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© Harald Krieg

Politik im Selbstversuch: Unser Autor will als Parteiloser in den Landtag

Bei der Wahl in Sachsen-Anhalt tritt er als parteiloser Kandidat an. Während Corona. Dabei lernt Friedemann Kahl so einiges über die parlamentarische Demokratie – und was das Volk wirklich will.

Von Friedemann Kahl

Meine Nacht war kurz. Ich habe schlecht geschlafen, bin zeitig aufgewacht und trotzdem liegen geblieben. Gegen acht gehe ich schließlich ins Badezimmer. Es ist der 6. Juni 2021. Wahlsonntag. In Sachsen-Anhalt wird über einen neuen Landtag abgestimmt.

Durch das gekippte Badfenster höre ich Platschgeräusche. Mein Nachbar steht in kurzer Hose und mit freiem Oberkörper an seinem Gartenteich. Mit einem Köcher wuchtet er einen leblosen, etwa 1,20 Meter langen Stör aus dem Wasser und lässt ihn auf den kurz gemähten Rasen fallen. Eine Szene wie bei Hemingway, irgendwie.

© Helmut Krieg

Ich öffne das Fenster und lehne mich hinaus. „Euer Mittagessen für heute? Was ist mit ihm?“, rufe ich hinüber.

„Wahrscheinlich habe ich den Algenentferner überdosiert. Das hat er nicht so gut vertragen.“ Ich nicke beklommen und wünsche einen schönen Sonntag.

Nach dem Duschen nehme ich den Wahlbenachrichtigungsschein vom Kühlschrank und gehe durch die sonntägliche Kleinstadtstille zum Rathaus. Am Seiteneingang steht „Wahllokal“, daneben erinnert ein Symbolbild an die Maskenpflicht. Es hat sich eine Schlange gebildet, die größer wirkt, als sie ist, weil die Leute Abstand zueinander halten. An der offenen Tür steht eine Mitarbeiterin der Stadtverwaltung und bittet den nächsten Wähler herein, sobald einer das Wahllokal wieder verlassen hat. Im Raum riecht es nach Krankenhaus. Eine Wahlhelferin kommt mit einer Sprühflasche Desinfektionsmittel und einem Lappen hinter der Kabine hervor. „So, jetzt können Sie“, fordert sie mich auf.

Demokratie ist die sauberste Herrschaftsform, daran habe ich keinen Zweifel. In Zeiten einer Pandemie ist sie sogar virenfrei. Ich nehme den Stift und mache ganz unten auf der Liste ein schwarzes Kreuz in den Kreis hinter meinem Namen. In zwölf Stunden werde ich wissen, wie viele Menschen das noch gemacht haben.

Etwa sieben Monate vor der Landtagswahl fasste ich den Entschluss, als parteiloser Einzelbewerber für das Direktmandat in meinem Wahlkreis zu kandidieren. Es war wohl eine Mischung aus Neugier, Wahnsinn und Bauchgefühl, die mich zu diesem Schritt brachte. Aber warum?

5000 Euro habe ich mir als Limit für mein Wahlkampfbudget gesetzt. Kein Euro davon stammt aus einer Spende. 
5000 Euro habe ich mir als Limit für mein Wahlkampfbudget gesetzt. Kein Euro davon stammt aus einer Spende. 

© Privat

Ich bin überzeugt, dass sich unsere Demokratie weiterentwickeln muss. Viele Menschen können mit dem alten Parteiendenken nichts mehr anfangen. Sie möchten ihr Umfeld gestalten und Verantwortung übernehmen. Die gewohnte Parteienstruktur hat Politik dickflüssig gemacht. In den Gemeinde- und Stadträten sind parteilose Abgeordnete inzwischen üblich, doch auf Landes- und Bundesebene fehlen sie.

Woher weiß man eigentlich, was naiv ist und wie naiv man selbst ist?

Friedemann Kahl

Mir war schon immer der Grundsatz der attischen Demokratie sympathisch, dem zufolge der freie Bürger auch ein freies Mandat vertritt. Keiner Parteidisziplin unterworfen ist, sondern frei nach seinem Wissen und Gewissen entscheidet. Nicht zuletzt hatte ich auch die notorische Politiknörgelei satt, von der man im Freundes- und Bekanntenkreis ständig umgeben ist und die auch ich in mir spürte. Es war also der Wunsch, Verantwortung nicht mehr einfach nur abzuladen, sondern selbst ein Stück davon zu übernehmen. Ich wollte ein Zeichen setzen gegen demokratische Trägheit und für mehr persönliches Engagement. Ich wollte in meinem Wahlkreis die Fahne der Parteilosigkeit hochhalten.

