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Kämpfer in Charkiw.

© dpa

Eine Metropole wehrt sich : Wie Charkiw der russischen Übermacht trotzt

Die Stadt Charkiw ist wieder komplett unter ukrainischer Kontrolle. Zivilisten versorgen die Kämpfer, halten das Internet stabil – und laden Drohnen auf.

Am Telefon sagt Illya Klymov, er sei von Natur aus ein skeptischer Mensch. Er rechne meist mit dem Schlimmsten. Umso mehr verblüffe ihn, dass es nun so aussehe, als könne Charkiw trotz allem erfolgreich verteidigt werden. „Ich behaupte nicht, dass wir diesen Krieg auf jeden Fall gewinnen werden“, sagt Klymov. „Ich sehe nur kein einziges Anzeichen dafür, dass wir gerade verlieren.“

Von mehreren Seiten wird die Millionenstadt Charkiw, die zweitgrößte Stadt des Landes, von feindlichen Truppen belagert. Die Angriffe haben heftige Verwüstungen angerichtet, 400 Wohngebäude wurden schwer beschädigt oder zerstört. Manche Straßenzüge gleichen Trümmerfeldern. Doch obwohl der Gegner so übermächtig schien, wurde er zurückgeschlagen. Nach gescheiterten Versuchen, die Stadt einzunehmen, befindet sich Charkiw wieder komplett unter ukrainischer Kontrolle.

Illya Klymov ist hier geboren worden, vor 33 Jahren, und hat seitdem durchgehend in Charkiw gelebt. Als der Krieg losbrach, habe er überlegt, ob er fliehen solle. Aber nur eine Viertelstunde lang. „Ich bin kein großer Patriot“, sagt er. „Ich habe auch Angst vor der Vorstellung, Menschen zu töten. Und ich wäre komplett nutzlos an der Front.“ Aber er wolle zumindest als Zivilist helfen, wo er kann.

Illya Klymov ist Software-Programmierer. Über Telegram tauscht er sich mit anderen Freiwilligen aus. Mit seinem Auto fährt er Stellungen der Armee und lokaler Widerstandsgruppen an, versorgt die Kämpfer mit Essen und Medikamenten. An anderen Tagen bringt er Nahrung zu alten Menschen oder in Bunkeranlagen.

Die Flugzeuge über der Stadt sind verschwunden

Seit vier Tagen ist es relativ ruhig, sagt Illya Klymov. Es gibt noch Artilleriebeschuss. Aber es kommen keine Flugzeuge mehr, die Bomben abwerfen. Gerüchten zufolge, sagt er, habe das Militär es geschafft, bessere Waffensysteme in die Stadt zu bringen, mit denen sich die feindlichen Flugzeuge und Hubschrauber vom Himmel holen lassen. „Diese Waffen scheinen Wirkung zu zeigen.“

Der Artilleriebeschuss sei ebenfalls schlimm, aber längst nicht so verheerend wie Angriffe aus der Luft. Er trifft vor allem die nördlichen und östlichen Stadtbezirke. Im Zentrum, wo Klymov lebt, hört man die Einschläge meist nur. Manchmal ist drei Stunden Ruhe, manchmal folgen dutzende Einschläge direkt aufeinander. Klymov hat gelernt, den Klang der eigenen Artillerie von der feindlichen zu unterscheiden. „So seltsam es sich anhört, aber man gewöhnt sich daran.“

Illya Klymov im Bunker in Charkiw.
Illya Klymov im Bunker in Charkiw.

© privat

Weil Charkiw nicht von allen Seiten umzingelt ist, gibt es Evakuierungs- und Versorgungsrouten. Auch die Eisenbahn fährt, jeden Tag verlassen bis zu 15 Züge den Hauptbahnhof, um Frauen und Kinder in die Westukraine in Sicherheit zu bringen. „Natürlich reicht das nicht, um eine ganze Millionenstadt zu evakuieren“, sagt er.

Am Mittwoch wurde das bekannte Einkaufszentrum Nikolsky in seiner Nähe beschossen. Fotos zeigen die schweren Schäden am Gebäude. Viele andere Geschäfte sind offen, die Regale noch halbwegs gefüllt. Allerdings sei das Benzin knapp geworden, manche Warteschlangen vor den Tankstellen ziehen sich über einen Kilometer Länge, einmal musste Illya Klymov fast zwei Stunden warten, bis er an der Reihe war. „Zwei Stunden, in der ich ängstlich durch die Windschutzscheiben in alle Richtungen guckte und Einschläge hörte.“ Für Privatleute sei die Benzinmenge auf 20 Liter pro Füllung begrenzt.

In seiner Wohnung geht Klymov nicht mehr ans Fenster, er will nicht von Glassplittern getroffen werden, falls es in der Nähe einen Einschlag gibt. Von 18 Uhr bis zum nächsten Morgen gilt die Ausgangssperre, das hilft den Soldaten, mögliche eingeschleuste Saboteure in der Stadt von Anschlägen abzuhalten. Nur wer in den Bunker will, darf nachts auf die Straße.

Seiner ist eine Tiefgarage, keine 30 Meter entfernt. „Der kurze Weg kann einem trotzdem Angst machen“, sagt er: Tür öffnen, nach links und rechts schauen, nach oben schauen und dann losspurten.

