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© Foto: Kurt Zarski, picture-alliance/dpa

Investigate Europe: Wie die Bahnen Klima und Kunden ausbremsen

Die Zukunft gehört der Schiene, verkünden Europas Politiker seit Jahren. Warum können Bahnkunden dann noch immer kein Ticket von Berlin nach Barcelona kaufen?

An einem dunklen Oktobertag im Jahr 2021 steht im Bahnhof des Brüsseler Vororts Schaerbeek ein einsamer, kaum beachteter Sonderzug. Stundenlang. Die EU-Kommission hat das „Jahr der Schiene“ ausgerufen und ihn dafür aus Waggons der großen europäischen Bahnkonzerne zusammensetzen lassen. Das Weiß der Deutschen Bahn und das Silber der französischen SNCF wurde einheitlich königsblau gestrichen, im Innern hängen Wimpel und Fähnchen der Mitgliedsstaaten. Mit einer Fahrt durch 100 Städte zwischen Portugal, Slowenien und Frankreich sollte der „Europa Express“ für eine neue Ära im europäischen Bahnverkehr werben. „Die Bahn ist die Zukunft Europas, unser Weg zur Eindämmung des Klimawandels und zum Aufbau eines kohlenstoffneutralen Verkehrssektors“, warb Adina Valean, EU-Kommissarin für Verkehrspolitik zum Start des Sonderzuges Anfang September.

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Doch das ging gründlich schief. Die Fahrt des Werbezuges, dessen Name an den von 1957 bis 1988 zwischen den Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Österreich und der Schweiz verkehrenden Trans-Europ-Express angelehnt ist, geriet zu einer Demonstration des Versagens der EU-Regierungen in der Bahnpolitik. Für die Reise durch 26 Staaten über 33 Grenzen hinweg bedurfte es nicht weniger als 55 unterschiedlicher Lokomotiven, weil nichts zusammenpasst auf Europas Schienen. „Wir müssen Kurzstreckenflüge einschränken und Reisen unter 500 Kilometer klimaneutral stellen“, fordert Frans Timmermans, der Klimachef der EU-Kommission. „Das bedeutet mehr Züge und sauberere öffentliche Verkehrsmittel.“ Tatsächlich aber ist Europas Bahnnetz „ein ineffektives Flickwerk“, urteilte der Europäische Rechnungshof und bescheinigte den Verantwortlichen einen flächendeckenden Mangel an Koordination.

Warum ist das so? Wieso können Passagiere in Europa nicht einfach online ein Ticket von Berlin nach Barcelona kaufen? Warum gibt es kaum noch Nachtzüge, mit denen sich Flüge ersetzen lassen? Wer profitiert von der jahrzehntelangen Vernachlässigung des Schienennetzes? Und wie ernst ist es den Verantwortlichen mit dem Versprechen, etwas zu ändern?

Diesen Fragen ist das Journalistenteam Investigate Europe von Portugal bis nach Griechenland nachgegangen. Die Ergebnisse sind ernüchternd:

  • Noch immer wird in den EU-Staaten deutlich mehr Geld in die Straße investiert als in die Schiene.
  • In den vergangenen 20 Jahren wurden 6000 Kilometer an Gleisen stillgelegt.
  • Die EU-Staaten verzögern systematisch den Bau eines einheitlichen Signalsystems.
  • Die Fertigstellung zentraler europäischer Schieneninfrastrukturprojekte verspätet sich um Jahrzehnte, weil Deutschland internationale Absprachen bricht.
  • Die großen nationalen Bahnkonzerne kooperieren zu wenig und schließen Nichtangriffspakte, um Konkurrenz zu vermeiden.

Dabei war der Bahnverkehr in Europa einst eine der wichtigsten Landesaufgaben. Die Staatsbahnen sollten sicherstellen, dass Passagiere problemlos von A nach B reisen können. Gewinne mussten sie dabei nicht erwirtschaften. Das änderte sich in den 90er Jahren. Getragen von dem Glauben, dass private Unternehmen effizienter sind als der Staat, verpflichteten sich die Mitgliedsstaaten der EU, ihren Staatsbahnen eine privatwirtschaftliche Form zu geben sowie den Schienen- vom Zugbetrieb zu trennen. So auch in Deutschland, wo 1994 die westdeutsche Bundesbahn und die ostdeutsche Reichsbahn zur Deutschen Bahn AG fusionierten. Um die überregionalen Züge kümmerte sich künftig die DB Fernverkehr, um Schienen und Leitungen die DB Netz.

