-Konzert fotografiert: Wie ein Kfz-Mechaniker berühmt wurde – und es erst 34 Jahre später merkte

Der Fotograf Harald Hauswald machte 1988 in Weißensee ein Bild von Swen Nickel. Es hing in vielen Ausstellungen. Erst jetzt erfuhr Nickel davon. Wer war er damals?

Von Joachim Hentschel

| Update:

Die Geschichte, die im Sommer 2022 in einem Dessauer Biergarten ihr Finale finden sollte, mit einer erstaunlichen Enthüllung und einem unverhofften Wiedersehen, beginnt fast auf den Tag genau 34 Jahre vorher. Im Juli 1988, an einem leicht bewölkten Sommerabend in Berlin-Weißensee. Mit einem Geheimauftrag. Einer Aktion, die Polizei und Justiz der DDR sogar staatsfeindlich genannt hätten.

Harald Hauswald war damals 34 und Fotograf für die Ost-Berliner Stephanus-Stiftung. Parallel und heimlich arbeitete er an einem Projekt des westdeutschen Fernsehens mit. Der ARD-Korrespondent Hans-Jürgen Börner hatte ihn gebeten, Bilder aus dem Alltag von DDR-Jugendlichen zu liefern, für eine geplante TV-Doku. Also fotografierte Hauswald die trostlosen FDJ-Feiern, die Halbstarken auf ihren Simson-Mopeds und die schlumpfigen Punks. Ohne diesen Auftrag wäre er am 19. Juli 1988 vielleicht gar nicht zur Radrennbahn nach Weißensee gefahren. Zum Termin des Jahrhunderts, zu Bruce Springsteen.

Springsteen hatte damals den Gipfel seines Weltruhms erreicht. Dass ausgerechnet er in der DDR auftreten sollte, der Rock’n’Roll-Obersheriff der USA, und das auch noch bei einem Open-Air-Event, bei dem es unmöglich sein würde, den Einlass auf die Linientreuen vom SED-Applausometer zu beschränken – das war eine Sensation. Seriöse Schätzungen sagen, dass mehr als 200.000 Menschen kamen, aus allen Ecken der DDR. Selbstgebastelte Stars-and-Stripes-Flaggen wurden geschwenkt. Man sang Born in the USA“. Es knarrte im sozialistischen Gebälk, und zwar schwer.

Das größte Konzert seiner bisherigen Karriere: Mehr als 200.000 Menschen wollten den Boss 1988 in Weißensee sehen.
Das größte Konzert seiner bisherigen Karriere: Mehr als 200.000 Menschen wollten den Boss 1988 in Weißensee sehen.

© imago/BRIGANI-ART

Hauswald streifte im Bühnengraben herum, fotografierte die feiernden Leute und stoischen FDJ-Ordner. Gelassenes Beobachten war seine Stärke, auch hier im Tumult. Kurz blieb sein Blick an einer Gruppe von Jungs hängen, die es bis an die vordere Barriere geschafft hatten. Sie sahen gequält aus, gequetscht. Bis auf einen.

Der Kerl, vielleicht 18 oder 19, hatte längere dunkle Haaren, ein schönes Gesicht. Und er lächelte. Beseelt, fast entrückt, die Ellbogen zum Mitklatschen auf die Mauer gestützt. Hauswald setzte die Kamera an, nahm ihn in die Bildmitte. Drückte ab und ging weiter.

In die ARD-Doku schaffte es das Foto nicht. Dafür in diverse Ausstellungen und Bücher, im Lauf der Jahrzehnte, in denen das Konzert zur Legende wuchs. Ebenso wie Hauswald und seine ungestellten, kostbaren Schwarzweißbilder aus der Lebenszeit der DDR, die ja selbst langsam ein Mythos zu werden drohte.

Am Ende waren seine Schuhe weg, die Hose zerrissen, das Hemd auch. Am Bauch hatte Swen Nickel (Mitte) eine tiefrote Drucklinie, von der Kante des Wellenbrechers. 
Am Ende waren seine Schuhe weg, die Hose zerrissen, das Hemd auch. Am Bauch hatte Swen Nickel (Mitte) eine tiefrote Drucklinie, von der Kante des Wellenbrechers. 

© OSTKREUZ - Agentur der Fotografen GmbH

Und dann, im Jahr 2022, landete das Foto als Titelbild auf meinem neuen Buch. „Dann sind wir Helden“ heißt es, Untertitel: „Wie mit Popmusik über die Mauer hinweg deutsche Politik gemacht wurde“. Eine Art historische Reportage, deren Thema mich lange beschäftigt hatte. Zur Zeit des Springsteen-Konzerts war ich 18, lebte in Bayern. Und hatte auch vorher schon bemerkt, dass zwischen Osten und Westen, speziell zwischen BRD und DDR, ein sehr lebendiger kultureller Grenzverkehr hin- und herging.

