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Gedenkstein für Tajala und Homa

© Kim Winkler

Doppelmord in Berlin-Marzahn : Sitzt der Richtige auf der Anklagebank?

Seit Monaten läuft der Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder von Homa Zaher und ihrer neunjährigen Tochter. Doch es gibt Zweifel – und Kritik an den Ermittlern

Einmal fällt bei Ahmad Zaher der Kopfhörer aus. Über den hört er sonst die Stimme des Dolmetschers, der alles, was in Saal 501 verhandelt wird, auf Farsi übersetzt. Ahmad Zaher nimmt das Gerät ab, beäugt es, setzt es wieder auf. Nichts tut sich.

Der Mann, der als Erstes reagiert und Hilfe anbietet, sitzt auf der gegenüberliegenden Seite des Saals: Ali H. setzt seinen Kopfhörer ab, streckt ihn durch die Aussparung in der Panzerglasscheibe hindurch in Zahers Richtung, nickt, als wolle er sagen: schon okay.

Ali H. ist der Mann, der laut Staatsanwaltschaft Ahmad Zahers Frau umgebracht haben soll. Und dessen neunjährige Tochter. Auf eine Art, die so grausam ist, dass in diesem Text auf einige Details der Tat verzichtet wird.

Zaher zögert. Es findet sich ein anderer Kopfhörer.

Der Prozess läuft seit September 2020

Von der Öffentlichkeit wird der Prozess, der seit September 2020 vor dem Berliner Landgericht verhandelt wird, kaum wahrgenommen. Wie auch die Tat selbst, bei der vor mittlerweile anderthalb Jahren in einem Marzahner Plattenbau Homa Zaher und ihre Tochter Tajala ums Leben kamen. Die Staatsanwaltschaft hält einen 33-jährigen Afghanen, der im selben Haus lebte, für den Täter. Er soll aus Habgier gemordet haben.

Doch es gibt Zweifel.

Der Verteidiger des Angeklagten spricht von „grottenschlechten Ermittlungen“. Auch die Anwältin des Witwers, der dem Prozess als Nebenkläger beiwohnt, sagt, es sei einseitig nachgeforscht worden. Unerklärlich sei insbesondere, weshalb die Polizei sehr früh eine rassistische Tat ausgeschlossen habe. Zumal Homa Zaher Freundinnen vor ihrem Tod mehrfach von rassistischen Anfeindungen berichtet hatte, sich in ihrer Nachbarschaft nicht sicher fühlte.

Die Staatsanwaltschaft weist diesen Vorwurf zurück. Selbstverständlich sei in alle Richtungen ermittelt worden.

Die geringe öffentliche Beachtung des Doppelmords und seiner Aufarbeitung könnte daran liegen, dass er Ende Februar 2020 geschah, als die Corona-Pandemie nach Deutschland schwappte und bundesweit die Nachrichten dominierte. Aber wäre das Verbrechen auch so wenig beachtet worden, wäre es nicht in Marzahn, sondern in Mitte geschehen – und hätten die Opfer nicht Homa und Tajala geheißen, sondern Maria und Annika?

Die Zahers kamen 2014 als Geflüchtete nach Deutschland, Ahmad war in der Heimat mit dem Tod bedroht worden. Nicht von religiösen Fanatikern, sondern von der Drogenmafia. Der Familienvater war Sozialarbeiter, betreute Rauschgiftsüchtige und hatte Umschlagplätze der Dealer an die Polizei verraten.

In Berlin lebten die Zahers im achten Stock des Plattenbaus in der Wörlitzer Straße. Die neunjährige Tochter besuchte die Grundschule direkt gegenüber. Am 29. Februar 2020, einem Sonnabend, half Ahmad Zaher auf einem Wochenmarkt in Schöneberg aus. Als er nach Hause kam, ließ sich die Wohnungstür nicht öffnen. Wie sich später herausstellte, steckte ein abgebrochener Schlüssel von innen im Schloss. Erst der Schlüsseldienst bekam die Tür auf.