1994 wurden die westdeutsche Bundesbahn und die ostdeutsche Reichsbahn zur Deutschen Bahn AG fusioniert.
1994 wurden die westdeutsche Bundesbahn und die ostdeutsche Reichsbahn zur Deutschen Bahn AG fusioniert.

© imago images/Martin Bäuml Fotodesign

Ganz ähnlich lief es in den anderen EU-Staaten. In der Folge kam es zwar zu mehr Wettbewerb, doch mit dem neuen Fokus auf Profit wurden viele weniger rentable Strecken eingestellt. Laut der Statistikbehörde der Vereinten Nationen, UNECE, fielen so in den vergangenen 20 Jahren mehr als 6000 Schienenkilometer weg, davon allein 4000 Kilometer in Frankreich. Bahnkonzerne wie die Deutsche Bahn haben in den vergangenen Jahren zudem grenzüberschreitende Angebote wie Nachtzüge ersatzlos gestrichen.

© Tagesspiegel/ Nils Klöpfel

Nun erzwingt die Klimakrise einen erneuten Kurswechsel. Aber dafür müssen Europas Verkehrsminister eine ganze Reihe von Problemen bewältigen, die sie und ihre Vorgänger selbst über die Jahre geschaffen haben.

Die technischen Vorschriften sind dabei nur eine Baustelle, wie Josef Doppelbauer, Chef der Europäischen Eisenbahnagentur ERA, berichtet. Im Jahr 2016 ließ er seine Agentur mit Sitz im nordfranzösischen Valenciennes eine Inventur aller nationalen Regeln für den europäischen Bahnverkehr aufstellen. Am Ende stand ein Katalog mit 14.312 Einträgen.

Dieser Wildwuchs ist Programm – und Doppelbauers Behörde musste dabei lange hilflos zuschauen. Das änderte sich erst mit dem sogenannten vierten Eisenbahnpaket der EU im Jahr 2016. Das damit beschlossene EU-Gesetz gibt Doppelbauers Agentur die Möglichkeit, Mitgliedsstaaten zu sanktionieren, die sich gegen die Vereinheitlichung des Bahnverkehrs stellen. „Vor dem Bahnpaket hatten wir keine Zähne“, sagt Doppelbauer. „Jetzt haben wir zumindest Milchzähne.“ Darum gibt es jetzt noch 868 Regeln. Aber auch darunter seien noch „viele, die wir nicht akzeptieren“, sagt Doppelbauer.

„Vor dem Bahnpaket hatten wir keine Zähne“, sagt Josef Doppelbauer, Chef der Europäischen Eisenbahnagentur ERA. „Jetzt haben wir zumindest Milchzähne.“ 
„Vor dem Bahnpaket hatten wir keine Zähne“, sagt Josef Doppelbauer, Chef der Europäischen Eisenbahnagentur ERA. „Jetzt haben wir zumindest Milchzähne.“ 

© ERA

Durchsetzungskraft brauchen die EU-Beamten auch bei dem vielleicht wichtigsten Projekt auf dem Weg zu einem europäischen Bahnmarkt: der Harmonisierung der unterschiedlichen nationalen Signal- und Leitsysteme. Seit dem Jahr 2007 hat die EU den Aufbau des gemeinsamen europäischen Systems ERTMS mit fast vier Milliarden Euro finanziert. Die Hoffnung ist: Wenn Züge und Leitsysteme überall die gleiche Sprache sprechen, erleichtert das den grenzübergreifenden Verkehr. Zudem erlaubt das System laut der internationalen Ingenieursgesellschaft Arup eine um 40 Prozent dichtere Zugfolge. Doch das Projekt stockt. Ein Zug des britischen Bahnunternehmens Eurostar, der von London nach Amsterdam fährt, benötigt dafür noch immer neun unterschiedliche Sicherungssysteme, welche die Geschwindigkeit der Züge kontrollieren und bei Überschreitungen Zwangsbremsungen einleiten. Viele Länder haben zudem unterschiedliche ERTMS-Versionen installiert. Die ERA hat mehr als 50 sogenannte Dialekte festgestellt, die oft nicht kompatibel sind. Im schlimmsten Fall drohe eine Zugkollision, warnt Doppelbauer.

