zum Hauptinhalt
Immer wieder kommt es in Berlin zu illegalen Autorennen.

© imago images/Klaus Martin Höfer

Illegale Autorennen in Berlin: Unterwegs in einer Szene, in der Tempo alles ist

Mit 160 km/h durch die Innenstadt. Aufgemotzte Autos. Am Ende oft: Tote. Wie ticken die Raser, die so viele Leben aufs Spiel setzen?

Bei seinen Sitzungen mit der Gutachterin ist Hamdi H. gefragt worden, wie er einen guten Autofahrer charakterisiere. Seine Antwort: „Das ist einer, der schnell durch jede Kurve kommt.“

Die Gutachterin wollte ihm eine Brücke bauen, erinnerte daran, dass er gerade einer Verkehrspsychologin gegenübersitze. Sie hoffte, er würde noch irgendwie auf Werte wie Rücksicht oder Toleranz kommen, vielleicht waren sie ja tief in seinem Hinterkopf vergraben. Aber da war einfach nichts.

Im Gerichtssaal hat Hamdi H. bei der Verlesung der Anklage geweint. Er ist schmächtig, sieht jünger aus als 27, hat kurzes, dunkles Haar. Die Nacht, in der er einen Menschen getötet haben soll, liegt mittlerweile ein Jahr zurück. Stimmt das Bild, das sich aus den mehr als 40 Zeugenaussagen ergibt, raste er am 1. Februar 2016 mit seinem weißen Audi A6 über den Berliner Kurfürstendamm und die Tauentzienstraße, dabei mehrfach über Rot.

Der fremde Wagen wird durch die Luft geschleudert

Er wollte schneller sein als sein Kontrahent Marvin N. im Mercedes. Auf Höhe der Nürnberger Straße soll er schließlich mit 160 Kilometern pro Stunde gegen einen einbiegenden Jeep geprallt sein. Der fremde Wagen wurde durch die Luft geschleudert, der Fahrer, ein 69-jähriger Rentner, starb am Unfallort.

Marvin N. (l) und Hamdi H. (r) erwarten hier 2019 das Urteil im Berliner Ku'damm-Raser-Prozess.
Marvin N. (l) und Hamdi H. (r) erwarten hier 2019 das Urteil im Berliner Ku'damm-Raser-Prozess.

© picture alliance/dpa

In der Justizvollzugsanstalt Moabit, wo Hamdi H. im März 2017 einsitzt, hat er sich der Verkehrspsychologin Jacqueline Bächli-Biétry anvertraut. Sie sollte herausfinden, ob Hamdi H. grundsätzlich für die Teilnahme am Straßenverkehr geeignet ist.

Er glaubt, er könne kilometerweit vorausschauen

Zwei Mal saßen sie sich in einem kahlen Raum gegenüber, hohes Fenster, ein Tisch, vier Stühle. Sie fragte ihn, ob das nicht gefährlich sei, auf einer Hauptverkehrsstraße über Rot zu fahren. Er antwortete, es habe doch nun wirklich niemand damit rechnen können, dass mitten in der Nacht noch andere Verkehrsteilnehmer aus Querstraßen kommen. Berlin sei schließlich seine Stadt, die kenne er auswendig. Überhaupt sei er ein derart guter Fahrer, dass er im Straßenverkehr kilometerweit vorausschauen könne. Er sagt tatsächlich kilometerweit.

Wegen Fahrern wie Hamdi H. gibt es in deutschen Innenstädten immer wieder tödliche Unfälle bei illegalen Autorennen. Außer in Berlin starben zuletzt Menschen in Hamburg, Bremen, Saarlouis, Ludwigshafen und Frankfurt am Main, in Köln gleich drei. Politiker und Verkehrsexperten streiten darüber, wie sich die Serie der Todesfälle stoppen lässt, wie illegale Rennen verhindert werden können. Dabei geht es auch um die Frage, was die Raser antreibt.

