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© Getty Images, Associated Press, Picture Alliance, Imago, Reuters, privat; Montage: Manuel Kostrzynski

Die Geschichten hinter den Bildern des Ukraine-Krieges: Was aus den Menschen auf diesen Fotos wurde

Die Schwangere von Mariupol, Selenskyj im Krankenhaus: Fotos prägen unser Bild vom Ukraine-Krieg. Hier haben wir recherchiert, was danach passierte.

Eine Mutter trotzt den Bomben. Eine Brücke schützt eine fliehende Stadt. Ein Präsident spricht zur Welt. Russlands Invasion der Ukraine verdichtet sich in Fotografien und Videos, die für mehr stehen als das, was sie zeigen. Acht Momente, die das visuelle Gedächtnis des Kriegs geprägt haben – und was aus den Menschen wurde, die sie erlebten:


1. Die Flucht mit den Hunden

Nastya Tikhaya kurz nach Beginn des Angriffskrieges.
Nastya Tikhaya kurz nach Beginn des Angriffskrieges.

© Christopher Occhicone/Redux/laif

Als Nastya Tikhaya Anfang März zu Fuß aus Kiews unter Beschuss geratenen Vorort Irpin floh, nahm sie etliche Hunde mit. Einige von ihnen waren schwer behindert. Sie stammten aus dem örtlichen Tierheim, das Tikhayas Eltern betreiben. Dass sich ihr Foto weltweit verbreitete, wundere sie nicht, sagt Nastya Tikhaya dem Tagesspiegel: „Die meisten Menschen lieben doch Hunde.“

Sämtliche Tiere konnten mittlerweile vermittelt werden, die meisten an Familien im Ausland. Einzelne wurden von ihren alten Besitzern abgeholt, die bei Kriegsausbruch nach Polen geflüchtet waren und ihre Hunde im Ort zurückgelassen hatten. Nastya Tikhaya lebt inzwischen wieder in Irpin, hilft im Tierheim der Eltern.

Nastya Tikhaya heute.
Nastya Tikhaya heute.

© privat

Der zerstörte Ort ist nun häufiges Besuchsziel für ausländische Politiker: Binnen einer Woche kamen kürzlich die Schweizer Nationalratspräsidentin, der UN-Generalsekretär, der dänische Außenminister und zuletzt CDU-Chef Friedrich Merz. Nastya Tikhaya sagt: „Irpin ist jetzt sicherlich nicht mehr so wie früher, aber es ist immer noch unsere Lieblingsstadt.“ Dank ihrer Fluchtaktion konnten neben den Hunden auch ein Chamäleon, ein Hamster und eine Schildkröte gerettet werden.


2. Die Geburt im Luftschutzkeller

Alona Lykholit in der Geburtsklinik in Kiew.
Alona Lykholit in der Geburtsklinik in Kiew.

© privat

Kurz nach Kriegsbeginn brachte Alona Lykholit ihr zweites Kind zur Welt – im Keller einer Geburtsklinik in Kiew. Bald darauf floh sie nach Deutschland. „Zuerst wollte ich nicht weggehen“, sagt sie. Aber dann habe sie entschieden, die Kinder aus dem Gefahrengebiet zu bringen.

Ihr Mann blieb in Kiew. Freunde der Familie boten eine Wohnung in München an. Mit beiden Kindern setzte Alona Lykholit sich ins Auto und fuhr westwärts, zunächst nach Lwiw. Die Straßen seien voller Autos gewesen, erzählt Lukholit, sie habe Umwege fahren müssen wegen des Beschusses. An unzähligen Checkpoints seien ihre Papiere kontrolliert worden. Zwischendurch musste sie anhalten, um das Baby zu stillen.

Zwei Tage benötigte sie, für eine Strecke, die in Friedenszeiten sieben Stunden beansprucht. In Lwiw blieb sie fünf Tage, fuhr dann über Polen und Tschechien nach München. Dort wohnt sie nun.

Alona Lykholit heute in ihrem neuen Zuhause in München.
Alona Lykholit heute in ihrem neuen Zuhause in München.