Gekommen sei es so weit, weil den EU-Staaten jahrelang der politische Wille gefehlt habe. „Jeder hat sein Süppchen gekocht“, sagt Doppelbauer. Das ändert sich erst jetzt ganz langsam. So lag Deutschland im europäischen Vergleich lange hinten, inzwischen werden hierzulande immer mehr Strecken mit ERTMS ausgerüstet. Anfang September kündigte die Deutsche Bahn an, dass statt 2040 bereits 2035 alle Schienenstellwerke mit dem System bestückt sein sollen.

Gewerkschafter fordern, das Englisch Verkehrssprache im Güterverkehr wird

Doch Sprachhürden gibt es nicht nur zwischen Zug und Leitsystem. Guido Maaß fährt seit zwei Jahren Güterzüge von Oberhausen nach Rotterdam. Zuvor hatte er schon fünf Jahre Regionalbahnen durch Nordrhein-Westfalen gelenkt. Doch für den grenzüberschreitenden Verkehr musste er noch mal zur Schule. Anders als im Flugverkehr gibt es im Bahnsektor keine einheitliche Sprache. Stattdessen verlangen viele EU-Staaten, dass Lokführer das Landesidiom beherrschen – mindestens auf dem fortgeschrittenen Sprachniveau B1. „Wie wichtig das ist, lass’ ich mal dahingestellt“, sagt Maaß. Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer fordert deshalb: „Die EU muss die englische Sprache als Standard für den europäischen Güterverkehr festlegen.“

In den vergangenen Jahren versuchte Doppelbauers ERA mehrfach, sich mit den Mitgliedsstaaten auf eine Referenzsprache zu einigen, um technische Details eindeutig zu benennen. Doch die französische Regierung blockierte jeden Vorstoß. Bis heute muss die Europäische Eisenbahnagentur technische Texte in 24 Sprachen bearbeiten.

Jahrzehntelang investierten die EU-Regierungen mehr Geld in die Straße als in die Schiene

Dass der europäische Bahnverkehr lahmt, liegt auch an der fehlenden Infrastruktur. Jahrzehntelang investierten die EU-Regierungen mehr Geld in die Straße als in die Schiene. Selbst 2018 noch flossen nach Angaben der OECD in den EU-Staaten sowie in Großbritannien, Norwegen und Schweiz mehr als 71 Milliarden Euro in den Straßenbau, während für die Schieneninfrastruktur nur 47,5 Milliarden Euro investiert wurden.

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Ganz besonders ignorieren die neuen alten Staatsbahnen die Schienen über die Grenzen. Die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung veröffentlichte jüngst eine Liste von 13 einst funktionierenden Grenzquerungen für Züge, die außer Betrieb genommen wurden. Oft handelt es sich nur um wenige Kilometer Gleis, die zwischen den Netzen zweier Staaten fehlen. Wie zum Beispiel die Strecke zwischen Freiburg und dem französischen Colmar. Seit der Zerstörung der Breisacher Bahnbrücke durch deutsche Truppen beim Rückzug anno 1945 verkehren hier keine Züge mehr.