Der Fahrer hat sich maßlos überschätzt

Die Psychologin beschreibt Hamdi H. als einen Mann, der seine Fahrfertigkeiten maßlos überschätze, um damit sein schwaches Selbstbewusstsein auszugleichen. Sie sagt, das sei typisch für die Raserszene. Deren Mitglieder, meist Männer zwischen 18 und 30, definierten sich über ihr Auto und ihren riskanten Fahrstil. Weil sie sonst wenig Perspektiven im Leben hätten. Hamdi H. stammt aus dem Kosovo, kam als Kind mit seinen Eltern nach Berlin. Schwierige Jugend, abgebrochene Lehre, arbeitslos. Lange Vorstrafenliste. Er wohnt noch bei seinen Eltern in Moabit. Den Audi kaufte er gebraucht. Die Staatsanwaltschaft glaubt, das Geld dafür habe er sich zusammengeraubt und gestohlen. Der Vater sagt, es handle sich um Erspartes. Andere Raser gehen Leasingverträge ein.

Tatort: Fahrzeugteile liegen nach einem illegalen Autorennen in der Tauentzienstraße.
Tatort: Fahrzeugteile liegen nach einem illegalen Autorennen in der Tauentzienstraße.

© picture alliance/dpa

Der Angeklagte hat sich zu einem IQ-Test bereit erklärt. Mit 94 liegt er im unteren Normbereich. Auffällig sei, sagt die Psychologin, dass Hamdi H. in seinem Leben Schuld stets bei anderen suche, sich selbst als Opfer sehe. „Externalisieren“ heißt das in der Fachsprache. Auch die Tatsache, dass durch sein riskantes Verhalten ein Mensch starb, habe er bis heute nicht wirklich begriffen. Definitiv sei dieser Mann nicht für den Straßenverkehr geeignet.

Beiden Fahrern war klar: Ich gebe nicht auf

Am Abend des Unfalls war Hamdi H. in seinem Audi zunächst mit einem Bekannten unterwegs. Weil dieser am nächsten Morgen arbeiten musste, setzte H. ihn zu Hause ab, fuhr allein weiter. Am Adenauerplatz hielt er vor einer Ampel, ausgerechnet neben dem Mercedes von Marvin N.. Die beiden hatten eine Woche zuvor im Diamonds am Kurfürstendamm miteinander geplaudert. Die Shisha-Bar gilt als beliebter Treffpunkt für junge Männer, die schnelle Autos fahren.

Das Rennen, das folgte, war offenbar nicht abgesprochen. Doch beiden Fahrern war klar: Ich gebe nicht auf, bevor der andere nachgibt.

Überall in Deutschland finden illegale Autorennen statt und enden - wie hier im März 2019 in Stuttgart - tödlich. Ein 21-Jähriger war mit einem gemieteten Sportwagen viel zu schnell unterwegs. Zwei Menschen starben.
Überall in Deutschland finden illegale Autorennen statt und enden - wie hier im März 2019 in Stuttgart - tödlich. Ein 21-Jähriger war mit einem gemieteten Sportwagen viel zu schnell unterwegs. Zwei Menschen starben.

© Kohls/SDMG/dpa

Ein Großteil der Raser stammt aus der sogenannten Tuningszene - einem losen Zusammenschluss sportwagenfahrender Technikfreaks, die ihre Autos durch Umbauten schneller machen oder eindrucksvoller wirken lassen wollen. Mitglieder dieser Szene beschweren sich, sie würden systematisch von der Polizei schikaniert und in den Medien schlecht dargestellt. Die meisten scheuen die Öffentlichkeit. Florian Kerber zum Beispiel. Er ist zum Gespräch bereit, aber nur per Facebook-Chat, und sein echter Name soll nicht in der Zeitung stehen.

Auf seinem Youtube-Kanal sieht man, wie ein Nissan GTR R35 durch Berlins Straßen rast. Über die Stadtautobahn, aber auch in der Nähe vom Alexanderplatz. Wie er immer wieder abrupt beschleunigt, über Zebrastreifen heizt, an Ampeln Gas gibt, Autos überholt. Es sind auch Rennen zu sehen, zum Beispiel gegen einen Audi R8. Würde die Polizei den Kanal sichten, sie fände genug Gründe für ein Fahrverbot. Würde.

