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Einer der Angreifer mit seinem Schraubenschlüssel.

© MM

Skandalöse Polizeiarbeit nach Naziangriff : Das Ermittlungsdesaster von Fretterode

In Thüringen wurden zwei Journalisten schwer verletzt. Beschuldigt wird das direkte Umfeld eines bekannten Neonazis. Vor Gericht tun sich Abgründe auf.

Die zwei Männer, die diese Gewalttaten begangen haben sollen, sitzen an einem Montagmorgen im Januar im großen Saal des Landgerichts Mühlhausen hinten links am Fenster und sehen aus, als warteten sie auf den Beginn einer mündlichen Juraprüfung. Beide tragen Oberhemd unter Pullover, die hellen Hemdkragen ragen akkurat hervor. Ihre Haare sind kurz geschnitten, die Scheitel sitzen perfekt. Gianluca Brunos Hände ruhen gefaltet vor ihm auf der Anklagebank. Der andere – sein Name kann aus juristischen Gründen nicht genannt werden – hat seinen Rücken durchgestreckt und blickt die Richterin aufmerksam an.

„Das ist eine Inszenierung“, sagt eines ihrer mutmaßlichen Opfer. „Sie wollen den Eindruck erwecken, als wären sie ordnungsliebende und rechtschaffene, vor allem aber harmlose junge Männer.“ Genau dies sei vermutlich auch der Grund, weshalb sich an keinem der bislang 18 Prozesstage einer ihrer Neonazifreunde im Zuschauerbereich des Verhandlungssaals blicken ließ.

Die beiden Männer sind angeklagt, vor fast vier Jahren zwei Journalisten verfolgt, angegriffen und schwer verletzt zu haben. Ein Opfer wurde mit einem Schraubenschlüssel malträtiert, dem anderen ein Messer ins Bein gerammt.

Wie sind die drastischen Ermittlungsfehler zu erklären?

Dass der Prozess am Landgericht Mühlhausen bundesweit Aufsehen erregt, liegt zum einen daran, dass beide Angeklagte zum engen Umfeld des prominenten Neonazi-Kaders Thorsten Heise gehören: Der eine ist sein leiblicher Sohn, Gianluca Bruno gilt als sein Ziehsohn.

Zum anderen ist der Prozess auch deshalb spektakulär, da in seinem Verlauf reihenweise Ermittlungsfehler der Polizei ans Licht kommen. Fehler, die so drastisch und unerklärlich sind, dass es schwerfällt zu glauben, hier sei bloß versehentlich schlecht gearbeitet worden.

Es geht, unter anderem, um ein nicht gesichertes Tatfahrzeug, eine übersehene Waffe, eine mysteriöse Dienstanweisung, eine nicht erfolgte Durchsuchung … Es ist Pfusch in einem Ausmaß, dass sich eine Frage geradezu aufdrängt: Werden Menschen in der westthüringischen Provinz von den Ortskräften der Polizei wohlwollender behandelt, sobald sie zum Umfeld des einflussreichen, militanten Neonazi-Kaders Thorsten Heise gehören?

Das Dorf Fretterode, in dem die mutmaßliche Tat an einem Sonntag im April 2018 seinen Anfang nahm, hat weniger als 200 Einwohner. Heise ist mit Abstand sein bekanntester. In der Szene der Neonazis gilt der 52-Jährige als Wortführer und graue Eminenz, er hat rechtsextreme Konzerte und Festivals veranstaltet, einen Versandhandel gegründet, eine einschlägige Zeitschrift herausgegeben.

Heises Anwesen ist ein in der Dorfmitte gelegenes Gutshaus, das er 1999 erwarb und seit seiner letzten Haftentlassung bewohnt. Die Szene kommt hier zu Vernetzungstreffen zusammen. Auf dem Gelände ließ Heise, inzwischen Vorstandsmitglied der NPD, ein Mahnmal für die „Leibstandarte SS Adolf Hitler“ aufstellen. Befragt man Bewohner des Dorfes, erfährt man, dass Thorsten Heise ein zivilisierter, anständiger und auch geselliger Mensch sei. Einer sagt am Telefon aber auch: So einen wie Heise habe man besser nicht zum Feind.

