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Salomon „Sally“ Perel, hier im Jahr 2019, überlebte den Holocaust als „Hitlerjunge“.

© Marijan Murat/p-a/dpa

Holocaust-Überlebender Sally Perel im Interview: „Es passiert ja wieder in Deutschland“

Er war „Hitlerjunge Salomon“. Ein Teil von ihm sei es heute noch, sagt Sally Perel. Über die Unvererbbarkeit von Schuld, den Nahostkonflikt und die Gefahren des Rechtsrucks in Europa.

Von Konstantin Nowotny

Herr Perel, Ihre Geschichte ist vielen Menschen in Deutschland vor allem durch Ihre Autobiografie „Ich war Hitlerjunge Salomon“ aus dem Jahr 1992 bekannt. Es hat lange gedauert, bis Sie mit irgendjemanden über den Holocaust, dessen Opfern jedes Jahr am 27. Januar gedacht wird, gesprochen haben. Warum?
Ich habe meine Geschichte knapp 40 Jahre in meinem Bauch gehalten. Und dann endlich habe ich sie erzählt, da spürte ich natürlich eine gewisse Erleichterung. Meine Geschichte ist nicht wie die der anderen Holocaust-Überlebenden, sie ist mehr problematisch und weniger traumatisch. Ich schrie „Heil Hitler“ – und die waren in Auschwitz.

Gab es ein Schlüsselerlebnis, bei dem Sie dachten: Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, das zu erzählen?
Ja, ich hatte eine Herzoperation in Tel Aviv. Auf der Intensivstation habe ich beschlossen: Wenn die Fäden raus sind, dann schreibe ich meine Geschichte nieder.

Sie leben seit 1948 in Israel. Wie hat sich Ihr Gefühl gegenüber Deutschland verändert?
Ich würde sagen: Deutschland blieb immer mein Mutterland, Israel wurde mein Vaterland. In Deutschland bin ich geboren, dort habe ich als Kind das Licht der Welt erblickt, zum ersten Mal „Mama“ und „Papa“ gesagt. Dann ging ich zur Schule, noch im Deutschland der Vor-Hitler-Zeit. Aber 1935 wurde ich nach den Nürnberger Rassengesetzen von der Schule verwiesen. Dann sind wir nach Polen geflüchtet.

Aber auch dort waren Sie nicht sicher.
Deutschland überfiel Polen am 1. September 1939. Vier Monate nach der deutschen Besatzung kam der Befehl: Alle Juden ins Ghetto. Meine Eltern fühlten – ins Ghetto kommst du rein, aber lebendig nicht mehr raus. Deswegen haben sie beschlossen, dass mein Bruder und ich beide nach Ostpolen flüchten sollten. Dort marschierte damals die Rote Armee ein, die Sowjetunion, aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes. Das Land Polen hörte auf zu existieren. In Westpolen war die deutsche Besatzung, in Ostpolen die sowjetische. Die Abschiedsworte meiner Eltern sind bis heute ein Mittelpunkt meines Lebens. Mein Vater war ein sehr frommer Jude, er war Rabbiner. Nach einem bestimmten Gebet sagte er mir: „Unter jedem Umstand, was auch kommen mag, bleib’ immer Jude und glaube immer an Gott, und dann wird dich Gott auch immer beschützen.“

Ich musste leugnen, dass ich Jude bin, weil die Mutter zum Abschied gesagt hatte: Du sollst leben.

Sally Perel

Und das taten Sie?
Als ich später in deutsche Gefangenschaft geriet, fragte mich ein Soldat: „Bist du Jude?“ Da stand ich vor diesem Dilemma: Den Wunsch des Vaters konnte ich nicht erfüllen. Ich musste leugnen, dass ich Jude bin, weil die Mutter zum Abschied gesagt hatte: „Du sollst leben.“ Ich wollte nicht den Märtyrertod wählen oder mit meinem Tod den Namen Gottes heiligen. Ich wusste: Wenn ich jetzt sage, dass ich Jude bin, werde ich fünf Minuten später im Wald erschossen. Und da hörte ich die Worte meiner Mutter und antwortete: „Nein, ich bin kein Jude, ich bin Volksdeutscher.“ Mir schien damals – und mir scheint auch heute –, dass das Recht auf Leben über dem Glauben und der Religion steht. Meiner Meinung nach darf es keinen Grund geben, ein Menschenleben, besonders ein junges Menschenleben, zu opfern.

