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Beim Dreh des Crowdfunding-Videos

© Joyn / INDI Film

Umstrittenes Projekt „12062020 Olympia“: Warum die Weltrettung in Berlin ausblieb

Vor einem Jahr wollten sie Politik gestalten – mit 90.000 Menschen im Olympiastadion. Es gab einen Shitstorm. Hier verrät das Team, ob es den Ärger wert war.

Am härtesten traf sie der Vorwurf mit dem Nazi-Stadion, sagt Nancy Koch. Die Behauptung, man könne ein solches Projekt doch unmöglich an einem historisch belasteten Ort wie dem Berliner Olympiastadion verwirklichen. Oder schlimmer noch: Die Standortwahl belege, dass in ihrem Vorhaben faschistisches Gedankengut mitschwinge. „Das war der Kritikpunkt, den ich bis heute nicht absurder finden könnte“, sagt Nancy Koch.

Vor einem Jahr sollte sie stattfinden: die größte Bürger:innenversammlung der deutschen Geschichte. 90 000 Menschen würden im Olympiastadion zusammenfinden, um gemeinsam per Smartphone eine Reihe von Petitionen zu verabschieden, die anschließend, sollten sie das Quorum von 50 000 Befürwortern erreichen, im Bundestag beraten werden müssten. Für mehr Klimaschutz, gegen soziale Ungerechtigkeit, für echte Gleichberechtigung. Die Leute würden beweisen, wie wirkmächtig Demokratie ist. Ja, dass sie sogar Freude bereiten kann.

Um das Stadion anzumieten, benötigten die Organisatoren 1,8 Millionen Euro. Der Weg dahin geriet zu einer Geschichte der Euphorie und der Fassungslosigkeit, des Jubels, Entsetzens und Weitermachens, der persönlichen Verletzungen und unterstellten Absichten. Es ist auch die Geschichte eines Projekts, dessen abruptes Ende viele Menschen gar nicht mitbekamen.

Was haben die Initiator:innen, mit einem Jahr Abstand, daraus gelernt? Und war es das alles wert?

An einem windigen Mittwochvormittag sitzt Nancy Koch, 38, mit ihrem Becher Kaffee auf einer Holzbank am Lausitzer Platz in Kreuzberg. Sie sagt: Das Erlebte hat die Gruppe zusammengeschweißt. Zu etlichen der rund 100 Menschen, die sich für das Projekt engagiert hatten, halte sie noch Kontakt.

Afra Gloria Müller (links) und Nancy Koch gehörten zum Kernteam des Projekts.
Afra Gloria Müller (links) und Nancy Koch gehörten zum Kernteam des Projekts.

© Doris Spiekermann-Klaas

Die Idee, den größten verfügbaren Versammlungsort Berlins anzumieten, um dort einen Tag lang per Smartphone eine Petition nach der anderen zu verabschieden, verbreitete sich im Sommer 2019 rasch. Die Schüler:innen von „Fridays for Future“ Berlin schlossen sich an, ihr deutsches Gesicht Luisa Neubauer unterstützte das Projekt von Beginn an. Auch die Wissenschaftler, die als „Scientists for Future“ Berlin/Brandenburg nachhaltige Politik einfordern, brachten sich ein. „Wenn Menschen egobefreit zusammenarbeiten, entsteht Magie“, sagt Koch.

Sie waren sich einig, dass es kein Sponsoring geben dürfe, das komplette Stadion sollte werbefrei bleiben. Die 1,8 Millionen sollten allein von den Teilnehmer:innen finanziert werden – per Crowdfunding innerhalb von 30 Tagen. Wenn dies gelänge, wäre es die größte Schwarmfinanzierung, die es je in Europa gab. Außerdem dürfe keinesfalls der Eindruck entstehen, die Menschen kauften sich nur Tickets, um im Stadion im Begleitprogramm bekannte Bands zu sehen.

Sie müssten sich tatsächlich und für alle Welt offensichtlich treffen, weil sie die Zukunft mitgestalten wollen. Nur so würden sich Politik und Wirtschaft beeindrucken lassen.