Thorsten Heise
Thorsten Heise

© Christoph Reichwein/imago images

Die zwei Journalisten, die im April 2018 schwer verletzt wurden, waren damals nach Fretterode gereist, weil sie von einem bevorstehenden Treffen bedeutender Nazikader im Gutshaus erfahren hatten. Sie wollten das Geschehen aus der Ferne beobachten, mit einer Kamera mit Teleobjektiv fotografieren. „Zunächst blieb es ruhig“, erinnert sich Martin Mertens, einer der Journalisten. Er heißt eigentlich anders, aus Sicherheitsgründen soll sein echter Name nicht in der Zeitung stehen. Mertens recherchiert in der Szene der Rechtsextremen seit fünf Jahren, hat unter anderem für den NDR und für Regionalzeitungen gearbeitet.

Um das Ausmaß des Ermittlungsversagens der Polizei zu begreifen, hilft es, den mutmaßlichen Tathergang chronologisch zu erzählen.

Laut Anklageschrift treten Gianluca Bruno und sein Komplize gegen 13.20 Uhr durch die Tür des Anwesens auf die Dorfstraße. Wenig später blockieren sie mit ihrem BMW den Journalisten den Weg. Der Komplize rennt vermummt und mit einem Schraubenschlüssel bewaffnet auf das Auto der Journalisten zu. Martin Mertens hält diesen Moment mit seiner Kamera fest – das Bild ist weiter oben in diesem Artikel zu sehen. Die Journalisten flüchten, die Angeklagten rasen hinterher und versuchen mehrfach, das vor ihnen fahrende Auto von der Straße zu drängen. Die Jagd endet ein paar Dörfer weiter vor der Einfahrt einer Schweinemastanlage im Straßengraben.

Gianluca Brunos Komplize zertrümmert daraufhin Scheiben des verfolgten Wagens, sprüht Reizgas ins Innere. Mertens’ Kollege gelingt es, aus dem Wagen zu entkommen, doch er wird von Gianluca Bruno mit einem Baseballschläger angegriffen, später mit dem Schraubenschlüssel schwer im Gesicht verletzt. Beim Prozess am Landgericht Mühlhausen, in dem beide Journalisten als Nebenkläger auftreten, zeichnet sich die zeigefingerlange Narbe deutlich auf seiner Stirn ab.

Auch Mertens wird bei der Tat schwer verletzt. Einer der Angreifer versucht laut Anklage mehrfach, mit einem Messer auf ihn einzustechen, trifft ihn schließlich in den rechten Oberschenkel. Der Täter greift nach der Kamera samt Teleobjektiv und flüchtet.

30 Minuten später trifft die Polizeistreife ein. „Ab diesem Moment“, sagt Mertens’ Anwalt Sven Adam beim Interview in seiner Kanzlei, „begann die lange Kette des nicht entschuldbaren Polizeiversagens.“

Der Beamte wartet lieber ab, anstatt Spuren zu sichern

Da ist zum Beispiel das Täterfahrzeug, mit dem die Angeklagten zurück nach Fretterode flüchteten. Die Polizei entdeckt es auf Thorsten Heises Anwesen. Doch sie stellt es zunächst nicht sicher, bemüht sich auch nicht, aufs Gelände zu kommen. In den Ermittlungsakten findet sich ein Vermerk, wonach die zwei Beamten vor Ort an diesem Tag ausdrücklich Anweisung erhielten, das Anwesen vorläufig nicht zu betreten. Wer diese Anweisung gab und aus welchem Grund, konnte bis heute nicht rekonstruiert werden.

