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Protest nach dem Urteil im NSU-Prozess.

© picture alliance/dpa

Mangelhafte Aufarbeitung des NSU-Komplexes: Das steht in der geheimen Verfassungsschutz-Akte

Eigentlich sollte die Akte des hessischen Verfassungsschutzes bis ins Jahr 2134 geheim bleiben. Hier verrät der Journalist Martín Steinhagen, was drinsteht.

Hat der hessische Verfassungsschutz beim NSU-Komplex geschlampt? Hätten die Terroristen gestoppt und Morde verhindert werden können? Die 300 Seiten dicke Akte, die genau diese Frage beleuchtet, sollte nach dem Willen des Geheimdienstes für die nächsten 120 Jahre geheim bleiben. Inzwischen wurde die Frist auf 30 Jahre verkürzt. Dem Journalisten Martín Steinhagen sind die Unterlagen zugespielt worden. Und er ist bereit, Auskunft über den Inhalt zu geben.

Herr Steinhagen, Sie haben den geheim gehaltenen Bericht des Verfassungsschutzes lesen können. Welche Erkenntnisse haben Sie aus der Lektüre gezogen?
Das Zeugnis, das sich die Behörde auf diesen 300 Seiten selbst ausstellt, ist vernichtend. Die Akte dokumentiert eigenes systematisches Versagen – und zwar in wesentlichen Funktionen, die ein Verfassungsschutz hat. Besonders gravierend ist, wie gefährlich fahrlässig mit gesammelten Hinweisen umgegangen wurde.

Dies ist wohlgemerkt nicht Ihre persönliche Einschätzung, sondern das Ergebnis, zu dem der Verfassungsschutz in seiner Untersuchung selbst kommt.
Ganz genau. Bei der Akte handelt es sich um das Ergebnis einer Prüfung im eigenen Haus. Der damalige hessische Innenminister Boris Rhein hatte genug davon, häppchenweise über das Versagen seines Verfassungsschutzes im NSU-Komplex informiert zu werden. Deshalb sollten alle Akten zum Thema Rechtsextremismus aus den Jahren 1992 bis 2012 durchsucht werden – mit Blick auf die Frage: Hat man Hinweise auf den NSU oder insgesamt Rechtsterrorismus übersehen? 27 Mitarbeiter waren zeitweise dafür abgestellt.

Weshalb attestiert die Behörde sich selbst einen fahrlässigen Umgang mit erhaltenen Informationen?
Der Bericht legt dar, wie die Behörde mitunter Hinweisen, die sie etwa von V-Leuten bekam, schlicht nicht nachgegangen ist. Man hat keine Nachfragen gestellt. Man hat nicht versucht, Informationen zu verifizieren oder in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Ich spreche hier nicht etwa von Hinweisen über interne Diskussionen in irgendeinem NPD-Kreisverband, sondern ich meine zigfache  Hinweise auf Waffenbesitz in der rechtsextremen Szene. Das bedeutet, dass Waffen in Händen von Neonazis verblieben. 

Sie meinen, der Verfassungsschutz erhielt zum Beispiel den Tipp, dass ein Rechtsextremer illegalerweise zu Hause Handgranaten oder Schusswaffen versteckte, und die Behörde blieb komplett untätig?
Ja.

Von welcher Größenordnung sprechen wir?
In der Akte zählt der Verfassungsschutz rund 390 Informationen zum Thema Waffen und Sprengstoff auf. Er kommt selbst zu dem Schluss, dass man bei zahlreichen Hinweisen seinerzeit nicht tätig wurde – zum Beispiel, indem man etwa die Polizei oder Staatsanwaltschaft informiert hätte. 

Martín Steinhagen.
Martín Steinhagen.

© peter-juelich.com

In Ihrem Buch „Rechter Terror“ berichten Sie ausführlich über die Inhalte dieser Akte. Zu welchen weiteren Schlüssen kommt der Verfassungsschutz darin noch?
Dass die Art und Weise, wie man im untersuchten Zeitraum Akten geführt hat, sehr unprofessionell war. In ihrem Bericht meldet die Behörde mehr als 540 Aktenstücke als vermisst. Nur ein Teil davon konnte später wieder gefunden werden. Ob unter den Verschollenen auch solche mit Hinweisen zum NSU-Umfeld sind, lässt sich nicht klären.
Aber auch die vorhandenen Materialsammlungen waren in schlechtem Zustand. Im Bericht wird zum Beispiel ein Foto von Beate Zschäpe erwähnt, das bei der Sichtung der alten Akten gefunden wurde. Dieses Foto zeigt sie 1996, zwei Jahre vor dem Untertauchen, mit einem späteren NSU-Unterstützer aus dem Blood-and-Honour-Netzwerk. Die Aufnahme hat wohl ein V-Mann gemacht. Aber es lässt sich nicht mehr rekonstruieren, wer dieser V-Mann war.