Homa und Tajala Zaher
Homa und Tajala Zaher

© privat

In dem Durcheinander, das der Ehemann vorfand, war seine Frau Homa zunächst gar nicht zu sehen. Ihre Leiche lag unter einem Berg aufgetürmter Decken, Matratzen und Jacken versteckt. Bei der Obduktion zählten die Ermittler 37 Messereinstiche. Sie sprechen von „Übertötung“. Die Leiche der Tochter lag im Badezimmer, den Kopf in die Toilettenschüssel getaucht. Zuvor war sie erwürgt worden.

Einen Monat später nahm die Polizei Ali H. unter dringendem Tatverdacht fest. Ein guter Bekannter, der mit seiner Familie vier Etagen unter den Zahers wohnte. Seine Kinder gingen auf dieselbe Schule wie Tajala. Es war H., der Ahmad Zaher am Tag der Tat half, den Schlüsseldienst anzurufen.

Ali H. lebt seit 2011 in Deutschland. Auch er floh nicht vor den Taliban, sondern vor einer kriminellen Bande: Bewaffnete Männer, so erzählt er es zehn Jahre später in Berlin bei seiner Einlassung vor Gericht, hätten damals zunächst seinen Vater entführt. Weil er selbst nicht genug zahlen konnte, überfielen sie ihn und brachen ihm die Nase. Die Polizei habe Ali H. nicht helfen können oder wollen, also sei ihm nur ein Leben außerhalb Afghanistans geblieben.

Der Witwer ist als Nebenkläger beim Prozess dabei

Die beiden Geflüchteten sitzen sich im Gericht an mehreren Tagen im Monat gegenüber. Ali H. beteuert seine Unschuld. Ahmad Zaher nimmt als Nebenkläger erst seit Jahresbeginn an den Sitzungen teil. Zunächst sei die Vorstellung, dem Prozess beizuwohnen, für den traumatisierten Mann zu schmerzhaft gewesen, sagt Nadija Samour, seine Anwältin. Nun sei es Teil seiner Therapie. Samour sagt: „Meinem Mandanten ist es wichtig, zu erfahren, was wirklich passiert ist.“ Dies bedeute nicht zwangsläufig, dass der Angeklagte verurteilt werden müsse. „Denn wenn er es nicht war, dann hilft es meinem Mandanten auch nicht.“

Den Ermittlern ist es gelungen, die Tatzeit einzugrenzen. Um 11.40 Uhr verband sich das Handy von Homa Zaher zum letzten Mal mit dem W-Lan-Router in der Wohnung. Um 12.05 Uhr schaltete es sich plötzlich aus, sehr wahrscheinlich wurde es vom Täter gezielt beschädigt. Vorder- und Rückseite des Geräts sind massiv verbeult.

In der Wohnung fanden sich kaum brauchbare Spuren. Was daran liegt, dass der Täter nach den zwei Morden den Inhalt mindestens eines Feuerlöschers in der Wohnung versprühte. Das Pulver habe, so sagen die Ermittler, lange Zeit in der Luft geschwebt und sich dann wie eine Staubschicht über alles gelegt. Deshalb gibt es keine Fußabdrücke, sehr wahrscheinlich wurde auf diese Weise eine Menge DNA-Material vernichtet.

Allerdings finden sich DNA-Spuren, die dem Angeklagten Ali H. zugeordnet werden können. Eine Hautschuppe unter einem Fingernagel von Homa Zaher. Und an dem Schal, mit dem Tajala, die Tochter, erdrosselt wurde. Dazu am linken Wadenbereich ihrer Leggins.

Andererseits ist sicher, dass sich Ali H. ohnehin mehrfach in der Wohnung aufgehalten hatte. Eine Woche vor der Tat half er, den Netflix-Zugang der Zahers einzurichten. Noch am Tag vor dem Mord habe er außerdem, sagt Ali H., Homa und Tajala auf dem Spielplatz getroffen. Dabei habe er Letztere auf der Schaukel angeschubst. So könne sich ebenfalls DNA übertragen haben.

Eines der vielen Rätsel des Falls ist, weshalb kein Nachbar die Tat bemerkte. Die Wohnung ist extrem hellhörig.