Der Soldat hat Ihnen geglaubt?
Ja, das Wunder geschah, er hat mir geglaubt. Warum Wunder? Alle Männer, die gefangen genommen wurden, mussten vor den deutschen Soldaten ihre Hosen herunterlassen. Sie wurden beschaut, um festzustellen, wer von den Männern beschnitten, also Jude ist. Mir hat er nicht befohlen, die Hosen herunterzulassen. So begann eine neue Odyssee für mich, die ich gar nicht wollte, aber so habe ich überlebt.

Sally Perel (Vierter von links) als Mitglied der Hitlerjugend.
Sally Perel (Vierter von links) als Mitglied der Hitlerjugend.

© privat

Dass Sie als gebürtiger Deutscher die Sprache so gut beherrscht haben, ist einer der Gründe dafür, dass Ihnen geglaubt wurde.
Das war mein Glück. Meine Eltern sprachen Jiddisch.

Nur Jiddisch?
Nur Jiddisch. Aber ich sprach nur Deutsch zu Hause. Und dort, wo ich geboren wurde, spricht man ja Hochdeutsch.

... in Peine, Niedersachsen.
Niedersachsen, kein Dialekt. Alles spielte so zu meinem Glück.

Wann kamen Sie das erste Mal zurück in Ihren Geburtsort? Nach dem Krieg?
Nein, noch als Hitlerjunge. Ich war in der Hitlerjugend Braunschweig. Peine ist nur 20 Kilometer von Braunschweig entfernt. Eines Tages hat mich der Teufel geritten und ich fuhr nach Peine. In meiner Uniform! Jeder kannte mich, Peine ist eine kleine Stadt. Aber ich nahm das Risiko in Kauf und spazierte an meinem Geburtshaus vorbei, ging in eine Bierstube des Nachbarn. Seine Tochter kam und hat mich bedient und hat mir ein Bier gebracht, ohne zu ahnen, dass das der Sally ist, mit dem sie als Kind spielte. Das war wirklich ein Abenteuer. Später, 1985, war ich dann auf Einladung des Bürgermeisters in Peine, zur Einweihung eines Mahnmals für die verbrannte Synagoge.

Gott und Auschwitz, wie geht das zusammen?

Sally Perel

Zu der Zeit hatten Sie keine Bedenken mehr, in Ihr Geburtsland zu reisen?
Ich kam gern nach Deutschland. Ich habe mir vorgenommen, an der wichtigen Aufklärungsarbeit teilzunehmen. Meine Geschichte hat viele Elemente in sich: das Doppelleben, die Frage, was wichtiger ist, Religion oder Leben? Und auch die Frage: Gott und Auschwitz, wie geht das zusammen? In Auschwitz und anderen Vernichtungslagern wurden anderthalb Millionen jüdische Kinder vergast und verbrannt. Da muss man sich fragen: War Gott auch in Auschwitz? Meiner Meinung nach – an einem Ort, wo Kinder zu Asche verbrennen, war Gott nicht anwesend. Und dann ist er auch nicht allmächtig.

Sally Perel beim Interview in seiner Wohnung in Tel Aviv.
Sally Perel beim Interview in seiner Wohnung in Tel Aviv.

© Konstantin Nowotny / Tagesspiegel

Wie war es für Sie, als Sie 1948 wie so viele überlebende Juden in Israel ankamen?
Erst einmal fühlte ich: Ich bin in meinem eigenen Land. Ich wollte nach dem Holocaust nicht in Deutschland bleiben, und ich wollte auch in kein anderes Land, in dem ich wieder eine nationale Minderheit bin. Da wollte ich also nach Israel, aber da kam ich vom Krieg in einen neuen Krieg.

Sie meinen den israelischen Unabhängigkeitskrieg.
Zwei Jahre. Immer mit Unterbrechung. Waffenstillstand – und weiter. Eigentlich ist in Israel der Krieg nie zu Ende, da ist immer Krieg, nur mit Pausen, mal zwei Jahre, mal drei Jahre. Immer wird schon über die nächste Runde geredet.