„So billig war die Weltrettung noch nie“

In dem Video, mit dem sie zum Crowdfunding aufriefen, hieß es: „Für nur 29,95 Euro könnt Ihr Euer Ticket zur größten Krisensitzung Deutschlands kaufen.“ Und weiter: „So billig war die Weltrettung noch nie.“ Fünf Minuten nach Start hatten sie schon 3000 Euro beisammen, am Ende des ersten Tags, es war der 21. November 2019, waren es 150 000. „Wir waren auf einem verdammt guten Weg“, sagt Nancy Koch. Dann brach der Shitstorm los.

Ein populärer Youtuber beschwerte sich über „schlimmstes Start-up-Blabla, naiven Weltverbesserungskitsch und die Ersetzung von Politik durch Gefühle“. Die Frankfurter Sektion von Fridays for Future distanzierte sich öffentlich, da die Veranstaltung „in keinster Weise die Werte unserer Ortsgruppe widerspiegelt und antidemokratisch und intransparent organisiert wurde“. Im Tagesspiegel stand in einem Gastbeitrag, die Idee sei „dumm und grotesk“.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Gruppe ausschließlich positive Resonanz auf ihr Vorhaben erlebt. Einer der Initiatoren beschrieb es, kurz vor Beginn des Shitstorms, so: „Wir dürfen etwas organisieren, was so krass ist, dass alle, die damit in Kontakt kommen, in kleine Funken und Diamanten und Sterne explodieren.“

Nancy Koch war sehr früh zur Gruppe gestoßen. Sie arbeitete damals bei Siemens, seit 18 Jahren schon, „also mein halbes Leben“. Sie hatte, sagt sie heute, eine „klassische BWL-Karriere“ hingelegt, im Konzern als Projektmanagerin und Abteilungsleiterin gearbeitet. Nun brauchte sie eine Pause. „Ich wollte raus aus dem Hamsterrad“, sagt sie.

Charlotte Roche (rechts) unterstützte die Idee von Beginn an.
Charlotte Roche (rechts) unterstützte die Idee von Beginn an.

© Joyn / INDI Film

Über Instagram wurde Koch auf das Projekt aufmerksam. Sie dachte: „Hier bin ich nicht mehr allein mit meinen Ansichten. Nicht mehr das Alien, das Hafermilch trinkt und vegane Wurst isst.“ Koch stieg als Projektmanagerin bei den Weltverbesserern ein. Wie alle im Team ehrenamtlich.

Die Kritik, die die Gruppe traf, war so breit gefächert, dass sie in ihrem Kreuzberger Büro alle Punkte mit Edding auf einem Flipchart notierten. Sie brauchten dafür drei Bögen A0-Papier.

Besser aufs Tempelhofer Feld ziehen?

Da gab es etwa den Vorwurf, sie stählen mit ihrer Idee anderen Initiativen die Aufmerksamkeit. Die Bezeichnung „Bürger:innenversammlung“ leite fehl, weil die Menschen im Stadion nicht repräsentativ seien. Es könne auch nicht angehen, dass zwei der Initiatoren gleichzeitig Unternehmer seien, nämlich die Gründer des Berliner Kondomherstellers „Einhorn“. Die 1,8 Millionen Euro seien anderswo besser investiert. Die ganze Chose käme deutlich billiger, wenn man statt ins Olympiastadion einfach aufs Tempelhofer Feld ziehe. Dass sie im Spendenaufruf das Wort „Weltrettung“ benutzt hatten, das sei extrem billig. Und so weiter.

Ein verbreiteter Vorwurf lautete, demokratische Teilhabe müsse für alle möglich sein und nicht bloß für jene, die sich ein Ticket leisten können. Wenn die Menschen im Stadion etwa eine Petition für höhere Benzinpreise verabschiedeten, wären ausgerechnet jene, die am meisten aufs Geld achten müssten, nicht dabei.

„Das ist ein Punkt, den wir nicht wegdiskutieren können“, sagt Nancy Koch heute. „Es war tatsächlich eine Schwachstelle.“ Zwar gab es die Möglichkeit, „Soli-Tickets“ zu finanzieren. Etwa die Hälfte der Menschen wäre umsonst reingekommen. Doch das Grundproblem blieb.