„Solo Sunny“ gewann 1980 bei der Berlinale, im Deutschunterricht lasen wir Ulrich Plenzdorf. „Irgendwann geh ich fort, einfach so, einfach fort“, sang die Ost-Berliner Band Karat auf einer Platte, die ich im Neu-Ulmer Drogeriemarkt bekam, während in der „Tagesschau“ über DDR-Konzerte von Spider Murphy Gang und Udo Lindenberg berichtet wurde. Es waren nicht nur Episoden. Es war ein System, eine parallele, riskante, aber höchst funktionstüchtige Diplomatie.

200 Dosen Kaviar, die meisten landeten im Klo.

Wenn der ideologische Schutzschirm so undurchdringlich war, wie wir in der Schule gelernt hatten – wie konnte all das möglich sein? Der Sache wollte ich endlich auf den Grund gehen, zu spät war es ja noch nicht. Ich traf Künstlerinnen und Künstler von beiden Mauerseiten, spürte aber auch viele der Strippenzieher und Zwielichtgestalten auf, deren Namen nur im Kleingedruckten standen.

„Dann sind wir Helden“ von Joachim Hentschel, erschienen bei Rowohlt (26 Euro)
„Dann sind wir Helden“ von Joachim Hentschel, erschienen bei Rowohlt (26 Euro)

© Promo

Ich hörte die irre Geschichte des Westmanagers, der in den 70ern die Rechte an der „Internationalen“ kaufte und die SED für jeden Staatsakt zur Kasse bat. Ließ mir von den Testauftritten berichten, die DDR-Bands an der ukrainischen Pipeline-Baustelle spielen mussten, bevor man sie Richtung Westen reisen ließ.

Campino saß zwei Stunden in meinem Wohnzimmer und berichtete von den illegalen Ostblockkonzerten der Toten Hosen. Und Springsteens damaliger Konzertpromoter Marcel Avram erzählte, dass der Weißensee-Auftritt unter anderem mit 200 Dosen Kaviar bezahlt wurde. Den Großteil musste er am Ende ins Klo kippen.

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Meine Freundin und Covergestalterin Franziska Söhner stieß auf das Hauswald-Foto. Der junge Mann, der in höchster Bedrängnis etwas Großes zu sehen scheint, das die anderen nicht mal erahnen – es passte perfekt. „Dann sind wir Helden“ erschien Mitte Mai 2022. Jedes Mal, wenn ich es irgendwo sah, freute ich mich wieder. Der Jüngling wurde mein Freund. Obwohl ich keine Ahnung hatte, was die Zukunft ihm gebracht hatte.

Wir haben festgestellt, dass auf dem Cover womöglich mein Papa abgebildet ist.

Susi per Facebook-Messenger

An einem Mittwochabend saßen wir noch beim Essen, als eine Facebook-Nachricht eintraf. Absender: eine gewisse Susi, unbekannt, aber offensichtlich kein Spam. „Wir haben durch Zufall ihr Buch entdeckt“, schrieb Susi, „und festgestellt, dass auf dem Cover womöglich mein Papa abgebildet ist.“

Es war einer dieser Momente, in denen man sich wie in einer Soap-Opera mit exquisit schmalzigem Skript fühlt. Ist das möglich, gibt es das? Und als nächstes: Lebt der Mann noch? Das Beweisfoto traf kurz darauf ein. Einer von rund 200.000 Springsteen-Fans, auf einem über drei Dekaden alten Bild. Aber ja, er war es.

Dieses jugendliche Etwas. Er hat es noch.

Zwei Wochen später. Dessau, Stadtteil Roßlau, ein Biergarten am Südzipfel, kurz bevor die Wiesen losgehen. Man traut es sich kaum zu denken, aber Swen Nickel hat sich in den letzten drei Jahrzehnten kaum verändert. Ein paar Tage vorher ist er 53 geworden, aber dieses seltsame jugendliche Etwas, nach dem sich gerade alternde Männer sehnen, wenn sie Bilder von früher anschauen: Er hat es noch. Mustang-T-Shirt, Bermuda-Shorts. Federnde Sprungbereitschaft.

Auch Harald Hauswald ist da. 1988 bei Springsteen hat Nickel ihn gar nicht bemerkt. Er erfuhr nie, dass es das Bild von ihm gibt, das allein bei Hauswalds letzter großer Schau in der Galerie C/O Berlin mehr als 70.000 Menschen sahen.

