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Der Heinrichplatz am 2. Mai 1987, bei den ersten Mai-Krawallen wurde ein Bagger abgefackelt.

© S.T.E.R.N. Gesellschaft der behutsamen Stadterneuerung mbH

Der Heinrichplatz wird zum Rio-Reiser-Platz: Wo Mieter schon seit 150 Jahren ausgebeutet werden

Hier war Kreuzberg schon immer umkämpft, hier wussten sich die Menschen schon immer zu wehren: Eine Zeitreise rund um den Heinrichplatz.

Die klassizistischen Fassaden lassen nicht vermuten, wie elend es in den Höfen dahinter zugeht. Am Heinrichplatz ist kurz nach 1900 jeder Fleck bebaut, jeder Quadratmeter umkämpft. Die 1902 fertiggestellte Hochbahn der heutigen U1 ist nur ein paar Schritte entfernt, Passanten und Anwohner kaufen ihre Zeitungen an einem kleinen Kiosk. Das winzige Häuschen erinnert ein bisschen an einen Pilz, entworfen wurde es vom schwedischen Architekten Alfred Grenander. Den Kiosk gibt es noch immer. Er hat viel erlebt in den vergangenen 120 Jahren.

So wie der Heinrichplatz, dessen Häuser und Bewohner immer wieder dramatischen Veränderungen unterworfen waren. Immer wieder ging es um Wohnraum, Verdrängung – und die Frage, wem diese Ecke von Berlin-Kreuzberg gehört. Das wird sich auch nicht ändern, wenn er nun in Rio-Reiser-Platz umbenannt wird.

Seit fast 120 Jahren steht der Kiosk auf dem Heinrichplatz, er war auch schonmal ein Döner-Imbiss.
Seit fast 120 Jahren steht der Kiosk auf dem Heinrichplatz, er war auch schonmal ein Döner-Imbiss.

© Imago/F. Berger

Dabei war alles ganz anders gedacht. 1826 genehmigt König Friedrich Wilhelm III. von Preußen den Bebauungsplan des Köpenicker Feldes, so wird die ländliche Gegend südöstlich des damaligen Berlins genannt. Wenig später werden konkrete Entwürfe für Straßenzüge und die Blockstruktur einer planvollen Bebauung mit Wohn- und Geschäftshäusern vorgelegt.

Grün soll der neue Stadtteil werden, mit Promenaden, Wasserläufen und Schmuckplätzen, luftiger als die überfüllten und bisweilen von Elend geprägten Arbeiterbezirke in England.

Die Oranienstraße, die auch den Heinrichplatz durchschneidet, ist als Allee geplant, Bäume werden dort aber nie gepflanzt. Vermutlich aus Kostengründen.

Häuser hingegen werden gebaut in der neuen „Luisenstadt“, wie das entstehende Viertel getauft wird – in rasantem Tempo. Ab 1860 entstehen rund um den Heinrichplatz Mietshäuser, die meisten sind drei bis vier Stockwerke hoch. Nur fünf der Gebäude sind sofort an die städtische Wasserleitung angeschlossen, die meisten haben Brunnen auf dem Hof.

Die ersten Mieter sind niedrige Beamte und Angestellte, Kaufleute und Schutzmänner. Die Wohnungen sind gefragt, die Mietshäuser werden sofort zum Spekulationsobjekt. So wechselt das Haus Oranienstraße 196 von 1862 bis 1883 17 Mal die Eigentümer: Immer neue Besitzer hoffen auf eine Kapitalanlage mit hoher Rendite.

Verdichtetes Quartier: Die Gegend um den Heinrichplatz in einer Luftaufnahme von 1983.
Verdichtetes Quartier: Die Gegend um den Heinrichplatz in einer Luftaufnahme von 1983.

© S.T.E.R.N. Gesellschaft der behutsamen Stadterneuerung mbH

Um möglichst schnell Gewinn zu machen, lassen manche Eigentümer Menschen in die Wohnungen, bevor diese wirklich bezugsfertig und gesundheitlich unbedenklich sind. Der Besitzer des Hauses Oranienstraße 16 muss im Jahr 1862 fünf Taler Strafe zahlen, weil er bereits vermietet, bevor die vorgeschriebene Trockenfrist verstrichen ist. In der Studie „In der Luisenstadt. Studien zur Stadtgeschichte von Berlin-Kreuzberg“ ist auch nachzulesen, dass die Polizei in der Oranienstraße 12 einschreitet, weil mehrere Dienstmädchen lungenkrank sind: Die Küche im Keller ist voller Schwamm.