Woher weiß man eigentlich, was naiv ist und wie naiv man selbst ist?

Es ist Mitte Dezember, als ich an die Bürotür der Kreiswahlstelle klopfe. Der zuständige Sachbearbeiter nimmt meine Daten auf, kopiert den Ausweis und ich muss ein halbes Dutzend Unterschriften leisten. Schließlich bekomme ich einen Stapel Formblätter mit dem Dienstsiegel des Kreiswahlleiters ausgehändigt. Um als Parteiloser überhaupt antreten zu können, benötigt man 100 Unterstützungsunterschriften von Menschen aus dem Wahlkreis. Eine Hürde, die es zu bewältigen gilt. Gerade während eines Lockdowns, wenn das öffentliche Leben eingestellt und menschliche Kontakte auf die nötigsten Begegnungen reduziert werden sollen.

Mein Landtagswahlkreis trägt die Nummer 5 und hat 40.465 Wahlberechtigte. Er erstreckt sich über zwei Landkreise im Norden Sachsen-Anhalts, und mittendurch fließt die Elbe. Die größte Stadt im Wahlkreis ist Genthin mit etwa 15.000 Einwohnern samt eingemeindeten Dörfern im Umland. Meine Frau und ich haben uns in Genthin ein Haus gekauft und sind mit unseren beiden Kindern vor fünf Jahren in die Kleinstadt am Elbe-Havel-Kanal gezogen. Als Freiberufler haben wir das Glück, örtlich flexibel zu sein. Nach einem Studium der Journalistik und Betriebswirtschaftslehre arbeite ich als Pressesprecher bei der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und als freier Autor. Wir wollten raus aus der Großstadt, mehr Platz haben und bewusst in eine ländliche Gegend mit viel Natur. In Genthin haben wir das gefunden. Und nun will ich für den Wahlkreis Genthin in den Landtag.

Ein leeres Blatt Papier vor mir, sitze ich am Küchentisch und überlege gemeinsam mit meiner Frau, wen ich nach einer Unterstützungsunterschrift für meine Kandidatur bitten könnte. Freunde, Bekannte, Nachbarn – 50 Namen sind schnell gefunden. Aber ich benötige Unterschriften von Menschen, die ich noch nicht kenne und die mich noch nicht kennen.

Als Leitmotiv für meine Kandidatur habe ich mir den Slogan „Gewohntes neu denken“ gewählt. 

Friedemann Kahl

Normalerweise wäre das kein Problem. Ein kleiner Stand am Markttag vor dem Rathaus – fertig. Aber nicht in Monaten, in denen Pandemieeindämmungsverordnungen das Alltagsleben bestimmen und man sich nicht mehr als auf eineinhalb Meter nähern darf. Es würde nicht funktionieren, mit einem Lächeln unter der Maske Menschen die Gründe zu erläutern, warum ich in den Landtag möchte. Und ihnen dann mit weit ausgestrecktem Arm einen Stift in die Hand zu drücken mit der Bitte, Name und Adresse in das Formular einzutragen. Es ist schlichtweg auch nicht erlaubt in diesem Corona-Winter.

Schließlich ist es ein Beschluss des Landtags, der für Erleichterung sorgt: Die Anzahl der notwendigen Unterstützungsunterschriften für Einzelbewerber wird von 100 auf 30 reduziert. Ich vereinbare einen Termin bei der Kreiswahlstelle und reiche meine bis dahin gesammelten 49 Unterstützungsunterschriften ein. Ich bin nun Einzelbewerber ohne Parteizugehörigkeit für den Wahlkreis 5 zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt am 6. Juni 2021. Der Wahlkampf kann beginnen.

