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Die Anhänger von Anonymous Germany sind Maskenbefürworter.

© Reuters/Stefano Rellandini

Das Hackerkollektiv und die Operation Alufolie: Anonymous im Kampf gegen den „König von Deutschland“

Die Hackergruppe attackiert Querdenker und andere Corona-Verharmloser. Doch ihr neustes Ziel ist eine Reichsbürgergruppe. Hier erzählen sie, warum.

Diese Woche hat es eine Reichsbürgergruppe erwischt. Das selbst ernannte „Königreich Deutschland“, das seit Jahren vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Seine Anhänger erkennen die Bundesrepublik und das Grundgesetz nicht an. Sein Gründer und Staatsoberhaupt Peter Fitzek, von Untertanen „König von Deutschland“ oder auch „Imperator Fiduziar“ genannt, musste sich mehrfach vor Gericht verantworten, wegen gefährlicher Körperverletzung, Untreue, unerlaubten Betreibens von Bankgeschäften, illegaler Versicherungsgeschäfte, Urkundenunterdrückung und Fahrens ohne Fahrerlaubnis.

In der Nacht auf Montag war die Homepage der Reichsbürger, auf der sonst ihr goldenes Wappen prangt und Propagandaschriften zum Download bereitstehen, plötzlich nicht mehr erreichbar. Abgeschaltet von Hackern der Gruppe „Anonymous Germany“, die sich noch am Montag zu der Tat bekannte. Das Abschalten der Webseite sei jedoch nicht das Wesentliche, heißt es in dem Schreiben. Das Wesentliche sei vielmehr, dass die Hacker zuvor Daten des infiltrierten Servers auf ihren eigenen Rechnern gespeichert hätten. Inklusive interner Datenbanken mit Mitgliederverzeichnissen, Geldflüssen und Mailverkehr.

Und dass man diese Daten nun auswerten und in den kommenden Wochen sukzessive enthüllen wolle, wie genau die Reichsbürger vorgehen, um die Bundesrepublik zu unterwandern. Mit wem sie kooperieren. Wo sie sich strafbar machen.

Teil einer weltweiten Bewegung

Der Angriff auf das „Königreich Deutschland“ ist die jüngste Attacke von Anonymous Germany, dem losen Zusammenschluss deutscher Hacker und Online-Aktivisten, die sich als Teil der weltweiten Anonymous-Bewegung verstehen. Diese wütet seit mittlerweile 13 Jahren im Internet, legt sich mit Behörden und Unternehmen an, die in ihren Augen die Freiheit des Netzes gefährden – und schreckt dabei nicht vor Gesetzesbrüchen zurück.

Symbol der Bewegung ist eine weiße Plastikmaske mit dem Gesicht eines grinsenden bärtigen Mannes, bekannt aus dem Kinofilm „V wie Vendetta“, in dem sich ein maskierter Freiheitskämpfer gegen ein totalitäres Regime stellt.

Lahmgelegtes Verschwörungsportal Ken FM.
Lahmgelegtes Verschwörungsportal Ken FM.

© Screenshot: Anonymous Germany

Seit Beginn der Pandemie konzentriert sich Anonymous Germany auf Aktionen gegen Verschwörungsideologen. Die Hacker bewiesen, dass die angeblichen Mitgliederzahlen der Querdenker-Vereinigung „Widerstand2020“ grotesk übertrieben waren, der größte Teil der behaupteten 100 000 Fiktion. Sie legten die Webseite von Ken FM des Aktivisten Ken Jebsen lahm, dokumentierten die Namen von Spendern. Sie enthüllten die Identitäten mehrerer Helfer des Antisemiten Attila Hildmann. Sie erlangten Zugriff auf die Homepage der Querdenker-Partei „Die Basis“ und veröffentlichten Daten von deren Mitgliedern. Dadurch kam etwa heraus, dass auch der „Alles dichtmachen“-Schauspieler Volker Bruch Mitglied von „Die Basis“ werden wollte.

Ihre Aktionen gegen Verschwörungsideologen haben sie „Operation Tinfoil“ getauft, auf Deutsch: „Operation Alufolie“. Für ihre Angriffe suchen sie die jeweiligen Homepages nach Sicherheitslücken ab. Wie genau sie dabei vorgehen, bleibt meist unklar.

Wie rechtfertigen die Hacker ihre Taten? Handelt es sich um Whistleblower im Dienst einer guten Sache – oder um selbstgerechte Internet-Vandalen?

Interview gern, aber im sicheren Rahmen

Auf ihrem Twitter-Profil hat die Gruppe Anonymous Germany eine Mailadresse hinterlegt. Die Antwort auf eine Interviewanfrage kommt bereits nach wenigen Stunden. Ein persönliches Treffen lehnen die Aktivisten ab. Die Anonymität ihrer Mitglieder müsse geschützt werden. Videochats oder Telefonate seien ebenfalls zu riskant, denn jede Stimme, die mithilfe eines Stimmenverzerrers manipuliert werde, lasse sich mit etwas Aufwand rekonstruieren.