Als die Gegend durch zwei Linien der Pferdebahn besser an die Innenstadt angeschlossen wird, ziehen auch Ärzte und Fabrikanten hierher, die Wohnungen werden teurer. Im Städtischen Jahrbuch für Volkswirtschaft und Statistik 1874 heißt es über die Luisenstadt: „Die Mietbedingungen überstiegen fast allen Glauben.“

Vermieter legen es demnach regelrecht auf Vertragsbrüche an, um Mietern zu kündigen und die Mieten steigern zu können, Verträge für ein Jahr oder auch nur sechs Monate sind die Regel.

Die Oranienstraße entwickelt sich zur Einkaufsmeile, zu einer Art Ku’damm von Kreuzberg. Die Mietshäuser werden aufgestockt, bekommen Hinterhäuser und Seitenflügel. In den Höfen richten Handwerker ihre Werkstätten ein, es gibt Pferde- und Kuhställe, sogar in Kellerräumen. Nur wenige Toiletten für viele Menschen, kaum Licht und Luft, dafür Lärm und Schmutz, Ratten und Wanzen.

Wer es sich leisten kann, zieht weg. Statt der Beamten und Kaufleute wohnen am Heinrichplatz nun Näherinnen und Maurer. Die unterste Klasse bilden sogenannte „Schlafleute“, die gegen Miete nur ein kleines Nachtlager in den Wohnungen beziehen, fast ein Viertel der Haushalte in der Luisenstadt nehmen auf diese Art Handwerksgesellen und andere arme fremde Menschen auf.

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Anfang des 20. Jahrhunderts spielen kleine Kinder in Streusandkisten, die auf dem Platz aufgestellt werden, ältere Kinder widmen sich Prügeleien mit rivalisierenden Banden aus den Nachbarstraßen. Eine Tischlerei hilft der Heinrichplatz-Clique gerne mit Knüppeln, Stöcken und Keulen aus, um sich gegen die Naunyn-Clique zur Wehr zu setzen. So beschreibt es ein Zeitzeuge in der Studie „Lenné im Hinterhof. Die Geschichte eines Berliner Häuserblocks.“

Es gibt kleine Läden, Wirtshäuser, Kneipen. Unternehmen wie der Herrenausstatter Kusto oder Betten-Schonert siedeln sich an und bleiben Jahrzehnte.

Werbung des Herrenausstatters Kusto, Ender 1970er Jahre.
Werbung des Herrenausstatters Kusto, Ender 1970er Jahre.

© Friedrichshain-Kreuzberg Museum

Die Weltwirtschaftskrise stoppt den Boom und verschärft politische Spannungen. Anhänger von KPD, SPD und NSDAP prügeln sich in den 30er Jahren auf der Straße, die Polizei mischt mit, Anwohner schauen von oben zu, beteiligen sich mit Blumentöpfen und kochendem Wasser an den Schlachten. Zunächst sieht man in den Fenstern der Gegend noch viele rote Fahnen, das ändert sich, die zahlreichen jüdischen Bekleidungs- Schuh und Lebensmittelgeschäfte in den Nachbarstraßen müssen schließen, ihre Besitzer werden deportiert oder vertrieben.

Die Bombardierung im Krieg übersteht der Heinrichplatz fast unversehrt, das Leben kehrt zurück. Der Mauerbau allerdings macht die Gegend zum Randbezirk, hinter dem nahen Mariannenplatz ist die westliche Welt zu Ende.

Das „Erste Berliner Stadterneuerungsprogramm“ weist 1963 große Teile der Luisenstadt als Sanierungsgebiet aus, die Verwaltung will Berlin komplett neu strukturieren, in Wohn- und Gewerbegebiete unterteilen. Für die Gegend rund um den Heinrichplatz lautet der Befund: zu dicht bebaut, Bausubstanz zu schlecht, Sozialstruktur zu schwach, Verslumung droht. Die Lösung: umsiedeln, abreißen, neu bauen. Auf dem Oranienplatz wird ein Autobahnkreuz geplant.

Die Planungen setzen die befürchteten Entwicklungen erst wirklich in Gang. Eigentümer hören auf, ihre Häuser instandzuhalten, setzen stattdessen auf Entmietung und öffentlich geförderten Abriss. Andere Vermieter holen sich Gastarbeiter aus der Türkei in ihre maroden Wohnungen – mit der Absicht, sie schnell rauswerfen zu können, wenn abgerissen wird. Verrammelte Läden, verrottete Gewerbehöfe und verfallende Häuser prägen das Bild.

Ton Steine Scherben mit Rio Reiser (2.v.l.) 1972 auf den Straßen Kreuzbergs.
Ton Steine Scherben mit Rio Reiser (2.v.l.) 1972 auf den Straßen Kreuzbergs.