Stattdessen beobachten die Beamten das Fahrzeug aus der Ferne – und werden so Zeuge, wie sich im Laufe der nächsten Stunden diverse Personen an dem BMW zu schaffen machen und auch Gegenstände daraus entnehmen. Ein Polizist führt minutiös Protokoll:

Um 16.10 Uhr habe Thorsten Heises Frau hinten rechts eine Jacke aus dem Wagen geholt.

Um 16.20 Uhr habe ein anderer Mann etwas aus der Fahrertür genommen.

Um 16.30 Uhr entnahm Heises Frau einen weiteren Gegenstand aus dem Handschuhfach.

Um 17 Uhr ging Thorsten Heise selbst zum Pkw, entfernte sich wieder.

Um 17.02 Uhr kam Heise zurück und legte eine Jacke auf den Beifahrersitz.

Auf die Idee, dass hier womöglich Spuren verwischt wurden, vielleicht Tatwerkzeuge oder gar die geraubte Kamera entwendet wurden, kommen die Beamten offenbar nicht.

Als Sven Adam, der Nebenklageanwalt, den verantwortlichen Polizisten im Gerichtssaal fragt, ob in die Jacke, die Heises Frau aus dem Auto geholt hat, theoretisch eine Kamera eingewickelt gewesen sein könnte, antwortet der Beamte: „Ja, das kann sein.“

Erst am Abend des Tattages fährt Heise den BMW vom Gelände und übergibt ihn der Polizei. Im Handschuhfach finden die Beamten später ein Messer. Sie werden es nicht auf Spuren untersuchen. Sie werden nicht ermitteln, ob die Beschaffenheit dieses Messers zur Art der Stichverletzung passt. Sie beschlagnahmen es nicht mal. Von dessen Existenz weiß das Gericht nur, weil die Nebenkläger es auf einem Foto entdecken, das die Polizei im Innenraum des BMW gemacht hat. Wo sich das Messer heute befindet, ist unklar.

Heises Anwesen in Fretterode.
Heises Anwesen in Fretterode.

© Swen Pförtner/imago images

Martin Mertens sagt, der Angriff habe ihn verändert. Recherchen wie die damals in Fretterode mache er inzwischen nicht mehr, die psychische Belastung sei zu hoch. Er leidet unter Angstzuständen. Wenn Mertens über Naziaufmärsche berichtet, kommen Teilnehmer auf ihn zu und bedrohen ihn: „Na, willst du wieder abgestochen werden?“

Was ihn besonders treffe, sagt Mertens, sei die Erfahrung, dass er sich offensichtlich nicht auf den Rechtsstaat verlassen könne. Dass ihm ein Polizist etwa zu verstehen gab, er halte die Tat für eine Auseinandersetzung zwischen Rechten und Linken. Dass ein anderer Beamter vor Gericht aussagte, das Ganze könnte auch ein Verkehrsunfall gewesen sein.

Wenn der Polizist mit dem Nazi-Anwalt plauscht

Am Tag, als der Polizist, der nichts gegen das Entwenden der Gegenstände aus dem Tatfahrzeug unternahm, vor dem Landgericht aussagt, steht er anschließend noch eine Weile im Flur vor dem Sitzungssaal. Dort fragt er den Verteidiger: „War das in Ordnung, was ich da gerade gesagt habe, oder war das total kacke?“

So jedenfalls schildern es Rechtsanwalt Adam und auch die dpa. Der Polizist fühlt sich missverstanden. Er teilte dem Tagesspiegel mit, er habe den Verteidiger gar nicht als solchen erkannt. Er habe diesem sinngemäß gesagt, dass er nur das ausgesagt habe, was er noch sicher gewusst habe. Rhetorisch fragend hätte er dann hinzugefügt, „dass das doch wohl auch so in Ordnung gewesen sei?“, wobei er dies im Sinne von „regelkonform“ gemeint habe.