Es ist ein kalter, aber blauhimmliger Vormittag im März, als ich im Gras einer Auenlandschaft am Elbufer posiere. Stillstehen, langsam laufen, Kopf nach links, nach rechts, Kinn etwas runter – ich habe einen Freund, der Fotograf ist, gebeten, die Bilder für meine Internetseite und die Wahlplakate zu schießen. Die weitläufige Wiese schien mir mit Blick auf den zusammengestückelten Wahlkreis der kleinste gemeinsame Nenner zu sein: die Nähe zur Elbe, das weite Land, ländlicher Raum, Freiraum, Raum für neue Ideen. Als Leitmotiv für meine Kandidatur habe ich mir den Slogan „Gewohntes neu denken“ gewählt. Das Gewohnte, damit ist natürlich in erster Linie das Direktmandat gemeint, das in Deutschland seit Jahrzehnten ausnahmslos von Parteimitgliedern ausgeübt wird. Neben meiner Sympathie für die Parteilosigkeit gibt es aber selbstverständlich auch Themen und Überzeugungen, die mir wichtig sind. So bin ich der Meinung, dass Kommunen einen Schuldenschnitt benötigen, damit Gemeinden und Städte wieder mehr Handlungsmacht erhalten. Um bürgerliches Engagement zu stärken, sollten Vereine und Initiativen viel stärker gefördert werden. Für eine stabile Infrastruktur in ländlichen Regionen sind verstärkt digitale Lösungen und intelligente Technologien notwendig. Schutz und Nutzen der Natur müssen klug in Einklang gebracht werden. Außerdem benötigen wir eine neue Kultur beim Reden und Streiten. Volksentscheide sind für mich dabei nur ein Mittel für mehr Bürgerbeteiligung.

Dieses Dilemma aus Versprechen und Halten gehört wohl zur Politik – egal ob parteilos oder Parteimitglied. Dieser Spagat ist ein Stück Demokratie.

Friedemann Kahl

Wenn sich mein Programm an dem messen lassen soll, was ich einlösen kann, sollte ich als Direktkandidat gewählt werden, so ist die Antwort: nichts, gar nichts. Denn als parteiloser Abgeordneter ist man ohnmächtig im wörtlichen Sinne. Man kann keine Anträge einbringen, ist in den Ausschüssen nicht stimmberechtigt und die einem zugeschriebene Redezeit im Plenum liegt vermutlich im Sekundenbereich. Also muss ich diese Ohnmacht ausblenden. Und stattdessen so tun, als wäre ich im Fall meiner Wahl allmächtig. Wie soll ich sonst die Wähler von mir überzeugen? Aber dieses Dilemma aus Versprechen und Halten gehört wohl zur Politik – egal ob parteilos oder Parteimitglied. Dieser Spagat ist ein Stück Demokratie.

Um in Zeiten von Kontaktbeschränkungen möglichst viele Menschen zu erreichen, bleiben für den Wahlkampf eigentlich nur die sozialen Medien übrig. Neben einer Internetseite habe ich also auch ein Profil bei Facebook und Instagram eingerichtet. Im ersten Beitrag auf meiner Kandidaten-Facebookseite poste ich ein Foto von mir und dazu einen Text darüber, wer ich bin und warum ich parteifrei in den Landtag möchte. Mit 100 Euro bewerbe ich den Post für die Facebook-Konten im Gebiet des Wahlkreises und bin neugierig, was der Algorithmus damit anstellt.

Nach wenigen Stunden stehen darunter bereits Kommentare wie: „Demokratie???? Gibt es hier nicht mehr. ich wähle kpd.“ – „Vollkommen überflüssig mit Doofquatschen, wie lebendige Demokratie und Kultur im Wandel. Braucht kein Mensch.“ – „Jeder verspricht alles vor den Wahlen und nach den Wahlen wird alles schlimmer. Man sieht ja, wo wir heute gelandet sind und das liegt nicht an den Virus unser Land ist seid Jahren schon kaputt und die Demokratie ist kaputt seid Frau Merkel jeden ins Land gelassen hat.“

Das ganze linke Gesäusel quält seit Jahren die Steuerzahler. Wird Zeit das die AfD das Ruder übernimmt!

Kommentar auf Facebook

Mehr und mehr wird mir klar, dass ich nicht allzu große Hoffnung auf sachliche Debatten und gewinnbringenden Meinungsaustausch setzen sollte. Trotzdem nehme ich mir vor, auf bestimmte Kommentare zu antworten. So schreibt ein Mann, der seinem Profilangaben nach aus dem Nachbarort stammt: „Demokratisch geht es im Landtag schon lange nicht mehr zu. Das ganze linke Gesäusel quält seit Jahren die Steuerzahler. Wird Zeit das die AfD das Ruder übernimmt!“

Nicht zuletzt hatte ich auch die notorische Politiknörgelei satt.

Friedemann Kahl

Ich antworte ihm mit einer Frage: „Wie meinen Sie das? Die AfD sitzt mit 21 demokratisch gewählten Abgeordneten im Landtag. Oder nicht?“ Kurz darauf erhalte ich als Antwort, dass die Anträge der AfD von den anderen Parteien systematisch abgelehnt würden, um sie später selbst zu übernehmen. Dass eine Koalition aus CDU, SPD und Grünen Anträge der AfD übernommen hat, muss an mir vorbeigegangen sein. Das schreibe ich ihm aber nicht mehr ...