Das Team rechnete auch durch, ob es sich lohnte, tatsächlich aufs Tempelhofer Feld umzuziehen. Wenn man statt des Komplettpreises alles einzeln organisierte: die Bühne, die Technik, das Sicherheitspersonal, die Toiletten, die Müllentsorgung ... Nancy Koch sagt: „Es wäre noch teurer geworden.“

Dass die öffentliche Kritik derart schmerzte, lag wohl daran, dass sich die Initiator:innen mit ihrer Vision identifizierten. „Ich habe mich persönlich angegriffen gefühlt“, sagt Afra Gloria Müller, 30. Auch sie gehörte zum engsten Kreis des Teams, hatte zuvor in einer Unternehmensberatung gearbeitet, Schwerpunkt: change management. Als sie ihre Kollegen einmal fragte, ob die nicht mitwollten zur Klimaschutzdemo, kam als Antwort: Bevor wir da demonstrieren, müssten wir erst mal das Fliegen sein lassen.

Waldemar Zeiler (links) und Philip Siefer, die Gründer von „Einhorn“
Waldemar Zeiler (links) und Philip Siefer, die Gründer von „Einhorn“

© Joyn / INDI Film

Im November 2019 besuchte Afra Müller eine Veranstaltung in der Markthalle 9 in Kreuzberg, dort wollten die Initiator:innen ihr Projekt vorstellen. Vorn auf dem Podium saß die Autorin Charlotte Roche, auch sie Unterstützerin seit Beginn. Roche sagte, die Fakten über CO2-Ausstoß, Auswirkungen des Fleischkonsums und dringend nötigen Umweltschutz seien seit Jahrzehnten bekannt und nun endlich auch im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit angelangt. Genau jetzt sei der Zeitpunkt, danach zu handeln. Sie selbst habe viel zu lange zu viel Mist gebaut, allein der Müll, den sie hätte einsparen können. „Ich schäme mich zu Tode vor meinen Kindern“, sagte Roche. Und mit der ihr eigenen Mischung aus Enthusiasmus und Selbstironie versprach sie: „Wir können Livepetitionen durchhauen, bis die Welt gerettet ist.“

Nach der Veranstaltung sprach Afra Müller die Vortragenden an, sagte: „Ich glaube, hier bin ich richtig.“ Zwei Tage später saß sie im Crowdfundingbüro, verantwortete die Freiwilligenorganisation und bald die Social-Media-Kanäle. Ein Freund sagt, Müller habe sich in nur einer Woche von der Unternehmensberaterin zur Vollzeitaktivistin gewandelt.

Müller sagt: „Ja, stimmt.“

Eigentlich sollte die Veranstaltung „Unfuck the World“ heißen. Dass es mit diesem Namen schwierig würde, merkten sie Ende Oktober, als sich die Gruppe im Olympiastadion versammelte, um ein kurzes Werbevideo für das Crowdfunding zu drehen. Auch einige Schüler waren gekommen und die Wissenschaftler von Scientists for Future. Manche hatten selbst bemalte Schilder mitgebracht. Der Plan war, gemeinsam über die Tartanbahn auf die Kamera zuzulaufen, dabei in die Hände zu klatschen und „Unfuck, unfuck the world“ zu skandieren. Einer der Wissenschaftler wandte ein: „Was ist denn, wenn wir nicht Fuck sagen wollen?“

Es wurde diskutiert. Die anwesende Meeresbiologin drückte sich schließlich diplomatisch, aber verbindlich aus: „Ich glaube, es gibt noch keinen Konsens darüber, dass wir ,unfuck the world‘ rufen.“

Am nächsten Tag trafen sie sich zum Brainstorming, suchten nach Alternativnamen: „Team Olympia“ zum Beispiel, aber auch „Utopia for Realists“, „Folksversammlung“, „Project O“ oder bloß „O“. Einer schlug „DinoPark 3000“ vor.

Die Wahl des Namens, sagt Nancy Koch, haben sie immer wieder diskutiert, auch in den Wochen danach. Am Ende entschied man sich für Datum und Ort als Namen: „12062020 Olympia“.

Die Zeit des Crowdfundings verstrich, lange sah es aus, als würden sie scheitern. Nancy Koch sagt, es gab keinen Freund und keinen Bekannten, die sie noch nicht überzeugt hatte. Auch ihrer Mutter hatte sie schon eine Karte gekauft.

Sie ließen sich von einem Filmemacher begleiten, der alle Höhe- und Tiefpunkte festhielt. Daraus ist die Dokumentation „Unfck the World“ geworden, die aktuell beim Streamingdienst „Joyn“ zu sehen ist und erstaunliche Einblicke ins Innenleben einer verunsicherten, aber zunehmend kampfeslustigen Aktivistentruppe gewährt. Von ihnen werde erwartet, perfekt zu sein, sagt Nancy Koch in einer Szene. Das nerve ungemein. Statt nur zu reagieren, müssten sie wieder ins Kreieren kommen.