Und selbst dort, wo die Europäer in die Schiene investieren, geht es nur schleppend voran. 2013 legte die EU ihr Programm für ein transeuropäisches Verkehrsnetz (TEN-T) vor. Neun riesige Bahnkorridore sollten unter anderem Helsinki mit Neapel verbinden und Amsterdam mit Marseille. Sieben Jahre später legte der Europäische Rechnungshof einen Bericht vor, in dem die Prüfer warnen: „Verzögerungen beim Bau und bei der Inbetriebnahme gefährden das effektive Funktionieren von fünf der neun TEN-T-Korridore.“

An einem sonnigen Mittwoch im Oktober steht Giorgio Malucelli einen Kilometer unter den Südtiroler Alpen. Der Ingenieur überprüft, wie seine Arbeiter Schutt auf einen Lkw laden. Malucelli und seine Mannschaft bohren hier 1000 Meter unter dem Bergmassiv den Brennerbasistunnel, den künftig längsten Bahntunnel der Welt. Auf einer Strecke von 64 Kilometern soll er das italienische Dorf Franzensfeste mit Innsbruck verbinden. Doch wenn die riesigen Tunnelbohrmaschinen bald die italienische Grenze erreichen, ist erst mal Pause. Auf der österreichischen Seite ruhten die Arbeiten lange wegen eines Rechtsstreits. Und italienische Arbeiter dürfen nicht helfen. „Der Bohrer muss an der Grenze stoppen“, sagt Malucelli, weil unterschiedliche Sicherheitsregeln gelten. Inzwischen gehen die Betreiber davon aus, dass erst ab 2032 Züge durch den Tunnel fahren werden.

Frühestens 2032 werden Züge durch den Brennerbasistunnel fahren.
Frühestens 2032 werden Züge durch den Brennerbasistunnel fahren.

© picture alliance / Peter Kneffel

Bis dahin wird das Projekt fast zehn Milliarden Euro kosten. Die EU zahlt davon 1,2 Milliarden, den Rest Österreich und Italien. Entsprechend hoch sind die Erwartungen. Der Tunnel soll endlich den überfüllten Brennerpass von der Lkw-Fracht entlasten, und Passagiere sollen in wenigen Stunden von München nach Verona reisen können. Doch vermutlich wird daraus auch 2032 nichts. „Die EU-Mittel werden nicht so effektiv sein, wie sie könnten“, sagt ein Prüfer des europäischen Rechnungshofs. Grund dafür sei, dass die Zulaufstrecken in Deutschland und Italien noch nicht einmal im Bau seien. Die Verbindung von München bis zur österreichischen Grenze ist noch immer in der Planung und soll erst 2040 fertiggestellt werden. Schuld sei auch die Verfassung der EU: „Der Kommission fehlt die Macht, um solche Bauarbeiten durchzusetzen.“

25 Jahre später ist erst ein Drittel fertig

Und das nicht nur am Brenner. Um den Güterverkehr von Rotterdam bis Genua auf die Schiene zu verlagern, beschloss die Schweiz in Absprache mit Deutschland, Italien und der EU schon 1992 den Bau einer Alpentransversale. Das Kernstück ist der Gotthard-Basistunnel, mit 57 Kilometer der noch längste Eisenbahntunnel der Welt. Mit dem Vertrag von Lugano sagte Deutschland 1996 zu, bis spätestens Ende 2020 die Strecke zwischen Karlsruhe und Basel von zwei auf vier Schienen auszubauen. 25 Jahre später ist erst ein Drittel davon fertig. Die Verzögerung – und damit den Vertragsbruch – erklärt die Bundesregierung mit Einsprüchen, Klagen und Bürgerprotesten. Doch in Wahrheit habe das zuletzt CSU-geführte Verkehrsministerium einfach kein Interesse gehabt, konstatiert Michael Cramer, der frühere Vorsitzende des Verkehrsausschusses im Europäischen Parlament. Im Haushalt seien lediglich 19 Millionen Euro pro Jahr für das Projekt veranschlagt, obwohl es mindestens zwei Milliarden koste, sagt Cramer.

2018 flossen laut OECD in den EU-Staaten sowie in Großbritannien, Norwegen und Schweiz mehr als 71 Milliarden Euro in den Straßenbau, in die Schieneninfrastruktur nur 47,5 Milliarden Euro.
2018 flossen laut OECD in den EU-Staaten sowie in Großbritannien, Norwegen und Schweiz mehr als 71 Milliarden Euro in den Straßenbau, in die Schieneninfrastruktur nur 47,5 Milliarden Euro.