Er nennt seinen Wagen „Weißer Godzilla“

Der Nissan aus den Videos ist stark umgebaut, hat mehr als 700 PS. Florian Kerber nennt ihn „Weißen Godzilla“. Im Chat behauptet er, der Nissan gehöre gar nicht ihm, sondern seinem besten Freund. Der sitze bei den Fahrten immer am Steuer, er selbst drehe die Videos.

Florian Kerber sagt, wie viele andere sei er durch „The Fast and the Furious“ zum Rasen gekommen. Die Schnellen und die Wilden. Der Hollywoodfilm erzählt die Abenteuer eines Ermittlers, der sich in der amerikanischen Tuningszene einschleust und an illegalen Rennen teilnimmt. Kerber hat „The Fast and the Furious“ mit zwölf gesehen, er sagt, da fing es an. Die aufgemotzten Sportwagen hätten ihn fasziniert - und auch „die Art, wie Leute sich dort versammeln und brüderlich miteinander Spaß haben“. Das wollte er auch.

Auf seinem ersten Tuningtreff durfte er in einem fremden Wagen mitfahren. „Ich war überwältigt davon, wie die Gas geben können.“ Seine Euphorie erklärt er so: „Durch die enorme Beschleunigung kannst du kaum atmen, und es kommt einem so vor, als würde alles in Zeitlupe ablaufen - weil das Gehirn bei der Beschleunigung nicht hinterherkommt.“ Kerber sagt, er kriege dann das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht.

Ein Kerzenmeer für Paul Walker

Im April 2017 lief der achte Teil von „The Fast and the Furious“ in den Kinos an. Hauptdarsteller Paul Walker war nicht mehr dabei. Er starb - im echten Leben - im Porsche Carrera eines Freundes auf dem Beifahrersitz. Das Auto raste mit überhöhter Geschwindigkeit gegen einen Laternenmast und ging in Flammen auf. Seitdem ist die Verehrung in der Szene noch größer geworden, in Berlin gab es Gedenkfahrten und Hupkonzerte, an einer Tankstelle in Mahlsdorf entzündeten Fans zu Walkers Ehren ein Kerzenmeer.

Am ersten Todestag war Florian Kerber auf einer Gedenkveranstaltung an der Nonnendammallee, es gibt ein Video davon. Vor dem Schnellimbiss stellte er sich neben den mitgebrachten Lautsprecher und las eine Trauerrede vom Zettel ab. Durch Paul Walker, sagte er, seien seine Freunde und er „zu dem geworden, was die Tuningszene hier in Berlin heute ist“. Danach schalteten auf dem Parkplatz alle ihre Warnblinkanlagen an. Trauerminute.

Im Chat sagt Kerber, er habe mit Typen wie Hamdi H. kein Mitleid, er hoffe auf ein hartes Urteil. Das klingt vernünftig, bis Kerber seine Begründung nachschiebt. Er sagt nicht: Der Täter verdiene Strafe, weil er ein illegales Rennen fuhr. Er sagt: Hamdi H. verdiene Strafe, weil er offensichtlich ein schlechter Fahrer sei. „Wenn man sein Auto nicht unter Kontrolle hat, sollte man das schnelle Fahren sein lassen.“

Sie glauben, dass ihnen selbst so etwas nie passieren könnte

Jacqueline Bächli-Biétry, Verkehrspsychologin

Bächli-Biétry, die Verkehrspsychologin, kennt dieses Erklärungsmuster. Es sei geradezu notwendig, um das Konstrukt der Selbstüberhöhung aufrechterhalten zu können. In der Vergangenheit habe sie bereits mit Rasern gesprochen, die an Rennen teilgenommen hatten, bei denen ihr Konkurrent einen tödlichen Unfall verschuldete. „Die haben ebenfalls gefordert, ihre Mitraser hart zu bestrafen. Den eigenen Anteil blendeten sie aus.“ Aus dieser verqueren Logik heraus sei es auch verständlich, dass sich die Raserszene empöre, in der Öffentlichkeit mit Unfallfahrern in einen Topf geworfen zu werden. „Sie glauben, dass ihnen selbst so etwas nie passieren könnte.“

In Köln, wo bei Autorennen innerhalb kurzer Zeit drei Menschen starben, wurde die „Soko Rennen“ gegründet. Sie verfolgt eine Null-Toleranz-Strategie. Zivilbeamte patrouillieren an Tuner-Treffpunkten, messen mit Hilfe einer Smartphone-App die Lautstärke des Auspuffs. Bei zu hoher Dezibelzahl wird das Auto abgeschleppt. In der Werkstatt können Spezialisten in Ruhe nach weiteren illegalen Umbauten suchen. Meistens werden sie fündig.