Der Nachbar trägt Reichsadler auf der Jacke

Direkt neben den Zahers wohnt ein Familienvater, der aus seiner politischen Gesinnung kein Geheimnis macht. Auf der Rückseite seiner Jacke prangt ein großer Reichsadler. Seine Kinder tragen germanische Vornamen. Auch von ihm fand sich eine DNA-Spur am Tatort – ebenfalls an dem Schal, mit dem Tajala ermordet wurde.

Ahmad Zaher sagt, der Nachbar sei ihnen feindlich gesinnt gewesen und habe schon allein deshalb zu keinem Zeitpunkt die Wohnung betreten. Ermittler vermuten jedoch, die Spur könnte beispielsweise am Fahrstuhl an ein Kleidungsstück der Zahers geraten und so letztlich in die Wohnung gelangt sein.

Auch bei dieser Nachbarsfamilie klingelte ein Polizist in den Tagen nach der Tat. Als der Beamte im Prozess als Zeuge befragt wird, wie genau die Begegnung ablief, erinnert er sich, wie seltsam sich die beiden Söhne der Familie verhalten hätten. Der eine habe gestottert, der andere nervös an die Decke geschaut. Genau so habe er selbst es in seinem Aktenvermerk notiert.

Gedenken am Jahrestag der Morde.
Gedenken am Jahrestag der Morde.

© privat

Welcher Aktenvermerk denn, fragt die Nebenklägerin. Auch Staatsanwalt und Verteidigung können ihn nicht finden. Später heißt es: Der Vermerk über den Besuch bei der Nachbarsfamilie sei zwar angefertigt worden, doch man habe vergessen, ihn auszudrucken und den Akten beizulegen.

Den Vorschlag der Nebenklage, den Nachbarn mit der Reichsadlerjacke als Zeugen vorzuladen, ignoriert das Gericht zunächst. „Dafür fehlt mir jedes Verständnis“, sagt Cara Simons, aber „so geht es mir häufiger in diesem Verfahren.“

Simons ist Mitgründerin der „Homa-und-Tajala-Aufklärungsinitiative“, Teil des Netzwerks gegen Femizide – einer Gruppe von Aktivist:innen, die sich zusammengeschlossen haben, um eine umfassende Aufklärung des Falls einzufordern. Simons, die eigentlich anders heißt, kannte Homa Zaher persönlich. Die Mitglieder der Initiative verfolgen jeden Prozesstag, protokollieren die Aussagen. Und sind, so erzählt es Simons, „frustriert darüber, wie nachlässig ermittelt wurde und wie unkritisch die Staatsanwaltschaft dies hinnimmt“.

Wir wollen nur, dass in alle Richtungen ermittelt wird

Cara Simons von der Aufklärungsinitiative

Zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU habe sie mehr Sensibilität erwartet. „Damals vermutete man die Täter auch unter Migranten, verdächtigte teils Familienmitglieder der Opfer. Hielt es für plausibler, dass die Ermordeten selbst in ein kriminelles Milieu verstrickt waren, als rassistischen Terror in Erwägung zu ziehen.“ Ob der Rechtsstaat aus diesem Desaster nichts gelernt habe? „Wir wollen nur, dass in alle Richtungen ermittelt wird“, sagt Cara Simons. Je länger der Prozess andauere, desto mehr Zweifel habe sie, dass dies geschehe.

Unstrittig ist, dass Homa in ihrer Nachbarschaft rassistisch angefeindet wurde. Auch in ihrem Mietshaus. Sie erzählte anderen von einem Mal, als sie im Erdgeschoss in den Fahrstuhl stieg und der Nachbar mit der Reichsadler-Jacke sich weigerte, mit ihr nach oben zu fahren. Stattdessen knallte er von außen die Tür zu, nahm die Treppe.