© imago images/Hans Blossey

Die Schweiz hat ihren Teil der Abmachung erfüllt, indem sie auf ihrer Seite der Grenze zwei zusätzliche Linien und eine Brücke in Basel gebaut hat. Der Gotthard-Basistunnel ist seit fünf Jahren in Betrieb. Doch die Schweiz bleibt jetzt auf hohen Kapazitäten im Schienenverkehr sitzen, während der Schwerverkehr weiter die Straßen verstopft. Im August 2021 haben die beiden Länder nun einen neuen Vertrag unterschrieben. Darin stellt Deutschland ein neues Ziel für den Abschluss der Arbeiten in Aussicht: das Jahr 2040.

Nicht nur die Staaten, auch die großen Bahnkonzerne verweigern die europäische Vernetzung. Nach Angaben des italienischen Recherchezentrums Osservatorio Balcani e Caucaso gibt es überhaupt nur 125 Fernverkehrsverbindungen zwischen den EU-Staaten. „Für die Deutsche Bahn, SNCF, Trenitalia oder Renfe sind die nationalen Linien einfacher zu betreiben ohne komplizierte Kooperationen mit anderen Bahnunternehmen“, sagt der Politikberater Jon Worth, der seit langer Zeit sich mit dem europäischen Bahnmarkt beschäftigt. Das Angebot sei auch deshalb so schlecht, weil die Unternehmen den Wettbewerb scheuen würden. „Es gibt faktisch einen Nichtangriffspakt zwischen den großen Bahnunternehmen.“

Hinweise darauf gibt es etwa im Fall der Deutschen Bahn und der französischen SNCF. Im Jahr 2009 habe die DB versucht, die Zulassung für Trassen zwischen Frankreich und Deutschland zu bekommen, erzählt der Bahnexperte Hans Leister, der damals Manager bei der deutschen SNCF-Tochtergesellschaft Keolis war. „Daraufhin haben wir einen Angriffsbefehl bekommen“, erzählt er. „Wir sollten ein Fernverkehrsangebot als Konkurrenz zur Deutschen Bahn entwickeln.“ SNCF-Züge wären dann von Salzburg nach Hamburg oder von Köln nach Berlin gefahren.

Wir attackieren uns nicht auf dem Heimatmarkt.

Hans Leister, Bahnexperte

Doch dazu kam es nie. „Der damalige SNCF-Chef, Guillaume Pepy, und Bahn-Chef Rüdiger Grube trafen sich und schlossen wieder Frieden“, sagt Leister. Die Absprache der Konzerne habe gelautet: „Wir attackieren uns nicht auf dem Heimatmarkt.“

Laut Insidern schlossen die französische und die deutsche Bahn noch unter ihrem Chef Rüdiger Grube einen  „Nichtangriffspakt“.
Laut Insidern schlossen die französische und die deutsche Bahn noch unter ihrem Chef Rüdiger Grube einen „Nichtangriffspakt“.

© picture alliance / dpa

Wer es dennoch wagt, den großen Konzernen das Fernverkehrsgeschäft streitig zu machen, bekommt es mit vielen Hindernissen zu tun. In Deutschland hat die Deutsche Bahn ein Quasi-Monopol auf den Fernverkehrsmarkt. Einer der wenigen Konkurrenten ist Flixtrain. Deren Züge verkehren unter anderem drei- bis viermal täglich zwischen Hamburg und Berlin. Doch wer die Plattform des Marktführers nutzt, kann keine Tickets für den Konkurrenten kaufen. Gleiches gilt für internationale Verbindungen überall in Europa.

