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Ein Klick bis zur Straftat. Über Telegram kommunizieren Verschwörungsideologen genauso wie Volksverhetzer, Dealer finden hier ihre Kunden.

© Der Tagesspiegel

Wie sich der Irrsinn auf Telegram organisiert: Kokain, Anleitung zum Bombenbau, Nazi-Hetze – kein Problem

Der Messenger-Dienst Telegram zieht jene an, die sich anderswo kontrolliert fühlen. Polizei und Geheimdienste sind machtlos. Ein Report.

In „Candyland“ ist an diesem Mittwoch viel Betrieb. Achim möchte 25 Gramm Marihuana nach Neukölln geliefert bekommen, für maximal 150 Euro, er will die Ware bei Lieferung aber erst kurz antesten.

Anton sucht Pilze, Jimmy fragt nach Steroiden, Vito ist am Kreuzberger Mehringdamm und braucht dringend zwei Gramm Speed. Doni schreibt, sein Kokain habe einen Reinheitsgehalt von 89 Prozent, er verkauft aber auch Tilidin. Zudem verspricht er pünktliche Lieferung: 40 Minuten ab Bestellung, egal wohin in Berlin.

Candyland ist einer der Kanäle auf Telegram, in denen Berliner ihren Drogenbedarf decken können. Er hat 4300 Mitglieder, dabei ist er für normale Telegram-Nutzer zunächst unsichtbar. Interessenten müssen eingeladen werden.

Dafür reicht es, in einer legalen Gruppe wie „Rave n Party BERLIN“ zu fragen, ob jemand weiß, wo es Koks zu kaufen gibt. Schon wird man hinzugefügt. Allein am Mittwoch ist der Kanal um 35 Mitglieder gewachsen.

Anbieten darf in Candyland jeder, bloß wissen die Käufer meist nicht, ob sie gute Qualität geliefert bekommen oder jemanden mit Messer, der sie ausraubt, auch das kommt vor. Wer sichergehen will, bestellt deshalb nur bei einem der 14 verifizierten Verkäufer. Auf diese Leute ist Verlass, dafür garantiert „Vegeta“, der Administrator des Kanals.

Vor sieben Jahren gegründet, zählt Telegram inzwischen zu den zehn meistgenutzten Apps der Welt.
Vor sieben Jahren gegründet, zählt Telegram inzwischen zu den zehn meistgenutzten Apps der Welt.

© picture alliance/dpa/AP

Vegeta erzählt in seinen Nachrichten von seiner russischen Ex-Freundin, verschickt Baby-Yoda-Emojis, nach eigenen Angaben konsumiert er auch fleißig. Vor allem aber reguliert er den Markt. Wenn eine Dealerin, wie diese Woche geschehen, einen Kunden ermahnt, Marihuana besser nicht unter vier Gramm zu bestellen, das sei zu viel Aufwand für den Verkäufer, schaltet sich Vegeta ein. Doch, weniger gehe auch, schreibt er, nur dann bitte bloß zum Selbstabholen.

Es ist verblüffend, wie offen in Candyland mit harten Drogen gehandelt wird, zum Teil Adressen samt Hausnummern genannt werden, vor Tausenden Zeugen. Gelegentlich gelingt es der Polizei, einzelne Drogenringe auszuschalten. Im Oktober führten Beamte in einer Nacht bundesweit 30 Razzien durch, neun Kanäle mit insgesamt 8000 Mitgliedern konnten so geschlossen werden.

Es bleibt ein Minierfolg angesichts der Vielzahl der aktiven Gruppen und derer, die rasch nachwachsen werden. Zudem werden auf Telegram jeden Tag weitaus schlimmere Straftaten begangen, Volksverhetzung zum Beispiel. Bauanleitungen für Bomben finden sich dort genauso wie Anstiftungen zum Mord.

Vor einem Jahr war der Messenger-Dienst in Deutschland noch kaum bekannt, wurde hauptsächlich unter jüngeren Netzaffinen als Alternative zu Whatsapp empfohlen: Er ist ebenso gratis herunterladbar und für Familienchats geeignet, bietet aber angeblich einen besseren Datenschutz.