Freundinnen sagten gegenüber der Polizei aus, Homa Zaher habe unter dem Argwohn ihrer Nachbarn gelitten. In ihrer Wohnung habe Homa die Tür stets abgeschlossen. Als eine Freundin nach dem Grund fragte, soll Homa geantwortet haben: „Meine Liebe, pass mal auf, es ist hier gefährlich.“

Ahmad Zaher
Ahmad Zaher

© Thomas Loy

„Das ist kein Beweis für irgendwas“, sagt Nadija Samour, die Nebenklageanwältin. Aber wie kann es sein, dass solche Schilderungen überhaupt keine Rolle spielten, in den Akten unberücksichtigt blieben? „Das Nichternstnehmen der Möglichkeit eines rassistischen Motivs, das ist das Problem“, sagt Samour. In den Ermittlungsakten findet sich lediglich der kurze Hinweis, ein rassistisches Tatmotiv komme nicht infrage. Ein Grund für die Annahme wird nicht genannt.

An mehreren Prozesstagen fragt Nadija Samour die vorgeladenen Ermittler, weshalb man ein solches Tatmotiv frühzeitig ausgeschlossen habe. Weshalb die Ermittler nicht Kontakt zum Staatsschutz aufgenommen hätten. Eine Antwort erhält sie nicht – außer dem Hinweis der Beamten, man sei dafür nicht zuständig, dies könne nur der Ermittlungsführer beantworten. Der Ermittlungsführer wurde bis heute nicht als Zeuge vorgeladen.

Die Mitglieder der „Homa-und-Tajala-Aufklärungsinitiative“ drücken sich weniger diplomatisch aus als die Nebenklageanwältin. Auf einem Flyer, den sie zum Jahrestag des Doppelmords veröffentlichten, fragen sie: „Was waren die wahren Tatmotive der Morde? Warum wurde den Forderungen nach einer lückenlosen Aufklärung der Morde, in der auch die Motive Rassismus und Frauenfeindlichkeit geprüft werden, nicht nachgekommen?“ Darunter steht ihre zentrale Forderung: „Dass die beiden Frauen und Migranten waren, darf nicht zu einer Behandlung zweiter Klasse führen, die im Zweifel den Täter deckt.“

Die Verteidigung versucht, den Verdacht gegen Ali H. zu erschüttern. Ihr Mandant habe für eine solche Tat kein Motiv gehabt. Andere womöglich schon: Ahmad Zaher, der Witwer und Nebenkläger, lebe doch bereits wieder mit einer neuen Frau zusammen ...

Als die Worte im Saal fallen, sitzt Zaher stumm da, hört die Übersetzung des Dolmetschers, verzieht keine Miene. Seine Anwältin sagt: „Die Verteidigung hat mehrfach versucht, den Verdacht auf meinen Mandanten zu lenken. Das ist sehr schmerzhaft für ihn, aber auch reichlich absurd.“ Er leide erheblich unter dem Verlust seiner Familie.

Die Verteidigung wollte auch den Bruder von Zaher als Zeugen vorladen. Unter anderem soll dieser am Tag vor dem Mord mit auf dem Spielplatz gewesen sein. Er könnte bestätigen, was der Angeklagte Ali H. ausgesagt hat: dass er Tajala auf der Schaukel angeschubst hat. Dass sich so vielleicht seine DNA-Spur in der Wohnung erklären lässt.

Doch der Bruder erscheint nicht vor Gericht. Er hat Deutschland offenbar verlassen. Es heißt, er habe keinen Aufenthaltstitel erhalten. Ali H.s Verteidiger ist skeptisch: „Es könnte ja auch sein, dass sich der Bruder abgesetzt hat. Vielleicht war er in Sorge, hier in ein Strafverfahren zu geraten?“

Was waren die wahren Tatmotive der Morde?

 „Homa-und-Tajala-Aufklärungsinitiative“

Einer der Söhne von Ali H. taucht wiederholt an Prozesstagen im Gericht auf, setzt sich im schlauchförmigen Saal 501 ganz hinten auf eine der Holzbänke im Zuschauerbereich. Die Richterin schickt ihn jedes Mal nach Hause. Erstens müsse er in der Schule sein. Zweitens seien die Inhalte, über die hier gesprochen werde, insbesondere der brutale Ablauf der Tat, nicht altersgerecht.