© privat

„Die Fahrt war hart“, sagt Lukholit. Doch erst nach der Ankunft, als die Anspannung abfiel, sei ihr wirklich bewusst geworden: Seit der Geburt hatte sie keine Minute Ruhe gehabt. Der ältere Sohn ist sechs Jahre alt. „Er war sehr nervös nach der Fahrt.“ Inzwischen habe er sich aber eingewöhnt, gehe in den Kindergarten. 


3. Der Bürgermeister der belagerten Stadt

Bürgermeister Vladyslav Atroshenko vor den Trümmern seiner Stadt.
Bürgermeister Vladyslav Atroshenko vor den Trümmern seiner Stadt.

© Privat

38 Tage lang war Tschernihiw im Norden des Landes von russischen Truppen umzingelt, wurde massiv beschossen und bombardiert. Bürgermeister Vladyslav Atroshenko bat die Welt um Hilfe, hier vor den Trümmern eines alten Kinos unweit seines ebenfalls verwüsteten Amtssitzes.

Seit sich die Angreifer am 4. April aus der Region zurückzogen, läuft der Wiederaufbau. Mittlerweile haben 85 Prozent der Einwohner von Tschernihiw fließendes Wasser, 90 Prozent haben Gas. Bis Mitte Juli soll das Stromnetz in der ganzen Stadt repariert sein. Von den 230 Bussen sind 65 intakt geblieben. Nächste Woche soll die erste Buslinie wieder fahren. Als Bürgermeister wolle er unbedingt verhindern, dass Unternehmen die Stadt verlassen, sagt Vladyslav Atroshenko dem Tagesspiegel.

Bürgermeister Vladyslav Atroshenko heute, der Wiederaufbau von Tschernihiw hat begonnen.
Bürgermeister Vladyslav Atroshenko heute, der Wiederaufbau von Tschernihiw hat begonnen.

© privat

Auch deshalb habe die Reparatur der Infrastruktur Priorität. Die Folgen des Kriegs durchziehen alle Lebensbereiche: Von den 34 Schulen wurden 27 zerstört oder beschädigt. Schwimmen im Freien ist untersagt, weil auf dem Grund der Stauseen viele Granaten und Minen vermutet werden. Auch der Friedhof bleibt vorläufig gesperrt. Die Russen haben ihn vermint.


4. Die Botschaft aus der Bankowa

Einen Tag nach Kriegsbeginn zeigt sich Präsident Selenskyj. Er harrt in Kiew aus. Ein Signal an die ganze Welt.
Einen Tag nach Kriegsbeginn zeigt sich Präsident Selenskyj. Er harrt in Kiew aus. Ein Signal an die ganze Welt.

© picture alliance / ZUMAPRESS.com

Kurz schien es, als sei der Präsident verschwunden. War er geflohen? Am Abend des 25. Februar, dem Tag nach Kriegsbeginn, filmte Wolodymyr Selenskyj vor dem Präsidialamt in der Kiewer Bankowa-Straße ein 33-sekündiges Selfie-Video, das der Welt endgültig zeigen sollte: Er würde bleiben.

„Unsere Soldaten sind hier, unsere Bürger sind hier, wir sind alle hier“, sagte er umgeben von seinem Berater Podoljak, Ministerpräsident Schmyhal, Präsidialamtsleiter Jermak und dem Fraktionschef seiner Partei Arachamija. Es ist ein Schlüsselmoment im Krieg der Bilder gegen die militärisch übermächtigen Angreifer. Im Schummerlicht der nächtlichen Hauptstadt entsteht die Stimme einer geeinten Nation.

Fast täglich wendet sich Selenskyj jetzt per Videobotschaft an sein Land und die Welt.
Fast täglich wendet sich Selenskyj jetzt per Videobotschaft an sein Land und die Welt.

© Screenshot/TSP

Der zuvor umstrittene Präsident wird nun selbst von früheren politischen Gegnern als standfestes Staatsoberhaupt anerkannt – und der ehemalige Schauspieler Selenskyj wird zum Social-Media-Präsidenten. Der Gruß am Ende vieler seiner Botschaften ist noch heute der gleiche wie in jenem Handyvideo vom 25. Februar: „Slawa Ukraini“ – Ruhm der Ukraine.