Die einzige Möglichkeit, zensurfrei Meinungen auszutauschen

Schlagersänger Michael Wendler

Die Pandemie machte Telegram 2020 berühmt, weil reihenweise Verschwörungsgläubige, Corona-Leugner und Rechtsextreme hier Kanäle eröffneten und ihre Anhänger mitbrachten. Während Facebook und Instagram zunehmend Hassbotschaften löschen, gibt es auf Telegram nicht einmal die Funktion, gepostete Hakenkreuze oder Hitlergrüße zu melden.

Als sich Schlagersänger Michael Wendler im Herbst als Verschwörungsgläubiger outete und seinen Fans versprach, auf seinem neu eingerichteten Telegram-Kanal werde er „die ganze Wahrheit“ verkünden, pries er den Messenger-Dienst in höchsten Tönen an: Telegram sei heute „die einzige Möglichkeit, zensurfrei Meinungen auszutauschen“.

„Die ganze Wahrheit“. Schlagersänger Michael Wendler.
„Die ganze Wahrheit“. Schlagersänger Michael Wendler.

© imago images/nicepix.world

Dank prominenten Kanalbetreibern wie Xavier Naidoo, Attila Hildmann und Michael Wendler hat Telegram inzwischen das Image, Auffangbecken für alle Unseriösen, Verschwurbelten und sonst wie vom Weg Abgekommenen zu sein.

Als Friedrich Merz kürzlich öffentlich spekulierte, der CDU-Parteitag werde verschoben, um ihn als Vorsitzenden zu verhindern, geisterte bald ein Scherz durch die sozialen Netzwerke: Nun könne es nicht mehr lange dauern, bis auch Merz seinen eigenen Telegram-Kanal gründe.

Für die meisten Gruppen braucht es keine Zugangsbeschränkung. Man muss nur wissen, nach welchen Stichwörtern man sucht. In der Gruppe Rave n Party BERLIN, von wo aus man sich in den Drogenumschlagplatz Candyland einladen lassen kann, sind Drogenangebote offiziell nicht gern gesehen.

Dafür verabredet man sich hier zum Feiern, tauscht sich über Wege aus, die Corona-Maßnahmen zu umgehen. Die Menschen, die hier mit Klarnamen auftreten, sind meist keine Teenager, sondern stehen mitten im Berufsleben.

Ich kann versprechen, bei uns wird getanzt!

Telegram-Gruppe „Rave n Party BERLIN“

Zum Beispiel Patrick Enger (in diesem Bericht ist der Name geändert). Er arbeitet bei einer führenden europäischen Fluggesellschaft als Pilot. An freien Tagen organisiert er Rave-Partys. Neulich haben sie in der Wohnung eines Bekannten gefeiert, der lebt in einem Hochhaus in der Rochstraße 9 nahe dem Hackeschen Markt in Berlin-Mitte.

Partywillige, die seiner Einladung folgen, werden kurz vor Mitternacht unten am Eingang abgeholt und dann hochgebracht, schreibt Enger. Er wolle erst checken, ob er nicht aus Versehen die Polizei eingeladen hat. Patrick Enger tönt: „Ich kann versprechen, bei uns wird getanzt!“

In den Kanälen der Corona-Leugner geben sich Mitglieder gegenseitig Tipps, welche Ärzte ohne nachzufragen Masken-Atteste ausstellen. Unter den Anhängern der „Querdenken“-Bewegung sind aktuell viele frustriert. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: Die Teilnehmerzahlen der eigenen Veranstaltungen bleiben seit Monaten weit hinter den Erwartungen zurück, mehrere Ortsgruppen haben sich im Streit abgespalten.

Reichsflagge auf einer „Querdenken“-Demonstration in Berlin.
Reichsflagge auf einer „Querdenken“-Demonstration in Berlin.

© dpa

Nun wird die Gruppe auch noch vom Verfassungsschutz Baden-Württembergs beobachtet, und der Mitorganisator einer Leipziger „Querdenken“-Demo musste auf der Intensivstation künstlich beatmet werden, nachdem er an Covid-19 erkrankte – was nach Ansicht von Corona-Leugnern biologisch gar nicht möglich ist.

Außerdem spüren prominente Aktivisten zunehmend, dass ihr Verhalten nicht folgenlos bleibt. Rechtsanwalt Markus Haintz etwa, der zum engeren Kreis der „Querdenker“-Oberen zählt, wurde von der baden-württembergischen Hochschule Biberach mitgeteilt, dass er künftig als Dozent unerwünscht sei. Er solle nicht mehr damit werben, als Lehrbeauftragter in Biberach zu arbeiten – und sich dafür schämen, mit welchen Personen er sich eingelassen habe.