Zu seinen Tätigkeiten als ziviler Unterstützer gehöre auch das Aufladen von Drohnen. „Wie wichtig Drohnen in diesem Krieg sind, hat sich ja weltweit herumgesprochen.“ Vor allem wegen der vielen Videos im Internet, die zeigen, wie Bayraktar-Kampfdrohnen reihenweise russische Ziele ausschalten.

Aber auch kleine, zivile Drohnen von Privatpersonen spielten im Kampf um Charkiw eine zentrale Rolle, sagt Klymov. Zum Beispiel solche des chinesischen Marktführers DJI, erhältlich in jedem größeren Elektronikhandel. Mit denen ließen sich hervorragend die Nachschubrouten russischer Treibstoff-Lieferwagen ausspionieren – damit die Kämpfer sie dann gezielt beschießen können. „Der Nachteil ist, dass nach 30 Minuten Flug der Akku leer ist“, sagt er. Deshalb holten Zivilisten regelmäßig die Geräte ab, tauschten sie gegen neue, um die alten dann zu Hause aufzuladen.

Zivilisten suchen Schutz in der Metro.
Zivilisten suchen Schutz in der Metro.

© Andrea Carrubba/Getty Images

Es gebe Zivilisten, die nach Raketen-Einschlägen zerstörte Leitungen austauschen, damit das Internet weiter funktioniert. Der Informationsfluss sei überlebenswichtig. Auch um zu verhindern, dass Panik ausbreche. Andere Freiwillige koordinierten Hilfsgüter, die nach Charkiw gebracht werden. Nachdem die Russen gezielt ein zentrales Lager bombardiert hätten, sei man dazu übergegangen, die Produkte an vielen kleinen Orten zu lagern und so das Verlustrisiko zu senken. Deshalb brauche es viele zivile Kuriere. Der Austausch erfolge über verschiedene Telegram-Gruppen.

Jede Nacht verbringt Illya Klymov drei Stunden in der nahegelegenen Tiefgarage, die als Bunker dient, und übernimmt eine Wachschicht. Dann sitzt er vor einem Haufen Monitore und verfolgt die Bilder diverser Überwachungskameras, auch solcher, die eigentlich zu Geschäften gehören, aber vorübergehend übernommen wurden. „Wir tun das nicht, weil wir russische Soldaten fürchten“, sagt er. „Sondern Plünderer. Die gibt es hier leider inzwischen.“

Bürger halfen, die Feinde zu verjagen

Einmal, am vierten Tag des Kriegs, haben russische Truppen versucht, die Stadt einzunehmen. Dazu fuhren sie mit gepanzerten Fahrzeugen der Marke Tigr ins Stadtgebiet. „Ganz Charkiw hat dabei geholfen, die Eindringlinge zu jagen”, sagt Illya Klymov. Mit „jagen“ meint er: Einwohner hätten Fotos der Fahrzeuge gemacht und diese dann auf Telegram verschickt, mitsamt der Koordinaten der Aufnahme. Andere hätten diese Informationen dann überprüft und sich vergewissert, dass es sich tatsächlich um feindliche Wagen handelt. Die Details dieser Sichtungen wurden ans Militär weitergegeben. Am Ende des Tages gab es keine Tigr-Fahrzeuge in Charkiw mehr, sagt Klymov. Jedenfalls keine, die noch fuhren.

Auch seine Eltern lebten bis vor kurzem in der Stadt. In einem der Viertel am Rand, die bislang am schwersten beschädigt wurden. Am Morgen des 24. Februar, als der Krieg begann, rief Klymov seine Eltern an und riet ihnen, in der Wohnung zu bleiben. „Das war ein Fehler von mir“, sagt er. „Ich hatte dummerweise auf das Versprechen der Russen vertraut, sie würden nur militärische Ziele angreifen.“

Nach drei Stunden las er online immer mehr Augenzeugenberichte von Freunden und Bekannten, dass dieses Versprechen gelogen war – dass im Gegenteil reihenweise Wohngebäude beschossen wurden. „Also habe ich wieder meine Eltern angerufen und ihnen gesagt, dass sie unbedingt sofort die Stadt verlassen müssen.“

Das Viertel, in dem er aufwuchs, ist wegen des Dauerbeschusses inzwischen nicht mehr erreichbar. Er weiß aber, dass das Haus seiner Eltern noch steht und auch die Stromleitungen funktionieren: Der Internet-Router sendet immer noch Signale.

Von seinem eigenen Wohngebäude aus kann er in der Ferne einen großen Flaggenmast mit einer riesigen Landesfahne sehen. Die wurde vor Monaten von der Regierung aufgestellt, zur Feier des 30. Jahrestags der Unabhängigkeit. Damals, sagt er, war er weder vom amtierenden Präsidenten begeistert noch vom Aufstellen überdimensionierter Fahnen. „Ich dachte: Wir haben in der Ukraine ganz andere Probleme, um die wir uns kümmern müssen.“ Aber jetzt, in diesen Tagen, freut sich Illya Klymov jeden Morgen, dass die Fahne noch hängt.

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