Herr Steinhagen, im Vorgespräch sagten Sie, es gebe Stellen in der Akte, die so absurd seien, dass sie beinahe komisch anmuteten.
In dem Dokument ist zum Beispiel eine Anfrage des sächsischen Verfassungsschutzes aufgeführt. Die haben sich im Sommer 2010 an die anderen Landesämter gewandt, weil sie Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt dem Gesetz gemäß darüber aufklären wollten, dass die drei Untergetauchten neun Jahre zuvor bereits einmal Ziel einer Überwachungsmaßnahme gewesen waren. Leider konnten die Sachsen sie nicht erreichen, da diese ja immer noch auf der Flucht waren. Also baten sie ihre Kollegen aus den anderen Landesämtern um eine „entsprechende Mitteilung“, falls diese etwas über den Aufenthaltsort der Untergetauchten wüssten. Im sächsischen Amt machte man sich über den bürokratisch-verwaltungsrechtlichen Umgang mit dieser Situation einige Gedanken, offenbar viel mehr als darüber, dass die drei Neonazis immer noch abgetaucht waren. Das muss man sich mal vorstellen.

„Rechter Terror“ von Martín Steinhagen.
„Rechter Terror“ von Martín Steinhagen.

© Rowohlt, Montage: Julia Schneider

Nach dem Willen der Behörde sollten die Akteninhalte der Öffentlichkeit bis ins Jahr 2134 vorenthalten bleiben.
Die Geheimhaltung sollte „für die gesamte Lebensdauer der handelnden Personen und nachfolgenden Generationen“ gelten. Auch die Kinder und Enkel von V-Leuten sollten, so die offizielle Begründung, auf diese Weise geschützt werden. Dies sei zwingend notwendig für die Funktionsfähigkeit der Sicherheitsbehörden. Nun ist eine derart hohe Sperrfrist keinesfalls üblich. Sie sorgte auch in Sicherheitskreisen für Verwunderung. Inzwischen wurde die Frist auf 30 Jahre abgesenkt, was vermutlich mit dem öffentlichen Druck zusammenhängt.

Halten Sie es für legitim, die Akte weiterhin unter Verschluss zu lassen?
Man könnte Teile davon problemlos schon jetzt öffentlich machen, ohne jemanden konkret zu gefährden. Besonders die 17 Seiten Zusammenfassung. Also das Fazit, in dem das Amt Schlussfolgerungen aus dem eigenen Versagen zieht. Weniger einfach sieht es mit den Tabellen im Anhang aus, dort werden konkrete Fundstellen aus Akten gesammelt. In einzelnen Fällen könnten womöglich tatsächlich Rückschlüsse gezogen werden, wer jeweils die Quelle von so einer Information ist.

Dass die Akte gesperrt bleibt, schafft Raum für Spekulation.
Diese Akte ist zu einem Mythos geworden, zu einem Symbol für das Mauern der Dienste, mitunter zu einem überhöhten.

Wie meinen Sie das?
Manche hegen vielleicht die Hoffnung, man könne in dieser einen Akte die allerletzten Antworten auf alle offenen Fragen finden. Aber die finden sich dort nicht. Auch nach Durchsicht der Akte bleiben zentrale Fragen ungeklärt, etwa: Wer war möglicherweise an den Tatorten involviert und gab es noch unbekannte Unterstützer? Wie sind die Mordopfer konkret ausgewählt worden? Trotzdem ist die Akte ein wichtiges Puzzlestück.

Erwarten sich die Kritiker:innen zu viel von diesem Bericht?
Ich finde es mehr als nachvollziehbar, dass in der Öffentlichkeit ein großes Interesse besteht, diesen Bericht zu lesen. Das Amt hat sich das Misstrauen wohl verdient. Und wenn eine Sicherheitsbehörde sich schon mal selbst durchleuchtet, dann ist es das gute Recht der Bürger:innen, zu sagen: Wir wollen das Ergebnis sehen. Andererseits sind viele wichtige Punkte aus dem NSU-Komplex – zum Beispiel der institutionelle Rassismus, die Probleme mit dem V-Leute-System – eigentlich schon heute, auch ohne Kenntnis dieser einen Akte, bekannt. Darüber könnten wir viel stärker diskutieren.

Das Buch „Rechter Terror. Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt“ ist bei Rowohlt erschienen.

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