Wie sehr die offiziell behauptete Distanz zu Extremisten von der Realität abweicht, lässt sich auf Telegram eindrücklich beobachten. In der Braunschweiger Gruppe von „Querdenken“ akzeptiert man, dass Neonazis der Partei „Die Rechte“ bei ihnen mitmarschieren. In der Berliner Gruppe postet ein Holocaustleugner.

Bei den „Coronarebellen“ werden Videos des rechtsextremen Esoterikers David Icke verbreitet – der Mann warnt vor außerirdischen Reptilien, die die Menschheit unterwandern.

Gereinigt von den Spuren der jüdischen Lügen wird der Deutsche Volksgeist in neuem Glanz erstrahlen

Telegram-Kanal „Ende der Luege“

Das ist auf Telegram ein häufiges Phänomen: Von Gruppen, die sich selbst angeblich auf dem Boden des Grundgesetzes verorten, ist es oft nur ein Klick bis zu Straftaten. In mehreren Corona-Leugner-Gruppen wurde die Freilassung von Horst Mahler gefeiert – und dazu aufgerufen, sich auf anderen Telegram-Kanälen über die „vielen weiteren Gefangenen“ zu informieren. Gemeint sind Rechtsextreme, die derzeit wegen Volksverhetzung im Gefängnis sitzen.

Auf Kanälen wie „Ende der Luege“ wird systematisch Volksverhetzung betrieben. 940 Abonnenten lesen mit, wenn Hakenkreuze gepostet und Schwarze verhöhnt werden.

„Gereinigt von den Spuren der jüdischen Lügen wird der Deutsche Volksgeist in neuem Glanz erstrahlen“, ist dort zu lesen. Dieser Volksgeist werde „erneut in das Weltgeschehen eingreifen“ und zeigen, dass „die Idee des Nationalsozialismus der Weg der Rettung aus der judaisierten Welt ist“. Es sind Zitate vom freigelassenen Horst Mahler.

Auch der Holocaustleugner-Kanal „Ende der Luege“ ist für jedermann zugänglich. Wie kann derart gehetzt werden, ohne dass jemand eingreift?

Anders als Facebook, Instagram oder Twitter fallen Messenger-Dienste wie Telegram nicht unter das sogenannte Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Der Betreiber muss rechtswidrige Inhalte nicht innerhalb von 24 Stunden nach Eingang einer Beschwerde löschen oder sperren. Deshalb hat es der Gründer, der russische IT-Unternehmer Pawel Durow, derzeit gar nicht nötig, etwa eine Meldefunktion für rassistische Posts einzurichten.

Telegram-Gründer. Der russische IT-Unternehmer Pawel Durow.
Telegram-Gründer. Der russische IT-Unternehmer Pawel Durow.

© picture alliance / Robert Schles

Die Zahl der Gruppen, in denen gehasst, gedroht und zur Abschaffung der Bundesrepublik aufgerufen wird, hat sich innerhalb weniger Monate vervielfacht. Das von Bund und Ländern eingerichtete Kompetenzzentrum jugendschutz.net nennt Telegram einen „rechtsextremen Tummelplatz“ und eine „Verschwörungsschleuder“ – die App diene als „zentrale Ausweichplattform für rechtsextreme Propaganda“.

Entsprechend verstörend wirkt deshalb die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage des FDP-Bundestagsabgeordneten Jürgen Martens. Dort heißt es, strafrechtlich relevante Inhalte wie Hasspostings würden, sobald sie den Nachrichtendiensten bekannt werden, zur weiteren Bearbeitung an das Bundeskriminalamt übermittelt.

Diesem seien jedoch im laufenden Jahr von Januar bis Oktober erst „22 Fälle von volksverhetzenden Beiträgen“ bekannt. Die Zahl zeugt entweder von systematischem Wegsehen, dem Nichterkennen strafbarer Inhalte oder technischem Unvermögen. Ein durchschnittlicher Telegram-Anfänger kann innerhalb einer Stunde mehr volksverhetzende Beiträge finden als Nachrichtendienste und BKA in zehn Monaten.

In dieses Bild passt auch das Agieren der Staatsanwaltschaft Cottbus, die wegen des Wohnortprinzips zunächst für die Ermittlungen gegen Attila Hildmann zuständig war. Auf seinem Telegram-Kanal hatte dieser monatelang strafbare Inhalte gepostet. Im Juni behauptete Hildmann, ein „Judenstamm“ wolle die „deutsche Rasse“ und einen Großteil der Menschheit ausrotten. Außerdem hätten Juden den Holocaust mitfinanziert.