Anders als die Verteidigung sieht die Staatsanwaltschaft sehr wohl ein Motiv bei Ali H.: Sie glaubt, es sei ihm um Geld gegangen. Der Angeklagte sei spielsüchtig gewesen und in akuter finanzieller Not. Außerdem habe er gegenüber Bekannten behauptet, er wisse, dass die Zahers mindestens 60 000 Euro in ihrer Wohnung aufbewahrten.

Als Beleg dafür, wie dringend Ali H. Geld brauchte, um es dann wieder zu verspielen, lädt die Staatsanwaltschaft einen Bekannten vor, 33 Jahre, ebenfalls Afghane. Der Zeuge sagt, er habe Ali H. mehrfach angerufen, wenn er Probleme mit seinem Auto hatte. Der Angeklagte ist schließlich Automechaniker. Und er sei jederzeit bereit gewesen, sich den Wagen anzuschauen und gegen Geld zu reparieren. Manchmal habe H. dem Zeugen sogar angeboten, dieser könne den Wagen noch am selben Tag vorbeibringen.

Im Lauf der Befragung stellt sich heraus, dass der Zeuge keineswegs glaubt, Ali H. sei geldgierig. Er ist lediglich der Meinung, der Angeklagte sei fleißig: „Ob das Nettigkeit war oder ob er hinter Geld her war, kann ich nicht sagen.“ Den Preis habe er übrigens selbst bestimmen können, das habe Ali H. seinen Kunden überlassen, sagt er. Für das Antiblockiersystem und die neuen Bremsscheiben inklusive Einbau habe er H. etwa 300 Euro gezahlt.

Der Verteidiger fasst sich an den Kopf. Das soll ein Beweis für Habgier sein? Bei seinem Mandanten werde nach jedem Splitter gesucht, die Bretter anderer interessierten nicht.

An diesem Tag im Frühsommer fallen sich Verteidigung und Staatsanwaltschaft ständig ins Wort. Der Verteidiger nennt den Staatsanwalt „Co-Kommentator vom Dienst“. Der Staatsanwalt sagt, er verwahre sich dagegen, dass ihn der Verteidiger erziehen wolle.

Der Gedenkstein wird bald zerstört

Ein eisiger Sonntagmorgen Ende Februar. Zum Jahrestag des Doppelmords hat die „Homa-und-Tajala-Aufklärungsinitiative“ in den Marzahner Bürgerpark geladen, knapp 100 Menschen sind gekommen, haben Kerzen mitgebracht und Transparente. Auf einem steht: „Die Nachbarn haben nichts gehört. Die Justiz hat nichts gefragt.“ Ahmad Zaher ergreift kurz das Wort, bedankt sich für die Unterstützung. Eine Aktivistin erzählt: Dass Homa in permanenter Angst gelebt und ihre Wohnungstür nicht für Fremde geöffnet habe, erinnere sie an ihr eigenes Leben in Deutschland. Und das von vielen anderen, die im Alltag rassistische Übergriffe erleben müssten.

Eine Künstlerin hat im Park einen Gedenkstein errichtet. Er zeigt ein Bild der beiden Ermordeten, darunter steht: „In unseren Herzen lebt Ihr weiter.“ Ein Vertreter des afghanischen Kommunikations- und Kulturzentrums sagt, sowohl Homa Zaher als auch ihre Tochter seien im Krieg geboren und aufgewachsen, hätten vom ersten Tag an Gewalt, Aggression und Barbarei erlebt, seien dann nach Deutschland gekommen in dieses vermeintlich sichere Land. Das für beide aber nicht sicher gewesen sei. Er fragt auch: Warum sind heute so wenige Männer zu der Kundgebung gekommen?

Am Schluss legen die Anwesenden ihre Blumen auf dem Gedenkstein nieder. Ein paar Wochen später ist der Gedenkstein zerstört. Unbekannte haben ihn geschändet.