© Ullstein bild

Eine Geisterstadt, die kaum vorstellbar ist angesichts der Lebenslust, die heute rund um den Platz spürbar ist. Auch wenn der Wohnraum 2021 erneut knapp ist.

„Wir brauchen keine Hausbesitzer. Denn die Häuser gehören uns“, singen 1972 Rio Reiser und Ton Steine Scherben. „Aus dem Weg, Kapitalisten! Die letzte Schlacht gewinnen wir.“

Besetzte Häuser gehören in den 70er und 80er Jahren rund um den Heinrichplatz zum Stadtbild.
Besetzte Häuser gehören in den 70er und 80er Jahren rund um den Heinrichplatz zum Stadtbild.

© Günter Fuderholz/S.T.E.R.N. Gesellschaft der behutsamen Stadterneuerung mbH

Das ist der Soundtrack, zu dem die alternative Szene leer stehende Häuser besetzt, Wohnungen und Gebäude in Eigenregie wieder herrichtet – gegen den Widerstand der Eigentümer und der Berliner Politik. Es ist auch der Soundtrack, zu dem Steine auf Polizeiwagen fliegen. Die linke Kiez-Zeitung „Südost-Express“ titelt 1978, einsehbar im Archiv des Friedrichshain-Kreuzberg Museums: „Die Modernisierung rollt! Aber wer kann es sich morgen noch leisten, in Kreuzberg zu wohnen?“

1980 stehen in den Häusern am Heinrichplatz elf Läden und 53 Wohnungen leer, in der näheren Umgebung sind es mehr als 2000. Der südöstlich vom Heinrichplatz gelegene Häuserblock überlebt diese Phase nicht. Ein paar Jahre lang üben Soldaten der US-Armee hier ab und zu noch den Häuserkampf, dann wird ein Großteil der Gebäude abgerissen.

1983 rückt der Senat von seiner fehlgeschlagenen Strategie ab, stattdessen sollen „neue Formen der Stadtentwicklung unter Einbeziehung der Selbsthilfe von Betroffenen“ erprobt werden. Viele besetzte Häuser werden legalisiert. Statt von „Kahlschlagsanierung“ spricht man nun von „behutsamer Stadterneuerung“.

Hindernislauf am Heinrichplatz, 1987.
Hindernislauf am Heinrichplatz, 1987.

© S.T.E.R.N. Gesellschaft der behutsamen Stadterneuerung mbH

Die Gegend wird attraktiv für junge Menschen, neue Kneipen entstehen, alte bekommen wieder mehr Zulauf. Friedlich wird es dadurch nicht. Bei den ersten Mai-Krawallen 1987 ist der Heinrichplatz einer der Brennpunkte, ein gegenüber von Kusto geparkter Bagger wird abgefackelt.

Ein Kreuzberger Original, das Unesco-Weltkulturerbe sein wollte: die Kneipe „Zum goldenen Hahn“.
Ein Kreuzberger Original, das Unesco-Weltkulturerbe sein wollte: die Kneipe „Zum goldenen Hahn“.

© FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum, Sammlung Südost-Express, Fotograf/in unbekannt

Ende der 80er Jahre wird auch der Grenander-Kiosk für 140.000 DM renoviert, ein Jahr lang dauern die Bauarbeiten, dann zieht ein alkoholfreier Imbiss ein.

Mit dem Mauerfall rückt Kreuzberg 36 wieder ins Stadtzentrum, zieht Menschen aus aller Welt an. Die Mieten steigen, die Ur-Einwohner am Heinrichplatz fürchten erneut, verdrängt zu werden. Die Eckkneipe „Zum goldenen Hahn“ beantragt 1999, zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt zu werden, vergeblich. Politisch links bleibt der Kiez, 2001 erreicht die PDS rund um den Heinrichplatz den höchsten Stimmenanteil aller ehemaligen West-Berliner Wahlkreise, im selben Jahr zieht eine Sushi-Bar in die Räume des Herrenausstatters Kusto. Zwischen 2007 und 2018 steigen die Mieten in Kreuzberg um 114 Prozent.

Das Berliner Amtsblatt vermeldet im April 2021 in seiner Ausgabe Nr. 16, 71. Jahrgang: „Gemäß dem Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung, DS/1436/V wird hiermit die Umbenennung, der im Ortsteil Kreuzberg gelegenen öffentlich gewidmeten Platzfläche Heinrichplatz, Flurstück 346 der Flur 197 der Gemarkung Kreuzberg in Rio-Reiser-Platz ausgesprochen.“

Den Grenander-Kiosk hat heute ein „Asia Wok“-Imbiss bezogen, gebratene Nudeln mit Hühnerfleisch und Gemüse gibt es für 3 Euro.

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