Nach Ablauf der dreitägigen Werbung für meinen Post zeigt mir die Facebook-Statistik den Erfolg: 58 Likes, 46 Kommentare, sechs Mal geteilt, 2710 erreichte Personen und 336 Beitragsinteraktionen. Ich frage mich, ob die 100 Euro am physischen Stammtisch nicht die bessere Investition gewesen wären. Und doch habe ich keine Wahl. Wenn ich mich bekannt machen möchte, muss ich dahin, wo Leute sind. Und die kommen während eines Lockdown nicht in ihren Vereinen zusammen oder hören bei Wahlveranstaltungen den Kandidaten zu. Eine relevante Masse trifft man eben nur im Netz. Und so veröffentliche ich Beiträge zum Leerstand von Ladenflächen, zu Nahverkehrstarifen und Zuganbindungen auf dem Land, zur medizinischen Versorgung, zu Radwegen oder zur mangelnden digitalen Kompetenz der Schulen während des Homeschoolings. Insgesamt stecke ich 700 Euro in Werbung auf Facebook und Instagram und erreiche damit bis zum Wahlsonntag rund 15.000 Benutzerkonten.

Im Wahlkreis 5 treten für das Direktmandat neben mir als Parteilosem noch sechs weitere Kandidaten und zwei Kandidatinnen mit Parteibüchern von CDU, AfD, SPD, der Linken, Grünen, FDP, Freien Wählern und der Basis an. Der bisherige Inhaber des Direktmandats kommt von der CDU, wird sich aus Altersgründern aber nicht noch mal zur Wahl stellen. Bei der vergangenen Landtagswahl hatte er nur 3,1 Prozentpunkte Vorsprung vor dem AfD-Kandidaten. Und auch dieses Mal wird es wohl ein knappes Duell zwischen den beiden Volksparteien in Ostdeutschland geben. Auch bei den Zweitstimmen sehen Prognosen CDU und AfD dicht beieinander.

Ein Poster stellte unser Autor auf.
Ein Poster stellte unser Autor auf.

© privat

Unsere Lokalzeitung stellt die Direktkandidaten der im Landtag vertretenen Parteien in größeren Porträts samt Foto vor. Als Parteiloser bekomme ich eine kleine Meldung mit briefmarkengroßem Kopfbild in der Randspalte. Parteilose Bewerber sind auf Landes- und Bundesebene eben Randnotizen – umgeben von der Aura der Wirrköpfigkeit, der Naivität, des Quertreibertums. Eine Kultur des freien Mandats in den Länderparlamenten sowie im Bundestag gibt es in Deutschland nicht. Noch nie hat in den vergangenen Jahrzehnten ein parteifreier Direktkandidat einen Sitz gewonnen. Dabei sind parteilose Stadt- und Gemeinderäte, Bürgermeisterinnen und Landräte mittlerweile Normalität. Warum sollte das in Landtagen und im Bundestag nicht auch so sein?

Dabei sind parteilose Stadt- und Gemeinderäte, Bürgermeisterinnen und Landräte mittlerweile Normalität. Warum sollte das in Landtagen und im Bundestag nicht auch so sein?

Friedemann Kahl

Darüber spreche ich an einem Dienstagabend im Mai mit Franka Kretschmer in einer Live-Talk-Veranstaltung auf Instagram. Sie ist parteifreie Bewerberin für den Wahlkreis Magdeburg zur Bundestagswahl. Im Gegensatz zu meiner recht kurzfristig angelegten Einzelkämpfer-Aktion hat Franka Kretschmer ein gut aufgestelltes Team und macht bereits seit Monaten Haustürbesuche in ihrem Wahlkreis. Unterstützt wird sie dabei von der Initiative Brand New Bundestag, die das Fundament politischer Beteiligung verbreitern und erstarrte Strukturen aufbrechen möchte.

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Die 299 Wahlkreise zur Bundestagswahl sind um ein Vielfaches größer als die zu Landtagswahlen. Für parteifreie Kandidaten ist es also noch schwieriger und finanziell aufwendiger, auf sich aufmerksam zu machen. Auch deshalb gibt es wohl zu Wahlen der Länderparlamente deutlich mehr parteilose Versuche, für das Direktmandat zu kandidieren. In Sachen Reichweite und Strukturen kann mit Parteien kein Einzelbewerber wirklich mithalten.