Den Brandenburger Ermittlern lagen frühzeitig Anzeigen und auch Screenshots vor, die Hildmanns Entgleisungen dokumentierten. Dennoch hieß es aus Cottbus monatelang bloß: Man stecke noch in den Ermittlungen.

Am Ende zog die Staatsanwaltschaft Berlin alle Ermittlungen an sich. In der kommenden Woche beginnt das Landeskriminalamt, bei Hildmann sichergestellte Mobiltelefone, Computer und Speichermedien auszuwerten.

Über Hildmanns tägliche Ausfälle wundert sich inzwischen kaum jemand mehr. Anders ist es bei Telegram-Nachzüglern wie Michael Wendler, die hier erst seit Kurzem Verschwörungsmythen verbreiten. Hat sie die lange Pandemie mit all ihren Zumutungen und finanziellen Härten aus der Bahn geworfen? Zumindest im Fall Wendlers stimmt das nicht.

Bekannten hat der Schlagersänger bereits Mitte März, zu Beginn des ersten Shutdowns, ungefragt Corona-Leugner-Videos geschickt, laut denen es gar keine Pandemie gibt. Damals allerdings noch über Whatsapp.

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In seinen ersten Tagen auf Telegram stieg die Zahl seiner Follower rasant an. Sie hat sich mittlerweile bei 120.000 eingependelt. Das klingt einerseits viel. Andererseits entspricht es ziemlich genau der Anhängerzahl, die sich Xavier Naidoo und Attila Hildmann mit deutlich längerer Telegram-Tätigkeit erarbeitet haben.

Was wiederum heißt: Die Zahl der Menschen, die für abseitige Theorien empfänglich sind oder aus Unterhaltungsgründen einem Prominenten beim Abdriften zuschauen möchten, ist offenbar begrenzt.

Vor sieben Jahren gegründet, zählt Telegram inzwischen zu den zehn meistgenutzten Apps der Welt – und zu den zehn mit den aktuell meisten Downloads. Außerhalb Deutschlands hat der Dienst dabei einen völlig anderen Ruf.

In vielen autoritär geführten Ländern ist er wichtiges Instrument der demokratischen Opposition. In Belarus und Iran etwa organisiert sich so die Zivilgesellschaft. Genau dies sei auch der eigentliche Zweck der App, betont Gründer Pawel Durow immer wieder. Er sieht sich als Unterstützer liberaler Werte und von Freiheitsverfechtern weltweit.

Internet-Ikone. Für viele Telegram-Nutzer in autoritären Staaten, hier in Russland, ist das Unternehmensgründer Pawel Durow.
Internet-Ikone. Für viele Telegram-Nutzer in autoritären Staaten, hier in Russland, ist das Unternehmensgründer Pawel Durow.

© imago/ITAR-TASS

Um deren Kampf möglichst risikoarm zu machen, hat Pawel Durow nach eigenen Angaben die am schwersten zu hackende und daher „sicherste Technologie auf dem Markt“ entwickelt.

Dieses Versprechen ist allerdings zweifelhaft. Deutsche Ermittler können seit mindestens fünf Jahren in Chats von Verdächtigen mitlesen. Künftig dürfte das noch einfacher werden.

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Im Oktober hat sich die Bundesregierung auf einen Gesetzentwurf geeinigt, wonach allen deutschen Geheimdienstbehörden der Einsatz sogenannter Staatstrojaner erlaubt wird. Das heißt, Endgeräte dürfen gehackt werden, um darauf jede Kommunikation mitzulesen. Dann spielt es keine Rolle mehr, wie gut Telegram die Übertragung der Daten verschlüsselt: Die Kommunikation wird direkt auf dem Smartphone ausgelesen.

Die Frage ist, ob das auch zu konsequenterem Durchgreifen führt. Die Telegram-Aktivitäten des späteren Breitscheidplatz-Attentäters Anis Amri wurden von deutschen Ermittlern ausgiebig mitgelesen – allerdings ohne aus seinen Ankündigungen, er wolle zeitnah einen schweren terroristischen Anschlag begehen, Konsequenzen zu ziehen. Stattdessen entschied man sich, Amri nicht mehr zu beobachten.

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