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Sweet Memories. Auch wenn es nie so schön war, wie wir in der Rückschau glauben – der rosarote Blick hilft in Krisenzeiten

© mauritius images / ClassicStock

Weihnachten im Lockdown: Von der heilsamen Wirkung der Nostalgie

Das Weihnachtsfest findet dieses Jahr in kleinster Runde statt. Klar kann man lamentieren. Oder sich einfach über das freuen, was schon alles war.

Ilse Oelrich freut sich, sie freut sich wie ein kleines Kind: auf Weihnachten. Allein. Endlich Würstchen mit Kartoffelsalat! Ein eigener Tannenbaum – wie sie ihn nach Hause kriegt, weiß die 89-Jährige noch nicht, aber das wird schon –, mit richtigen Kerzen dran. Die Dortmunderin hofft, auch noch rechtzeitig an einen Plattenspieler zu kommen, um ihre alten Scheiben, die sie nie weggeworfen hat, aufzulegen, mit den Weihnachtsliedern von einst.

Ihrem mittlerweile verstorbenen Mann waren Würstchen mit Kartoffelsalat zu proletarisch und Kerzen zu gefährlich. Jahrzehntelang wurde alles so gemacht, wie es in seiner Familie Tradition war. „Aber elektrische Lichter, das ist doch kein Weihnachten!“, empört Oelrich sich. Später fuhr sie immer zur Familie ihrer Tochter, feierte wieder nach fremden Regeln. Aber jetzt, wo sie nicht verreisen darf, also auch nicht muss, macht Ilse Oelrich alles so früher. Endlich wieder Kind sein. An Heiligabend wird sie in Erinnerungen schwelgen.

Sie hat ein phänomenales Gedächtnis, satt mit Details

Das tut sie auch jetzt, am Telefon. Oelrich erzählt von Weihnachten im Ruhrgebiet der 30er Jahre, als wäre es heute. Die alte Dame hat ein phänomenales Gedächtnis, satt mit Details. Wie sie mit ihren Geschwistern ins Wohnzimmer trat und als Erstes Richtung Sofa blinzelte, um sich zu vergewissern, dass da auch Geschenke lagen. Aber noch unter einem weißen Tuch verdeckt, denn erst mal wurde gesungen, musste jedes der drei Kinder ein Gedicht aufsagen. Wie sie sich einmal sehnlichst eine Kapuze wünschte und dann ein ganzes Cape bekam. Ilse Oelrich sprudelt nur so.

„Weihnachten retten!“ So lautete der Schlachtruf der letzten Wochen. Also wurde das Leben ein bisschen heruntergedimmt, um an den Feiertagen in großer Runde zusammenkommen zu können. Hat bekanntlich nicht funktioniert. Nun ist in diesem Jahr nichts, wie es war.

Aber wie war es denn mal? Meist fehlt in den hektischen Vorweihnachtstagen die Muße, sich darauf zu besinnen. Zu viele Feiern, zu viele Besorgungen und Verpflichtungen, zu viel Weihnachtsmarkt und Glühwein. Wenn jetzt mal der Pausenknopf gedrückt wird – ist das gar nicht schlecht fürs Gehirn. Und die Seele sowieso.

Meist fehlt in den hektischen Vorweihnachtstagen die Muße, sich zu besinnen.
Meist fehlt in den hektischen Vorweihnachtstagen die Muße, sich zu besinnen.

© Oliver Berg/dpa

Statt zu lamentieren über das, was nicht geht, labt man sich einfach an dem, was man schon alles hatte. Die Erinnerung, genauer gesagt: das sogenannte episodisch-autobiografische Gedächtnis, im Unterschied zum Faktengedächtnis, ist schließlich das, was den Menschen zum Menschen macht, ihn vom Tier unterscheidet. „Das lebt im Hier und Jetzt“, sagt Hans. J. Markowitsch. „Wir sind, woran wir uns erinnern.“ Auch Kinder, so der Gedächtnisforscher, prägen sich erst die Fakten ein – das ist ein Tisch, das ist ein Stuhl –, bevor sie, mit zwei, drei Jahren Zeitkonzepte entwickeln, und damit eine Vorstellung vom Ich als eigenständiger Person.

„Grundsätzlich vergessen wir nur sehr wenig, das Allermeiste ist bloß unterdrückt“, sagt Markowitsch. „Es wird nicht als so wichtig angesehen, wenn man seinen normalen Alltag lebt.“ Robert Musil hat die Erinnerung „Urlaub vom Leben“ genannt. Corona-Ferien kann jeder gebrauchen. Der Lockdown ist die ideale Gelegenheit für eine Zeitreise. Also los!

„Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“, lautet der geniale Titel von Joachim Meyerhoffs autobiographischem Roman über seine Kindheit. Natürlich war es nie so, wie wir glauben. Macht aber nichts. „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann.“ Dass die Weisheit Jean Pauls so oft zitiert wird, macht sie nicht weniger wahr. Aus der Erinnerung lässt sich viel Kraft schöpfen, das haben Wissenschaftler bewiesen und Kranke, Alte und Gefangene oft genug selbst erlebt. „Sie können sich ihr eigenes Theater zurückholen“, sagt der Psychologe Markowitsch. Oder ihr Kino. Nicht nur Ilse Oelrich hat ja das Weihnachtsfest ihrer Kindheit wie eine Filmszene klar und lebendig vor Augen.

Nostalgie macht gute Laune und ist ein gutes Mittel gegen Einsamkeit

Tim Wildschut, Psychologe

Man sollte die Nostalgie nicht der Werbung überlassen, die damit nur teure Uhren und edle Autos verkaufen will. Dafür ist sie viel zu wertvoll. Früher als rückwärtsgewandt verpönt, wird die Nostalgie inzwischen als regelrechtes Anti-Depressivum empfohlen. „Nostalgie macht den Menschen gute Laune, fördert empathisches Verhalten und ist ein gutes Mittel gegen Einsamkeit und Entfremdung“, hat der niederländische Psychologe Tim Wildschut von der University of Southampton gesagt. „Sie hat therapeutisches Potenzial.“

Selbst der Weihnachtsmann trägt dieses Jahr Maske.
Selbst der Weihnachtsmann trägt dieses Jahr Maske.

© Tom Weller/dpa

Nicht umsonst schneiden bei Umfragen zur Lebenszufriedenheit, auch jetzt in Corona-Zeiten, die Alten besser ab als die Jungen. Sie haben weniger zu verlieren – die Zukunft haben sie weitgehend schon hinter sich –, arrangieren sich, auch bei körperlichen Beschwerden, leichter mit eingeschränkten Gegebenheiten. Und setzen die rosarote Brille auf. Das Gedächtnis selbst dient dabei als Weichzeichner des Lebens: Schönes ist stärker in Erinnerung als Schlechtes. Die zunehmende Verklärung ist ein evolutionsbiologisches Werkzeug, wie Markowitsch erklärt. „Je älter man wird, desto weniger kann man die Welt noch verändern, muss sich zufrieden geben mit dem, was ist. Da holt man eher das Positive zurück, lässt das Negative ruhen.“

Um Missverständnissen vorzubeugen: Hier geht es um die persönliche, nicht die gesellschaftspolitische Verklärung der Vergangenheit. Mit Wonne an früher zu denken, bedeutet, nicht, die Gegenwart abzulehnen. Auch Ilse Oelrich lebt ganz im Hier und Heute. Am Wochenende des Telefongesprächs sind gerade die Enkelsöhne aus München zu Besuch, mit einer Freundin telefoniert sie jeden Tag, die beiden Dortmunderinnen schicken sich auch dauernd Briefe mit kleinen Gaben, und wenn Freunde ihrer Töchter zu Besuch kommen: toll! Ilse Oelrich freut sich des Lebens, jeden Tag.

Wenns früher schön war, warum soll’s in Zukunft nicht auch so sein?

Im Übrigen führt der wohlwollende Blick zurück sogar nach vorn, stimmt er doch optimistisch: Wenn’s früher – ob wirklich oder vermeintlich – schön war, warum soll’s in der Zukunft nicht auch so sein? Und die positive Retrospektive macht sozial. Bei einem Harvard-Experiment wurden Probanden gebeten, Erlebnisse aus der Kindheit aufzuschreiben. Wer Schönes rekapitulierte, war hinterher bereit, für einen guten Zweck mehr zu spenden oder zusätzliche Aufgaben zu übernehmen als die Vergleichspersonen.

Nostalgie hilft bei der Bewältigung schwerer Zeiten“, hat ein Forscher von der University of Southampton gesagt – als man noch nichts von Corona wusste. Die Menschen wärmen sich sogar buchstäblich daran. Der Psychologe Tim Wildschut hat mit seinem Team in Experimenten herausgefunden, dass Leute in einem kalten Raum eher nostalgisch werden, als in einem warmen.

Der Winter im Allgemeinen und Weihnachten im Besonderen ist daher eine ideale Zeit für Zeitreisen. Das Fest wirkt geradezu wie eine Erinnerungsschleuder. Allein der Duft von Plätzchen und Pute, Tannennadeln und Kerzen beamt einen in die Vergangenheit zurück. „Wir lernen und erinnern grundsätzlich über Assoziationen“, sagt Markowitsch. „Und Geruch ist das Früheste, woran wir uns erinnern, woran wir die Mutter erkennen.“