Die seit Jahren eingespielten Mechanismen und Rituale der Parteien zeigen sich auch in meinem Wahlkreis. So kommt zwei Wochen vor der Wahl auf Einladung des SPD-Landtagskandidaten der Politikrentner Sigmar Gabriel für einen kurzen Termin in den Chemiepark Genthin. Natürlich hat Gabriel keine politische Macht mehr, aber er überträgt Strahlkraft. Diese Kraftübertragung zeigt sich tags darauf in einem nahezu ganzseitigen Bericht in der Lokalzeitung, in dem der Ex-Minister und Ex-Parteivorsitzende mit den bedeutungsschweren Worten zitiert wird: „Sie haben zwei Bundesstraßen, es war für mich heute nicht schwer, herzukommen.“ Zu dem Beitrag gibt es ein großes Foto, das den SPD-Kandidaten zusammen mit Gabriel zeigt, wie sie gravitätisch durch den Chemiepark schreiten.

Wenige Tage später besucht Ministerpräsident Reiner Haseloff mit seiner Frau Gabriele das romanische Kloster Jerichow. Im Schlepptau der CDU-Kandidat des Wahlkreises, der sich laut Bildunterschrift des dazu erschienenen Zeitungsartikels die Symbolik der römischen Säule in der Krypta erklären lässt.

Reiner Haseloff (CDU) ist Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt.
Reiner Haseloff (CDU) ist Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt.

© imago images/Political-Moments

Auch ich hätte mich für ein Foto vor die Säule in der Klosterkirche stellen oder durch das Gewerbegebiet spazieren können. Nur hätte keine Zeitung es abgedruckt. Als Parteiloser ist man von dieser Spielart des Wahlkampfes ausgeschlossen.

5000 Euro habe ich mir als Limit für mein Wahlkampfbudget gesetzt. Kein Euro davon stammt aus einer Spende. Jeder Cent ist selbst verdientes, versteuertes, erspartes Privatgeld. Wie setze ich diese Summe sinnvoll ein? Die klassischen Straßenlaternenplakate hake ich schnell ab, dafür ist der Wahlkreis flächenmäßig zu groß, und der logistische Aufwand wäre enorm. Ich entscheide mich für ein beleuchtetes Großflächenplakat an der Brücke über den Elbe-Havel-Kanal. Von Mitte Mai bis zum Wahltag blicke ich also vom Plakat durch die Windschutzscheiben der Autos an der vielbefahrenen Bundesstraße und werbe mit der Botschaft: „Geh zur Wahl. Erststimme: Friedemann Kahl.“

Mein Plakat bleibt sauber. Möglicherweise einer der wenigen Vorteile von Parteilosigkeit. Oder einfach nur Ausdruck von Bedeutungslosigkeit?

Friedemann Kahl

Hin und wieder fahre ich abends mit dem Fahrrad daran vorbei, um zu kontrollieren, ob es beschmiert oder beschädigt worden ist. Aber während die Plakate der Parteien im Laufe der heißen Phase deutliche Wahlkampfspuren zeigen, bleibt mein Plakat sauber. Möglicherweise einer der wenigen Vorteile von Parteilosigkeit. Oder einfach nur Ausdruck von Bedeutungslosigkeit?

Der größte Teil des Budgets ist für Flyer bestimmt, die ich an die rund 25.000 Haushalte des Wahlkreises zustellen lasse. Nicht als Einlage zwischen Supermarktangeboten, sondern einzeln als Premiumeinwurf, wie es die Zustellfirma nennt. Ich sehe in den Flyern meine Chance, in der Breite des Wahlkreises meinen Namen bekannt zu machen.

Über Luftballons, Kugelschreiber und Bonbons habe ich nie ernsthaft nachgedacht. Gegen diese Art der Wahlwerbung habe ich einen inneren Widerstand. Ich weiß nicht so recht, warum. Vermutlich, weil ich der Meinung bin, dass Politik Kopfsache sein sollte.

An einem regnerischen Nachmittag eine Woche vor der Wahl laufe ich mit meinem Hund einen Feldweg entlang. Eine Frau Anfang 60 in blauer Sportjacke kommt mir entgegen.

Demokratie kann hart sein, ein Kampfsport eben.