Eine Fahrt von Lissabon nach Madrid erfordert, drei Mal umzusteigen, und dauert elf Stunden

Das hätte ein EU-Gesetz im vergangenen Jahr ändern können, das die Mindeststandards für Fahrgastrechte anheben sollte. Im Oktober 2018 hatte das EU-Parlament für eine Gesetzesänderung gestimmt. Die sollte die Bahnkonzerne zwingen, den Zugriff auf ihre Verbindungs- und Ticketdaten offen zugänglich zu machen und die Unternehmen verpflichten, Durchgangstickets zu verkaufen. Die Hoffnung der Parlamentarier: So könnte ähnlich dem Flugverkehr eine Vergleichswebsite entstehen, die es einfach macht, Fahrkarten zu buchen, und die Wettbewerb erlaubt. Doch die Regierungen der Länder mit den größten Bahngesellschaften blockierten die Reform. Im Frühjahr 2019, während einer Sitzung der zuständigen Arbeitsgruppe im Rat der EU, stimmten „Deutschland, Frankreich und Spanien gegen die vorgeschlagene bedingungslose Verpflichtung, durchgehende Tickets anzubieten“, vermerkt das Protokoll eines der beteiligten Diplomaten. Als im April dieses Jahres die neue EU-Verordnung zu Fahrgastrechten vorgestellt wurde, fehlte der Passus. Die Bundesregierung führte formaljuristische Gründe für ihre Blockade an und argumentierte, das Gesetz sei für diesen Zweck nicht gemacht.

Die Konsequenzen all dieser Probleme muss jeder erleben, der versucht auf einer der wenigen europäischen Bahnstrecken durch die EU zu reisen: Die Hauptstädte Portugals und Spaniens liegen nur 600 Kilometer voneinander entfernt. Doch statt einer schnellen und komfortablen Bahnreise durch das portugiesische Hinterland erwartet Passagiere eine Odyssee in wackeligen Waggons. Eine Fahrt von Lissabon aus nach Madrid erfordert, drei Mal umzusteigen und insgesamt elf Stunden in Zügen zu sitzen. In Griechenland ist die Situation noch dramatischer. Wer von dort bis nach Budapest reisen will, muss sich durch einen Wust von Bahnverbindungen kämpfen. In Nordmazedonien verkehren nur zwei Züge, einer morgens und einer nachmittags. In Serbien müssen Reisende Züge nutzen, die für eine 200 Kilometer lange Strecke mehr als fünf Stunden benötigen. Die Grenze zur EU können Reisende nur zu Fuß, mit dem Bus oder einem Taxi überqueren.

Doch so dramatisch die Situation ist: Die EU hat das Problem offenbar erkannt und will nun handeln. Mit ihrem Green Deal verspricht sie Milliardeninvestitionen. Bis mit diesen die ersten Schienen fertig verlegt sind, werde es zwar noch Jahre dauern, sagt Alberto Mazzola, Chef des Verbandes der europäischen Eisenbahn- und Infrastrukturbetreiber CER, aber: „Wir sehen, dass nun deutlich mehr in die Schiene investiert wird. Eisenbahn hat eine höhere Priorität.“ Im vergangenen Jahr präsentierte die Bundesregierung im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft ein neues Konzept für europäische Bahnverbindungen. Der „Transeuropexpress 2.0“ soll Verbindungen zwischen Europas Metropolen schaffen. Wie viele Passagiere die Strecken von Paris nach Warschau oder von Barcelona nach Amsterdam tatsächlich nutzen würden, hat das Bundesverkehrsministerium zwar noch nicht erhoben, aber es gehe auch um die Signalwirkungen der Verbindungen, sagt der Bahnbeauftragte der Bundesregierung Enak Ferlemann. „Europa wächst zusammen. Wir wollen zeigen, dass man auf diesen Strecken nicht nur fliegen, sondern auch Bahn fahren kann.“ Im Jahr 2025 sollen die ersten Verbindungen starten.

Für die Europäische Bahnagentur ERA tüftelt Josef Doppelbauer weiter an einem europäischen Bahnnetz. Der ERA-Chef hofft, dass dies mit Hilfe der EU-Kommission schon bald Realität werden könnte. Denn auf den Fluren der Kommission wird derzeit überlegt, die Frist zur Ausstattung wichtiger Streckenabschnitte mit dem einheitlichen europäischen Sicherungssystem ERTMS drastisch vorzuverlegen. Statt 2050 müssten die EU-Staaten ihre Gleise schon 2040 ausgerüstet haben. „Ein realistisches Ziel“, freut sich Doppelbauer. Vielleicht fährt er also doch bald wieder, der Europa-Express.

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