Was empfanden Sie damals gegenüber diesem neu gegründeten Staat?
Ich hatte große Hoffnungen, dass es ein moderner, liberaler Staat wird, vielleicht so wie die Schweiz in Europa. In dieser Hinsicht war es aber eine große Enttäuschung.

Es gab hier auch ein anderes Volk, die Palästinenser. Wir haben sie einfach vertrieben.

Sally Perel über den Nahostkonflikt

Warum?
Ich habe so einige Wahrheiten erfahren, die vorher nie erzählt worden sind. Es gab hier auch ein anderes Volk, die Palästinenser. Wir haben sie einfach vertrieben. Es wurden ziemlich große Verbrechen begangen. Damit fühlte ich mich nicht wohl.

Dennoch sind Sie geblieben.
Ja, ich habe mich dazu entschieden zu bleiben und zu kämpfen und alles Mögliche zu tun, damit wir endlich diesen blutigen Konflikt friedlich lösen.

Später sprachen Sie in Deutschland und Israel mit Schülerinnen und Schülern über Ihre Geschichte. Wie reagierten die?
Sehr oft kamen sie nach meinen Lesungen zu mir, manchmal mit Tränen in den Augen, und baten bei mir um Verzeihung. Dann sagte ich: Ich verzeihe nicht, weil ich nichts zu verzeihen habe. Schuld ist doch nicht erblich. Ihr seid doch nicht verantwortlich für die Verbrechen, die diese Generation der Großeltern mitgemacht hat. Aber ihr werdet euch schuldig machen, sage ich immer, wenn es wieder passiert. Und es passiert ja wieder in Deutschland. Die Neonazis werden massiv gewählt. Es gibt Bundesländer, da sind sie schon die zweitgrößte politische Macht. Und da muss man sich fragen: Deutschland, wohin?

Warum, glauben Sie, werden die rechten Kräfte in Deutschland wieder stärker?
Es ist wieder ein allgemeiner Trend in Europa. Aber wir sind empfindlich, was Deutschland angeht, weil es dort schon einmal passierte. In Frankreich zum Beispiel wäre so ein Holocaust nicht möglich gewesen.

Hitler wurde militärisch besiegt, aber sein Geist ist in Deutschland noch stark vorhanden.

Sally Perel

Wieso?
Frankreich hatte schon die Französische Revolution hinter sich, Freiheit, Gleichheit und so weiter. Deutschland lebte immer noch im Kaisertum, Feldherren, Disziplin, „Befehl ist Befehl“, Militarismus. In anderen Ländern gab es so etwas nicht mehr, andere Länder machten diese bürgerliche Revolution durch. Deutschland hatte keinen solchen Umsturz. Nach dem Ersten Weltkrieg musste der Kaiser abdanken. Aber dieser Geist – Großdeutschland und so weiter – das ist bis heute da. Wir hören andauernd von Fällen rechtsradikaler Äußerungen in der Bundeswehr. Also, ich würde sagen: Hitler wurde militärisch besiegt, aber sein Geist ist in Deutschland noch stark vorhanden.

Was kann man dagegen tun?
Es gibt keine Waffe. Mit Gesetzen geht das nicht. Gesetze sind da für Leute, die Gesetze einhalten. Die alte Generation, okay, die verschwindet schon. Aber jetzt wird die Jugend wieder von diesen völkischen Parolen vergiftet. Nun gab es auch das Flüchtlingsproblem, das wurde dafür ausgenutzt.

Wissen die Jugendlichen in Deutschland genug über den Holocaust?
Ja, meistens. Es gibt auch welche, die nicht viel wissen. Oder, wenn sie es wissen, dann sagen: Es ist eine Lüge. Aber das sind Dummköpfe.

Sally Perel 2019 mit Schülerinnen vor einer Lesung im Stuttgarter Dillmann-Gymnasium.
Sally Perel 2019 mit Schülerinnen vor einer Lesung im Stuttgarter Dillmann-Gymnasium.