Die Gruppe bietet aber an, einen verschlüsselten Chatraum einzurichten. Dort könne man alles fragen, was man wolle.

Dienstagabend, 18 Uhr. In dem virtuellen Raum haben sich vier Aktivisten eingefunden. Einer von ihnen nennt sich „Feanr“, schreibt, er sei Ende 30, selbstständig und lebe in Süddeutschland. Er sei erst mit Beginn der Pandemie zur Gruppe gestoßen und zunächst unsicher gewesen, ob er überhaupt etwas beitragen könne, denn er sei kein Hacker, könne nicht programmieren, besitze lediglich Grundkenntnisse in Webdesign. Das sei eines der Missverständnisse, die über Anonymous existierten: die Vorstellung, dass in dieser Bewegung nur Computerfreaks agierten. Tatsächlich gebe es Menschen, die vor allem recherchieren, Fakten zusammentragen. Andere schreiben Texte, erstellen Grafiken. Und wieder andere trollen. Das bedeutet: seine Gegner online zu nerven, zu sticheln, zu verhöhnen.

Anonymous Germany sei ein loses Netzwerk mit einer vierstelligen Mitgliederzahl. Man habe 16-Jährige, aber auch 60-Jährige in den eigenen Reihen. Vermutlich gebe es einen Männerüberschuss, genau wisse man dies nicht, denn die Aktivisten blieben grundsätzlich anonym. Willkommen sei jeder, der sich engagieren wolle und es schaffe, „sich einigermaßen zu benehmen, wenn es angebracht“ sei. Der Aktivist, der sich „Feanr“ nennt, schreibt, ihm sei egal, ob jemand politisch links, grün oder konservativ denke. Solange er auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehe.

Zwischenfrage: „Werde ich gerade von euch gehackt? Und falls ja: Woran könnte ich das merken?“

„Nein“, antwortet ein Teilnehmer der Runde.

Ein anderer schreibt, ich würde es sowieso erst merken, wenn es zu spät wäre.

Als Geburtsstunde der Bewegung gelten die konzertierten Angriffe auf die Homepage von Scientology 2008. Die Sekte hatte zuvor versucht, ein ungewollt an die Öffentlichkeit gelangtes Video von Youtube löschen zu lassen. Die Aufnahme zeigte, wie das prominente Mitglied Tom Cruise überschwänglich von Scientology schwärmte – das Video war jedoch nur für interne Zwecke bestimmt, in der Öffentlichkeit hielt sich Cruise damals noch mit Aussagen über Scientology zurück. Eine Gruppe von Netzaktivisten wertete das Einschreiten der Sekte als Zensurversuch und verabredete sich zum Gegenschlag.

2014 attackierte die Bewegung IS-Anhänger.
2014 attackierte die Bewegung IS-Anhänger.

© Screenshot: Youtube

Später attackierte die Bewegung etwa die Webseiten von Visa oder Mastercard, weil diese Konten von Wikileaks gesperrt hatten, oder griff Sony an, nachdem der Konzern angeblich Klage gegen einen Hacker eingereicht hatte. 2014 erklärte Anonymous in einem Video dem „Islamischen Staat“ den Krieg und begann, Hunderte Twitter- und Facebook-Konten von IS-Anhängern zu übernehmen oder unbrauchbar zu machen. Die Aktionen fielen so divers aus wie die jeweiligen Begründungen. Was auch daran liegt, dass die Bewegung stets führerlos operiert und sich dezentral organisiert.

Warum haben sich die deutschen Anhänger nun Corona-Verharmloser und andere Verschwörungsideologen als neue Hauptfeinde erkoren? Weshalb greifen sie derart vehement Masken- und Impfgegner an, sodass sie unter Querdenkern mittlerweile als „Merkel-Marionetten“ verhasst sind?

Das Gefährliche an Verschwörungsideologen sei, dass sie noch immer unterschätzt würden, antwortet „Feanr“. Dass sie weiterhin als Spinner abgetan würden, statt dass erkannt würde, was sie tatsächlich seien: „knallharte Ideologen, die genau wissen, wie sie die Leute kommunikativ abholen müssen“. Weder Zivilgesellschaft noch Rechtsstaat stellten sich dieser Szene, ihrem offenkundigen Antisemitismus und Relativierungen des Nationalsozialismus entschieden genug entgegen.

Ein besonders trauriges Beispiel sei der Umgang mit Attila Hildmann, schreibt eine Aktivistin, die sich im Chat „Milo“ nennt und nach eigenen Angaben Anfang 30 ist. Obwohl Hildmanns volksverhetzende Aussagen frühzeitig dokumentiert und zur Anzeige gebracht worden seien, habe die Staatsanwaltschaft über Monate hinweg nicht eingegriffen. Am Ende konnte Hildmann unbehelligt in die Türkei ausreisen. Milo schreibt, der Staat habe auch andere Führungsfiguren der Szene lange ignoriert, tue dies teils bis heute. Und die Strukturen blieben, auch nach der Pandemie, wobei die Ideologen mit Sicherheit neue Anlässe für Verschwörungserzählungen finden würden.