Bei dem Anwalt handelt es sich um Wolfram Nahrath. Er war Vorsitzender der neonazistischen Wiking-Jugend, bis diese 1994 verboten wurde, sowie Funktionär der NPD. In der rechtsextremen Szene wird Nahrath als engagierter Anwalt und Gleichgesinnter geschätzt. Er verteidigte den NSU-Unterstützer Ralf Wohlleben, die Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck und den Sänger der Skinheadband „Race War“. Nun also Thorsten Heises Sohn.

Zwei andere Beamte hatten in den Stunden nach der Tat die Aufgabe, den geflüchteten Gianluca Bruno zu suchen. Der stämmige Mann gilt in der Szene als Nachwuchstalent, saß im Vorstand der NPD Niedersachsen. In Fretterode bewohnt er ein Haus in der Dorfstraße, direkt neben dem Anwesen Heises.

Als die Beamten klingeln, öffnet Brunos Lebensgefährtin und erklärt, ihr Freund sei nicht zu Hause. Die Polizisten sehen keinen Grund, der Frau nicht zu glauben, und ziehen ab. Bei seiner Zeugenaussage im Prozess wird einer der Polizisten zugeben, es wäre vielleicht sinnvoller gewesen, sich selbst ein Bild zu machen.

Kaum gründlicher verläuft später die Begehung von Thorsten Heises Grundstück. Um halb sechs Uhr abends führt der Neonazi zwei Beamte durch das Gutshaus – aufgrund der Größe des Objekts, so steht es in den Akten, sei eine intensive Suche nach den Tatwaffen oder der geraubten Kamera jedoch nicht möglich gewesen. Die Beamten notieren auch nicht, welche weiteren Personen sich in dem Gebäude befinden. Spätere Zeugenbefragungen dieser Personen sind deshalb nicht möglich. Die Beamten werden anschließend behaupten, sie hätten damit gerechnet, dass eine gründliche Untersuchung von anderen Einsatzkräften zu einem anderen Zeitpunkt nachgeholt werde.

Auch die beiden Angeklagten haben im Prozess ausgesagt. Sie bestätigen, dass es einen Vorfall gab. Allerdings sei dieser anders verlaufen: In Wahrheit seien sie selbst die Opfer. Einer behauptet, die Journalisten hätten versucht, ihn zu überfahren. Deshalb seien sie ihnen hinterhergefahren, allerdings könne von Verfolgungsjagd keine Rede sein, man habe sich stets verkehrsregelkonform verhalten und auch lediglich das Nummernschild des anderen Wagens notieren wollen. Der Angriff mit dem Schraubenschlüssel sei versehentlich passiert, eine Kamera mit Teleobjektiv habe es nie gegeben. Und der Baseballschläger? Der habe den Journalisten gehört.

„Es ist eine krude Mischung aus Verharmlosung und Täter-Opfer-Umkehr“, sagt Rasmus Kahlen, der zweite Nebenklageanwalt.

Die Version der Angeklagten ist schnell in sich zusammengefallen. Einerseits, weil Martin Mertens während der Verfolgungsjagd die Speicherkarte mit den Beweisfotos aus der Kamera nahm und versteckte.

Andererseits, weil Zeugen der Lügengeschichte widersprachen. Auffällig ist, dass alle wichtigen Aussagen von Menschen kamen, die sich zum Tatzeitpunkt auf der Durchreise befanden und nicht in Fretterode leben. Bewohner des Dorfs wollen dagegen nichts gesehen haben oder können sich kaum erinnern. Nebenklageanwalt Rasmus Kahlen sagt: „Es gibt dort spürbar keine große Bereitschaft, die Familie Heise oder das Umfeld in irgendeiner Weise zu belasten.“

Nachtrag: Mit Abmahnung vom 02.02.2022 hat einer der Polizisten seine damalige Äußerung gegenüber Rechtsanwalt Nahrath „sinngemäß“ geschildert. Da sich der genau Wortlaut und der Sinn der Äußerung nicht objektiv aufklären lassen, haben wir auch seine Version in den Artikel aufgenommen. Die Reaktion.  

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