© Marijan Murat/p-a/dpa

Wie soll man mit denen umgehen?
Nur mit Aufklärung. Deswegen ist es wichtig, dass man mit Schulklassen nach Auschwitz fährt und die sich das anschauen. Das überzeugt sehr viele von denen, die sagen, Auschwitz habe man nach dem Krieg für den Tourismus erbaut. Aber wenn man es persönlich sieht, das müsste eindrücklich genug sein – wenn man die Gaskammern sieht, mit den Öfen.

Und das Treffen mit Zeitzeugen.
Das ist das Allerwichtigste. Nicht Filme, nicht Bücher, nicht Dokumente sind überzeugend. Nur ein mündlicher Zeitzeugenbericht, das überzeugt. In Büchern kann man schreiben, was man will. Ein menschlicher Zeitzeuge ist unersetzbar. Einmal gab es einen Schüler, der ließ am Ende beim Signieren alle anderen vor. Ganz blass mit ganz feuchten Händen gab er mir die Hand. Er bedankte sich und meinte, er verlasse jetzt diese rechte Szene. Kann man sich etwas Schöneres wünschen?

Können Sie sich vorstellen, dass der Holocaust nochmal passiert?
Ich glaube, das Gleiche kann nicht mehr passieren. Aber es kann wieder so eine Rassenverfolgung vorkommen. Aber das Gleiche – dafür muss schon zu viel geschehen.

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Sind Sie in Kontakt mit anderen Shoah-Überlebenden in Israel?
Wenig. In der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem gab es bis zur Pandemie einmal im Jahr ein Treffen aller Holocaust-Überlebenden. Da fuhr ich auch hin, aber ich fühlte mich immer als Outsider. Ich gehörte nicht dazu. Sie alle haben etwas gemeinsam: Sie waren in den Ghettos, im KZ, in diesem Zug und in jenem Zug. Und was soll ich erzählen? Ich schrie ja „Heil Hitler!“.

Hat Ihnen das jemand zum Vorwurf gemacht?
Es gibt immer im Leben Menschen, die nur schwarz oder weiß sehen. Die haben gesagt: Ich an deiner Stelle hätte Selbstmord begangen, aber kein Hakenkreuz getragen. Sie sagen, meine Geschichte sei unmoralisch. Da frage ich immer: Welche Moral predigst du? Sollte ich wirklich diesem deutschen Soldaten sagen: Ja, ich bin Jude, bitte schieß’ mich tot? Dann wäre ich deiner Moral zufolge gestorben, als Held, bei uns heißt das „Kiddusch Haschem“. Aber die Mutter sagte: „Du sollst leben.“ Deshalb musste ich so handeln. Und ich glaube, ich habe auch moralisch überlebt. Ich habe mein Leben ja nicht auf Kosten anderer Leben gerettet.

Wenn ich im Fernsehen irgendeinen Film von damals sehe: Sobald ich die ersten Hakenkreuzfahnen sehe, da wacht Jupp in mir auf.

Sally Perel über die Spuren seiner Identität als „Hitlerjunge“

Und Sie sind hier und können erzählen.
Ich kann dieses Böse, das ich erlebte, zum Guten verwandeln. Ja, sie fragen mich öfter, ob ich denn keine Reue hätte. Ich sage: Ich hab’ keine Reue, weil die Tatsache, dass ich überlebt habe, heißt, dass ich alles richtig getan habe. Aber ich hatte mich in einen ganz anderen Jungen verwandelt, in einen echten Hitlerjungen, den eigenen Feind. Sally, der Jude, ist bei mir verschwunden.

Denken Sie noch manchmal an diesen Jungen zurück, der Sie da waren?
Der lebt noch in mir.

Wann merken Sie das?
Sehr oft. Ich träume auch noch heute oft davon. Oft träume ich, ich werde aufgehängt, man hat mich erwischt. Ich war jede Minute unter Todesangst, jeden Moment könnte man mich entdecken. Wenn ich im Fernsehen irgendeinen Film von damals sehe: Sobald ich die ersten Hakenkreuzfahnen sehe, da wacht Jupp in mir auf. Und wenn ich sehe, wie sie marschieren, und mit dem Singen … da will Jupp mitmarschieren und mitsingen. Dann kommt der Sally, der heute der Dominante ist, und vertreibt ihn. Bis zum nächsten Mal.

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