Afra Müller sagt, der Empörungssturm habe ihr einerseits gezeigt, wie schnell Menschen dazu neigten, die Meinung anderer zu übernehmen und im Zweifel ohne nachzudenken einfach mit draufzuhauen. Dies habe auch dazu geführt, ihr eigenes Verhalten auf Social Media zu überdenken. Andererseits habe die harte Kritik das Team dazu gebracht, sich inhaltlich besser aufzustellen. Und umso entschlossener zu sein.

Am 19. Dezember, fünf Tage vor Ende des Crowdfundings, fehlten noch 800 000 Euro. Was alles änderte, war ein virtuelles Treffen der Sängerin Lena Meyer-Landrut und der Klimaaktivistin Luisa Neubauer auf Instagram. Meyer-Landrut sagte, es sei jetzt Zeit, zu kämpfen und den Mund aufzumachen. Sich etwas zu trauen. Und dass das Wort Krise ja aus dem Griechischen komme und Entscheidung bedeute.

Klima-Aktivistin Luisa Neubauer
Klima-Aktivistin Luisa Neubauer

© Fabian Sommer/dpa

Als Nächstes brach die Homepage der Kampagne zusammen, wegen zu großer Nachfrage. Was wiederum dazu führte, dass sich noch mehr Menschen unbedingt eine Karte sichern wollten. Klassisches „fear of missing out“, sagt Afra Müller – die Angst, etwas zu verpassen. Es könne aber auch sein, dass einfach schon so viele Wahlberliner:innen zum Weihnachtsfest in ihre Heimatorte gefahren waren und dort nun die frohe Botschaft des Olympiastadions verkündeten.

Jedenfalls müssen wir genau so weitermachen, dachte Müller. Und schrieb in der Nacht auf Heiligabend auf Instagram Prominente an, um sie für einen Dauer-Livestream zu gewinnen. Bela B. von „Die Ärzte“ konnte nicht, er war auf dem Land und hatte kaum Netz, aber viele andere sagten zu.

Am Ende schafften sie die 1,8 Millionen. Müller sagt: Es war eine große Erleichterung – und gleichzeitig das Gegenteil. Denn nun standen sie in der Verantwortung, tatsächlich innerhalb weniger Monate eine Veranstaltung für mehr als 70 000 Menschen zu organisieren.

Arcade Fire hätten den Tag eröffnet

In den nächsten Wochen begannen die Planungen des Programms. Es gab 300 eingereichte Petitionen, aus denen alle Interessierten nun die vielversprechendsten auswählen sollten. Etwa die für nachhaltiges Bauen, für die Einrichtung von Bürgerräten für Klimamitbestimmung, für das Recht, defekte Elektrogeräte repariert statt ersetzt zu bekommen. Bereits fest zugesagt hatte die Rockband Band Arcade Fire. Sie hätte mit ihrer Hymne „Wake Up“ den Tag eröffnet.

Dann kam Corona und beendete ihre Pläne. „Unser Traum ist geplatzt“, sagt Nancy Koch. „Wir hatten das Unvorstellbare möglich gemacht, und am Ende konnten wir doch nicht ins Stadion.“ Aber natürlich sei die Absage das einzig Richtige gewesen.

Dank der Ausfallversicherung konnten sie den Käufern alles Geld zurückzahlen. Ein Teil der Kartenbesitzer beschloss, auf das Geld zu verzichten und es stattdessen für soziale Projekte zu spenden. 500 000 Euro kamen zusammen.

Afra Müller ist nicht in die Unternehmensberatung zurückgekehrt, sie arbeitet jetzt in einem Verein, der sich für die Belange sozialer Unternehmen einsetzt. Sie sagt, sie wolle nie wieder in einem patriarchalisch geprägten Umfeld arbeiten, in dem Männer ihr erzählen, dass Frauen nicht mit Excel umgehen können.

Und wenn die Pandemie vorüber ist: Wird es das Projekt Olympia doch noch geben? „Ich würde es mir wünschen“, sagt Müller. Aber vielleicht werde das Experiment, das dann komme, auch völlig anders aussehen. In jedem Fall hoffe sie, dass die Menschen es nicht gleich niederbrüllen werden.

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