Einer, der die eigene Szene kritisch sieht, ist Sascha Hartmann, Tuner aus Hohenschönhausen. Er wohnt bei seinen Eltern in einem Einfamilienhaus in der Nähe des Linden-Centers unterm Dach. Sein Honda CR-X steht in der Einfahrt unterm Carport. Er sagt, die Szene sei selbst schuld an ihrem Ruf. Weil es ihr nicht gelinge, schwarze Schafe aus den eigenen Reihen zu entfernen.

Sascha Hartmann hat 25.000 Euro in seinen Wagen investiert.
Sascha Hartmann hat 25.000 Euro in seinen Wagen investiert.

© Sebastian Leber

Drei Jahre hat Hartmann mit Freunden an seinem Wagen geschweißt und geschraubt, 25 000 Euro investiert. Vorn hat er die Stoßstange, Scheinwerfer sowie Teile der Motorhaube und des Kotflügels gegen die eines VW Scirocco ausgetauscht. Hinten sind Rückleuchten der S-Klasse dran, der Heckspoiler gehört einem Audi TT RS. Viel zu viel Aufwand, sagt Hartmann, um damit ein Rennen zu riskieren. Außerdem hat der Wagen bloß 135 PS, damit würde er sofort abgehängt. Sein Vater steht neben ihm in der Einfahrt. Er sagt, er verstehe zwar nichts von der Materie, aber er sei sehr froh, dass sein Sohn mehr Wert auf Optik als auf Leistung lege. „Als Elternteil muss man da ein stückweit vertrauen.“

Früher wussten die Leute, wann genug ist

Sascha Hartmann, Tuningszene

Sascha Hartmann sagt, die Szene habe sich in den zehn Jahren, in denen er dabei ist, verändert. Die Risikofreude habe stark zugenommen. „Früher wussten die Leute, wann genug ist.“ Hartmann sieht zwei Gründe für den Wandel. Erstens bauten die Hersteller Autos, bei denen man Beschleunigung immer weniger spüre. Der Motor röhre kaum noch auf, der Fahrer werde beim Gasgeben nur minimal in den Sitz gedrückt. Für den normalen Fahrer sei das auch sinnvoll, sagt Sascha Hartmann. Der solle sich schließlich komfortabel und sicher fühlen. Dem Raser fehle aber das Zeichen, dass es jetzt gefährlich werde.

Zweitens sei da die allgemeine Verrohung, die Rücksichtslosigkeit, die Abstumpfung in der Gesellschaft. Diese Tendenz finde man natürlich auch in allen anderen Lebensbereichen, Autofans seien davor nicht weniger gefeit als Basketballer oder Briefmarkensammler. „Überall gibt es unsoziale Idioten.“ Doch auf der Straße habe die Rücksichtslosigkeit leicht tödliche Konsequenzen.

Brachflächen für Rennen freigeben?

Harte Strafen findet er richtig. Auch um den Ruf derer zu retten, die sich an Regeln halten wollen. Gleichzeitig, sagt Hartmann, solle man den Rasern aber Möglichkeiten schaffen, sich auf legalem Weg auszutoben - und auf abgesicherten Freiflächen gegen eine kleine Gebühr Rennen zu fahren. Damit könnten die ihre Lust ausleben, ohne andere zu gefährden.

Vielleicht hätte man so sogar das Rennen von Hamdi H. durch die City West verhindern können. In Brandenburg, sagt er, gebe es genügend Brachen, die sich für Viertelmeilenrennen eigneten. Ganz wie im ersten Teil von „The Fast and the Furious“. Vor allem aber ohne Tote.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
showPaywallPiano:
false