5. Die Lehrerin mit dem blutigen Gesicht

Olena Kurilo kurz nach dem Raketenangriff in Tschuhujiw.
Olena Kurilo kurz nach dem Raketenangriff in Tschuhujiw.

© Anadolu Agency via Getty Images

Das Bild ihres blutverschmierten Gesichts wurde vom ersten Kriegstag an zum Inbegriff der russischen Kriegsverbrechen gegen die ukrainische Bevölkerung. Olena Kurilo glaubt, dass sie den Raketenangriff auf ihr Wohnhaus im ostukrainischen Tschuhujiw nur dank einer höheren Kraft überlebt hat: „Ich habe großes Glück. Ich muss einen Schutzengel haben“, sagte sie nach dem Angriff.

Er zerstörte das Wohnhaus der 52-jährigen Lehrerin und tötete Augenzeugenberichten zufolge ein 13-jähriges Mädchen, das dort wohnte. 20 weitere Menschen wurden verletzt, darunter auch Kurilo, die durch umherfliegende Glassplitter Schnittwunden am ganzen Gesicht erlitt. Auch ihre Augen wurden dabei verletzt. Provisorisch wickelte sie sich ein Tuch um den Kopf, um die Blutungen zu stoppen. Als sie vor den Ruinen ihres Hauses stand, machte der Fotograf Wolfgang Schwan das Bild von ihr, das sie noch am selben Tag weltberühmt machen sollte.

„Es ist schrecklich anzusehen, aber ich musste das Foto machen“, sagte Schwan später. Dass es sich derart verbreiten würde, habe er nicht erwartet. Die Künstlerin Zhenya Gershman, Enkelin des ukrainischstämmigen sowjetischen Dichters Michail Matusovsky, war so berührt von Kurilos Ausdruck auf dem Bild, dass sie ihn aus künstlerischem Protest gegen den Krieg auf Leinwand verewigte.

Olena Kurilos Leid wurde als Kunstwerk festgehalten.
Olena Kurilos Leid wurde als Kunstwerk festgehalten.

© IMAGO/Cover-Images

Olena Kurilo ist mittlerweile aus der Ukraine geflohen und war Medienberichten zufolge in einem polnischen Krankenhaus in Behandlung. Laut ihrer Tochter erholt sie sich derzeit von ihrer Operation.


6. Die Überlebende, die den Angriff leugnet

Marianna Wischegirskaja am 9. März auf der Flucht aus der Geburtsklinik von Mariupol.
Marianna Wischegirskaja am 9. März auf der Flucht aus der Geburtsklinik von Mariupol.

© picture alliance / AP Photo/Evgeniy Maloletka

Sollte Mariupol nach den ersten beiden Kriegswochen noch kein Symbol für die Brutalität der Invasion gewesen sein, wurde es am 9. März dazu. Wenige Tage nach der Einkesselung der Stadt traf ein Luftschlag das 3. städtische Krankenhaus, eine Geburts- und Kinderklinik.

Laut Stadtverwaltung sterben fünf Menschen, darunter eine Schwangere mit ihrem Ungeborenen. Der AP-Reporter Evgeniy Maloletka fotografierte die ebenfalls hochschwangere Marianna Wischegirskaja, wie sie, im Schlafanzug und mit Gesichtswunden, das beschädigte Klinik-Treppenhaus hinunterläuft. Zwei Tage später brachte sie ihr Baby zur Welt.

Moskaus Propaganda behauptete, Wischegirskaja, eine bekannte Beauty-Influencerin, sei eine Schauspielerin, im Krankenhaus seien keine Schwangeren gewesen. Anfang April meldete sich Wischegirskaja dann überraschend aus Russland, wo sie dem Blogger Denis Selesnew ein Interview gab. Auf einem Sofa sitzend, sagte sie, es habe keinen Luftangriff auf die Klinik gegeben.

Marianna Wischegirskaja leugnete später - vermutlich unter Druck - öffentlich, dass es einen Angriff gab.
Marianna Wischegirskaja leugnete später - vermutlich unter Druck - öffentlich, dass es einen Angriff gab.