Friedemann Kahl

„Sie treten für den Landtag an“, sagt sie plötzlich zu mir. Ich bejahe und frage, wie und wo sie das mitbekommen hat. Es war das Großplakat. Wir kommen ins Gespräch, ich erkläre, warum ich als Parteiloser kandidiere, und frage, was sie gegenwärtig politisch beschäftigt. „Das mit dem Gendern finde ich furchtbar. Damit wird alles nur noch schwieriger, das sollte verboten werden“, antwortet sie. Ich frage mich, ob ich auf die falschen Themen gesetzt habe.

Drei Tage vor dem Urnengang grüßt mich ein Mann aus der Nachbarschaft und sichert mir seine Stimme zu. „Jetzt brauche ich die AfD nur noch mit der Zweitstimme zu wählen“, fügt er an. Ich sage ihm, dass ich mit dieser Partei keine Schnittmenge habe. „Ich doch auch nicht, aber sonst gibt es ja keine Möglichkeit, den anderen Parteien in den Arsch zu treten“, antwortet er energisch. Das sind also die sogenannten Protestwähler, denke ich mir und spüre, wie sich eine gewisse Ratlosigkeit in mir ausbreitet.

Haseloff scheitert bei Ministerpräsidentenwahl im ersten Wahlgang: Sitzverteilung im Landtag von Sachsen-Anhalt. / AFP / STF AND Thorsten EBERDING
Haseloff scheitert bei Ministerpräsidentenwahl im ersten Wahlgang: Sitzverteilung im Landtag von Sachsen-Anhalt. / AFP / STF AND Thorsten EBERDING

© AFP

Wahlsonntag. 18 Uhr. Die ersten Hochrechnungen laufen über die Ticker. Haseloff hat einen haushohen Sieg eingefahren. Ich sitze mit einem Glas Wasser am Schreibtisch und klicke auf der Internetseite des Landeswahlleiters herum. Meine Form der Wahlparty. Gegen 21 Uhr sind die Auszählungen der Erststimmen abgeschlossen. Von 24.342 abgegebenen Stimmen im Wahlkreis habe ich 227 abbekommen. Das entspricht genau 1,0 Prozent, das schlechteste Ergebnis aller neun Kandidaten. Das Direktmandat hat der CDU-Mann geholt.

Ein ernüchterndes Ende. Demokratie kann hart sein, ein Kampfsport eben. Auch wenn ich zu keinem Zeitpunkt mit einem Sieg gerechnet habe. Ein Ergebnis zwischen drei und fünf Prozent habe ich für realistisch gehalten. Am Ende weiß ich nicht, wie viele Wähler mich überhaupt wahrgenommen haben, wie viele ihre Stimme nicht an einen aussichtslosen Parteilosen geben wollten und wie viele mich als Person oder mein Programm ablehnten. Sicherlich ist es eine Mischung aus allem. Ich werde es nie wissen. Wahlergebnisse sind nackte Zahlen, die Größenverhältnisse beschreiben.

Am Tag nach der Wahl stehe ich an der Schwengelpumpe in meinem Garten und lasse Wasser in die Kanne laufen. Als ich damit die noch kleinen grünen Tomaten gieße, frage ich mich, ob es das wert war. All die Zeit, all das Geld – wofür? Was bleibt? Was ist meine Erkenntnis? Trotz allem Schimpfen und Jammern über die Parteien werden sie am Ende doch gewählt. Sie sind immer noch sehr starke Marken, die offenbar Orientierung geben im Dickicht der Meinungen und Überzeugungen. Als Parteikandidat ist es möglich, im Windschatten dieser Marke zu fahren. Von meinen acht Mitbewerbern hielten es lediglich drei für notwendig, sich eine eigene Internetseite für den Wahlkampf einzurichten. Manche verzichteten auch auf persönliche Plakate und Flyer. Und doch bekamen sie ein Vielfaches der Stimmen, die ich gewinnen konnte. Als freier Bewerber fehlt einem diese Marke als Zugkraft. Für den Wähler ist es deutlich schwieriger, sich von einem Parteilosen ein Bild zu machen. Im Zweifel wird gewählt, was man kennt.

Aber Selbstmitleid ist in Demokratien keine Kategorie. Demokratie braucht Verlierer genauso wie Gewinner. Nur so kann sie funktionieren. Sie muss in Bewegung bleiben. Nur was sich bewegt, lebt auch. Deshalb braucht Demokratie Leute, die mitmachen. Mitmachen, ohne zu wissen, was am Ende rauskommt. Dieser Gedanke erscheint mir am Ende recht tröstlich – auch mit nur 227 Stimmen.

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