Die Vorstellung, der tatsächliche Täter könnte noch frei herumlaufen, sorge für große Angst unter den afghanischen Freundinnen der Toten, sagt Nebenklageanwältin Nadija Samour. „Denen stellt sich die Frage: Könnte ich der Nächste sein? Und wenn ich aussage, mache ich mich zur Zielscheibe?“

Es ist nicht so, dass es gegen Ali H. keine starken Indizien gäbe. Am 13. März 2020, knapp zwei Wochen nach dem Doppelmord, hat der Angeklagte einen Spätkauf in Wedding besucht. Dies ist gleichzeitig ein Reisebüro. H. kaufte dort Flugtickets für sich und seine Söhne, mit Turkish Airlines nach Kabul, für 2050 Euro. Der Flug sollte bereits in vier Tagen gehen, der Rückflug war einen Monat später geplant. Zu der Reise kam es nicht. Wegen Corona stornierte die Turkish Airlines alle Flüge.

Einen Tag vor dem Kauf hatte H. für 600 Euro seinen Renault Clio verkauft, weitere 620 Euro hatten Familienmitglieder überwiesen. Woher der Rest der Summe für die Flugtickets stammt, ist unklar. Außerdem soll der Angeklagte bereits im Januar Bekannten anvertraut haben, er wolle seine Frau und auch Deutschland verlassen, gemeinsam mit seinen Söhnen wieder nach Afghanistan ziehen. Aber warum hat H. den Rückflug gleich mitgebucht?

Wurde der Feuerlöscher verkauft?

Und dann die Sache mit dem am Tatort entleerten Feuerlöscher, mit dem der Mörder Spuren vernichtet hat. Die Familie des Angeklagten besaß einen. Die Ehefrau von Ali H. sagte aus, dieser werde in einem Schrank auf dem Balkon verwahrt. Einer der Söhne wollte den Polizisten den genauen Standort zeigen, führte sie auf den Balkon – und war, so schildern es die Ermittler, selbst überrascht, dass der Feuerlöscher verschwunden war.

Der Angeklagte sagt, dafür gebe es einen simplen Grund. Er selbst habe den Feuerlöscher einige Wochen zuvor auf dem Flohmarkt verkauft. Es gebe auch ein Foto davon. Das Foto, dass H. am Stand seines Flohmarkts zeigt, existiert tatsächlich. Nur der Feuerlöscher ist nicht darauf zu sehen.

Werden diese Indizien für eine Verurteilung reichen? Waren die aus Sicht der Verteidigung „grottenschlechten Ermittlungen“ am Ende doch zielführend? Oder sitzt seit mittlerweile elf Monaten der Falsche auf der Anklagebank?

Die Zeugenaussagen der Nachbarskinder

An einem Donnerstag Mitte August 2021 erscheint der Nachbar, der den Zahers feindlich gesinnt war und dessen DNA-Spur ebenfalls an Tajalas Schal gefunden wurde, im Gerichtsgebäude. Seine Jacke mit dem Reichsadler hat er zu Hause gelassen, er trägt ein Muskelshirt. An diesem Tag ist aber nicht er als Zeuge geladen, sondern seine drei Kinder. Sie waren zur Tatzeit zu Hause, in der Wohnung direkt nebenan.

Als Erstes soll die elfjährige Tochter aussagen, ihr Vater wartet draußen auf dem Gang. Die Richterin fragt, woran sie sich erinnern könne, ob ihr etwas aufgefallen sei, ob sie vielleicht Geräusche gehört habe. Das Mädchen kann sich an gar nichts erinnern, die Richterin unterbricht die Verhandlung. Der Verteidiger sagt: „Die Tochter hat gelogen, dass sich hier die Balken biegen.“

Am folgenden Verhandlungstag sind die Geschwister erneut geladen. Viel Neues kommt nicht heraus, aber zumindest eine Begründung, warum die Kinder trotz der dünnen Wände nichts von der Gewalttat in der Nachbarwohnung mitbekommen haben. Nacheinander fragt die Richterin jedes Kind, ob es zur fraglichen Zeit vielleicht Kopfhörer getragen habe? Alle sagen Ja.

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