© Screenshot/TSP

Die Umstände des Gesprächs blieben unklar. Dass russische Behörden es verbreiteten, legt nahe, dass sie nicht frei sprach.


7. Die zerstörte Brücke von Irpin

Ukrainer versammeln sich am 5. März an der zerstörten Brücke von Irpin. Sie wollen den Fluss überqueren.
Ukrainer versammeln sich am 5. März an der zerstörten Brücke von Irpin. Sie wollen den Fluss überqueren.

© Foto: AP/picture alliance/Emilio Morenatti

Um ein Vorrücken des Feindes in die Hauptstadt zu verhindern, sprengten ukrainische Soldaten Ende Februar die Brücke des Kiewer Vororts Irpin. Tausende Bewohner mussten in den Folgewochen über notdürftig ausgelegte Holzplanken evakuiert werden.

Unter intakt gebliebenen Brückensegmenten suchten die Wartenden Schutz vor Artillerie-Schlägen, bis sie an der Reihe waren. Mittlerweile haben Russlands Truppen die Region verlassen, doch von den einst 50 000 Einwohnern leben heute nur noch 4000 in Irpin. 80 Prozent der Gebäude sind unbewohnbar, in manchen Trümmern wird weiterhin nach Leichen gesucht. Auf einer Brachfläche plant die Stadtverwaltung ein neues Wohngebiet, Joint Ventures sollen die schnelle Bebauung garantieren.

Neben der zerstörten Brücke wurde mittlerweile eine Ersatzbrücke aus Schotter improvisiert.
Neben der zerstörten Brücke wurde mittlerweile eine Ersatzbrücke aus Schotter improvisiert.

© IMAGO/Lehtikuva

Wann die zerstörte Brücke repariert wird, ist ungewiss. Aber gleich nebenan wurde eine provisorische Ersatzbrücke aus Schotter aufgeschüttet, sodass der Autoverkehr nun wieder fließt und Baumaterialien leichter in die Stadt gebracht werden können. Ein Fünftel der Bewohner Irpins lebte erst seit acht Jahren in der Stadt – sie waren 2014 vor den Kämpfen aus dem Donbass geflüchtet.


8. Das Mädchen und der Präsident

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj besucht die 16 Jährige Katja Wlasenko in einem Kiewer Krankenhaus.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj besucht die 16 Jährige Katja Wlasenko in einem Kiewer Krankenhaus.

© picture alliance/dpa/President Of Ukraine/ZUMA Press Wire Service

Als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am 17. März, drei Wochen nach Russlands Überfall auf die Ukraine, das Krankenhaus in Kiew besuchte, waren die Schüsse auf Familie Wlasenko erst ein paar Tage her. In der Klinik sprach Selenskyj mit der 16-jährigen Katja Wlasenko.

Kurz nachdem sie und ihre Familie ihr Haus in Worsel nordwestlich von Kiew verlassen hatten, wurde sie im Auto beschossen. Katja trafen Kugeln, als sie ihren achtjährigen Bruder Igor mit ihrem Körper schützte. Auch Tetjana, Katjas Mutter, wurde verletzt.

Über den Besuch ihres Präsidenten habe sie sich gefreut, sagt Katja dem Tagesspiegel. Wenige Tage später konnte die Familie nach Berlin ausreisen, Katja und ihre Mutter wurden im Virchow-Klinikum der Charité versorgt. Inzwischen sind die beiden entlassen worden, das Laufen fällt noch ein bisschen schwer.

Katja Wlasenko in Sicherheit bei einem Gespräch in der Berliner Charité.
Katja Wlasenko in Sicherheit bei einem Gespräch in der Berliner Charité.

© Hannes Heine

Sobald der Krieg vorbei ist, will die Familie zurück. Katja sagt, sie vermisse ihre Freunde, von denen die meisten noch in der Heimat leben. Das Foto des Besuchs von Präsident Selenskyj kennt nicht nur in der Ukraine fast jeder. Auf Tiktok hat Katja inzwischen 34.000 Follower. 

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