Unter Querdenkern hat sich inzwischen eine weitere Theorie etabliert. Hinter Anonymous Germany steckten in Wirklichkeit keine Freizeitaktivisten, sondern Geheimdienstmitarbeiter.

Wenn der Admin als Passwort „testtest“ wählt

Tatsächlich erweist sich der technische Aufwand, den die Gruppe bei ihren Aktionen betreibt, in manchen Fällen als erstaunlich gering. Die Webseite einer Sekte, die Anonymous angegriffen und vorübergehend übernommen hat, war kaum gesichert. Die Admins hatten Passwörter wie „test“ und „testtest“ verwendet.

Auch die Mitgliederlisten der Partei „Die Basis“ lagen offenbar ungeschützt auf dem Server der Partei. Die Aktivisten mussten im Browser nur die Namen der entsprechenden Ordner eintippen. Andere Angriffe verlaufen technisch komplizierter und verstoßen gegen Paragraf 202a des Strafgesetzbuchs: Das Ausspähen von Daten wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren geahndet.

Wie weit würden die Aktivisten für ihre Ziele gehen? Wie viel Gesetzesbruch ist für sie akzeptabel?

„Es kommt immer drauf an“, antwortet „Milo“. Eine ultimative Grenze sei physische Gewalt. Sachbeschädigung oder Vandalismus komme ebenfalls nicht infrage. „Feanr“ antwortet, jede Art von Kapitalverbrechen sei inakzeptabel. Solange der Angegriffene weder körperlich noch finanziell massiven Schaden erleide, könne er Aktionen mittragen.

Aber was ist mit dem Schaden, der angerichtet wird durch das Löschen von Homepage-Inhalten?

Feanr schreibt: „Kein Backup? Kein Mitleid.“

Querdenken-Gründer Michael Ballweg (links) und Ken Jebsen haben beide Erfahrungen mit Anonymous gemacht.
Querdenken-Gründer Michael Ballweg (links) und Ken Jebsen haben beide Erfahrungen mit Anonymous gemacht.

© imago/Arnulf Hettrich

Der Austausch untereinander, die meiste Zusammenarbeit, finde dezentral statt, in gesicherten Chaträumen wie jenem, in dem nun das Interview geführt wird. In einigen Fällen würden auch Dokumente angelegt, auf die mehrere Menschen über einen längeren Zeitraum Zugriff haben, ähnlich einem Google Doc.

Als Sprachrohr dient eine kleine Gruppe von Menschen, die unter dem Label „AnonNewsDE“ firmiert. Diese Aktivisten kennen sich untereinander persönlich und vertrauen sich, sodass es Außenstehenden schwer möglich sei, diesen Kreis zu unterwandern. Ein Mitglied von AnonNewsDE sagt, vor jeder Veröffentlichung würden noch einmal alle Fakten inklusive der Wege, wie diese Informationen beschafft wurden, geprüft. Außerdem gebe es viele Aktionen, die am Ende gar nicht veröffentlicht würden, um die Identität von Quellen oder Aktivisten zu schützen.

Das Münchner Olympiastadion hacken?

Regelmäßig werden Wünsche an die Gruppe herangetragen. Zum Beispiel im Juni, als die deutsche Mannschaft bei der Fußballeuropameisterschaft gegen Ungarn antreten sollte und die Uefa verbot, das Stadion in Regenbogenfarben erleuchten zu lassen. Auf Twitter fragten Nutzer: Kann das nicht Anonymous erledigen? „Nein, wir können und werden kein Stadion hacken“, schreibt ein Mitglied von AnonNewsDE. Die Kontrolle über die Lichttechnik eines Fußballstadions zu übernehmen, wäre zwar zugegeben ein großer Spaß. Doch die Umsetzung sei nicht einfach. „Hinzu kommt, dass so etwas unendliche Aufmerksamkeit der Behörden nach sich ziehen würde.“

Die Gruppe werde auch von Menschen angeschrieben, die darum bäten, eigene Familienangehörige, Liebesbekanntschaften oder sonstige Privatpersonen auszuspionieren. NYPA, antworte die Gruppe dann. Not Your Personal Army.

Im Fall des Angriffs auf die Reichsbürgergruppe „Königreich Deutschland“ haben die Hacker am Dienstag, einen Tag nach dem Hack, öffentlich gemacht, dass die Verbindung von Querdenken zu den verfassungsfeindlichen Reichsbürgern deutlich enger ist als bisher bekannt. Wie aus internen Mails der Reichsbürger hervorgeht, führen diese mindestens drei Querdenken-Funktionäre als „Staatszugehörige“ ihres „Königreichs“ – und wollten dies bislang unbedingt geheim halten.

Auch Querdenken-Gründer Michael Ballweg haben die Reichsbürger demnach zu ihrem „Staatszugehörigen“ erklärt. Sie haben ihm die „Identitätsnummer 1849“ zugewiesen und eine Urkunde zugeschickt.

Ballweg bestreitet dies alles gegenüber dem Tagesspiegel: Auf Anfrage teilt er mit, er habe bei der Bank des „Königreichs Deutschland“ lediglich ein Konto eröffnet. Sonst nichts.

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