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„Es war die reine Katastrophe“, erinnert sich Swen Nickel an Weißensee. „Ich habe da vorne praktisch um mein Leben gekämpft.“ Sein Freund Marco und er waren zusammen im Trabi angereist, zweieinhalb Stunden Fahrt von Artern in Thüringen aus. Erst standen sie hinten. Aber Nickel arbeitete sich weiter, immer weiter. Bis er plötzlich in der ersten Reihe stand und Springsteen in die Augen schaute. Das Gedrängel von hinten war massiv. Zwischendurch musste er helfen, die Umgefallenen nach vorn in den Graben zu hieven. Am Ende des Konzerts waren seine Schuhe weg, die Hose zerrissen, das Hemd auch. Am Bauch hatte er noch tagelang eine tiefrote Drucklinie, von der Kante des Wellenbrechers.

Dass er auf dem Foto dennoch so selig guckt, wie ein Erleuchteter, der eben gierig die gute Botschaft vernimmt – es kann nur an der Musik gelegen haben. An den Schwingungen, die von der Bühne aus direkt in seine Wellenlinie funkten. Er kannte Springsteen kaum. Marco hatte ihm die Karte geschenkt. Wenige Tage vorher, zu seinem 19. Geburtstag. Es war das erste Konzert im Leben von Swen Nickel, eine Erfahrung, die er gar nicht so richtig einordnen konnte. Aber an die er sich heute noch erinnert wie an einen Kuss aus dem Himmel.

Es lag ein Gefühl von Aufbruch in der Luft.

Harald Hauswald, Fotograf

„Es lag ein Gefühl von Aufbruch in der Luft“, sagt Hauswald. „So in der Art: Jetzt ändert sich was, auch politisch.“ Nickel zögert kurz. „Ja, eigentlich schon. Aber dass das alles zum Niedergang der DDR führen könnte, hätte ich nicht gedacht.“ Wir haben gelernt, das Springsteen-Konzert als historische Zäsur zu lesen. Für Swen Nickel war es vor allem ein privates Erdbeben. Zu einer Zeit, in der sich auch sonst viel änderte in seinem Leben.

Als Schüler war er erfolgreicher Ringer gewesen. Mit 13 gewann er die DDR-Meisterschaft, trainierte fünf Tage pro Woche. Als er mit 16 auf die Sportschule wollte, stellten die Ärzte ein Rückenleiden fest, von dem er selbst noch gar nichts gemerkt hatte. Also startete er eine Lehre als Kfz-Mechaniker, fuchste sich ins unbekannte Thema. Im Leistungssport, so sagt er heute, habe er gelernt, nie aufzugeben. Es half ihm nach der Wende. In der Zeit, als von heute auf morgen alles nicht nur neu, sondern verdammt ungewiss war.

Joachim Hentschel, Swen Nickel und Harald Hauswald. (v.l.n.r.)
Joachim Hentschel, Swen Nickel und Harald Hauswald. (v.l.n.r.)

© Harald Hauswald/Agentur Ostkreuz / Harald Hauswald/Agentur Ostkreuz

1990 zog Nickel nach Dessau, wegen einer Geliebten. Vier Jahre später eröffnete er eine kleine Autowerkstatt, neben einer Tankstelle. Es roch nach Himmelfahrtskommando, aber es wurde ein Riesenerfolg. Er ist immer noch dort, hat heute drei Angestellte und so viele Stammkunden, dass das Smartphone an manchen Tagen kaum Ruhe gibt. Um die Jahrtausendwende, als das Leben in Dessau schwieriger wurde, begann die große Abwanderung. Wer sich jung fühlte und eine Vision zu haben glaubte, ging Richtung Westen. Nickel blieb.

„Es können ja nicht alle abhauen. Ein paar müssen bleiben, um die Welt zu retten“, sagt er heute und lächelt genau wie auf dem alten Foto. „Als mein Kumpel mir das Buch zeigte, ,Dann sind wir Helden‘, und fragte: ,Bist du das nicht, Swen?‘, hab ich geantwortet: ,Der Held schon. Das andere? Weiß ich nicht.‘“ Noch jetzt bekomme er jedes Mal Gänsehaut, wenn er das Buchcover nur anschaue. Ein komplett unerwarteter Gruß aus der Vergangenheit, aus einer Jugend, der er aber kein bisschen hinterhertrauert. Denn, so sagt er es: „Jede Zeit war geil.“

Vor kurzem hat Nickel um die Ecke ein Gewerbegebäude gekauft. Mehr als 1000 Quadratmeter inklusive Parkplatz, derzeit lässt er es umbauen. Im Herbst will er hier die zweite, größere Werkstattniederlassung eröffnen. Mit zwei Hebebühnen und viel Platz, mit schöner, quasi-buddhistischer Arbeitsatmosphäre. Eine Art Arztpraxis für Autos. Guter Name für eine Vision, die jetzt wahr wird.

Und wenn Bruce Springsteen im Sommer 2023 wieder für Konzerte nach Deutschland kommt, wolle er vielleicht mal wieder hingehen. So aufregend wie damals wird es kaum werden. Aber die Euphorie von 1988, die ist bei ihm ja irgendwie nie weggegangen.

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