Auch wer nie Proust gelesen hat, kennt die Stelle: Als der französische Schriftsteller seine Madeleine, in Lindentee getunkt, schmeckt – und zusammenzuckt. Plötzlich denkt er zurück ans Dorf seiner Kindheit, die Tante ... Der Volkskundler Andreas Hartmann hat aus solchen Madeleinemomenten ein Buch gemacht, „Zungenglück und Gaumenqualen“, in dem er die Geschmackserinnerungen von Menschen gesammelt hat. „Eine einzige unerwartet aufblitzende Geschmacksempfindung“, schreibt er da, „ein flüchtiger, von anderen Menschen kaum bemerkbarer Duft, selbst schon der bloße Gedanke an ein bestimmtes Aroma vermag längst vergangene Lebensabschnitte so deutlich in Erinnerung zu rufen, dass die Jahrzehnte, die sie von der Gegenwart trennen, dahinschwinden.“ Von Nase und Gaumen führt der Weg direkt ins Hirn. „Immer wenn ich traurig bin“, sagt eine Frau in dem Buch, „dann backe ich Pfannkuchen.“ Um sich das Gefühl der Geborgenheit zurückzuholen, das ihr die Mutter mitten im Krieg manchmal spendete. Isst sie heute die Pfannkuchen mit ihrer Tochter, ist die Welt wieder in Ordnung,

Je emotionaler ein Erlebnis, desto stärker die Erinnerung daran. Und an Gefühlen herrscht Weihnachten ja kein Mangel. Triggerreize wie Duft und Geschmack, aber auch Musik, die emotionalste aller Künste, Fotoalben, Filme helfen dem Gedächtnis auf die Sprünge. Und wer unter einem schlechten Gedächtnis leidet, freut sich eben an den Erinnerungen anderer, indem er deren Autobiographien liest, blättert in historischen Fotobänden, um sich so in die eigene Vergangenheit zurück zu beamen.

Je emotionaler ein Erlebnis, desto stärker die Erinnerung daran. 
Je emotionaler ein Erlebnis, desto stärker die Erinnerung daran. 

© Doris Spiekermann-Klaas

Und das Besondere ist es, was hängenbleibt. Der Überfluss schüttet die Reminiszenz zu. Auch das ist ein Grund, warum Menschen wie Ilse Oelrich sich so gut erinnern kann: Die Bergmannsfamilie hatte nicht viel Geld. Ein neues Kleid für die Puppe war was Dolles.

Das Besondere ist auch ein Grund, warum man sich gerade an Kindheit und Jugend so gut erinnern kann, an seine 50er Jahre dagegen kaum. So vieles passiert in jungen Jahren zum ersten Mal, so viele intensive Erlebnisse. Außerdem, so Markowitsch, ist das Hirn natürlich schön unverbraucht und leer. Generell gilt die Devise: Was zuletzt reinkommt, geht zuerst raus. „Last in, first out“, sagen die Experten dazu.

Mit anderen am Ersten Weihnachtstag am Tisch zu sitzen und sich über die Pute herzumachen, schafft Verbindung. Aber auch sich gemeinsam zu erinnern, stärkt die Gemeinschaft, fördert das Gefühl der Kontinuität. Ilse Oelrich muss das niemand sagen, ihre Geschwister leben noch. Wenn sie mit der 92-jährigen Schwester und dem 85-jährigen Bruder zusammensitzt, erzählen sie sich Geschichten von einst „und lachen uns kaputt“. Wenn sie Stielmus kocht, eine Art Rübeneintopf, wie früher, funktioniert das Gedächtnis umso besser.

Was wir früh erlebt haben, rufen wir häufiger ab.

Hans. J. Markowitsch, Gedächtnisforscher

Für ihr unglaubliches Erinnerungsvermögen hat Ilse Oelrich selbst übrigens eine einfache Erklärung: „Ich rede gern.“ Indem sie die Geschichten von früher immer wieder hervorholt, brennen sie sich tiefer ein. Denn „was wir früh erlebt haben, rufen wir häufiger ab, speichern es wieder ins Netzwerk ein, reinkodieren es, dadurch festigt es sich“, erklärt Markowitsch.

Oelrichs andere Erklärung für ihr Gedächtnis: „Ich erlebe bewusst.“ Auch damit bestätigt sie die Forscher. Die Erinnerung braucht Aufmerksamkeit, Konzentration. Und Stress ist tödlich für sie.

Man kann, ja, sollte vorsorgen für Zeiten wie diese. So wie die Feldmaus Frederick aus dem gleichnamigen Bilderbuch von Leo Lionni, die, während die anderen fleißig Nüsse und Stroh hamstern, scheinbar faul auf seinem Stein sitzt und in Wirklichkeit fleißig Sonnenstrahlen sammelt, an denen sich am Ende des Winters alle wärmen.

Daraus lässt sich sogar ein Geschäft machen. Nachdem der dänische Glücksforscher Meik Wiking mit seinem Buch über Hygge einen internationalen Millionen-Bestseller gelandet hat, legte er im vergangenen Jahr ein Buch über „Die Kunst der glücklichen Erinnerung und wie sie uns dauerhaft glücklich macht“ nach. Ein Feelgood-Ratgeber, der erklärt, wie man es sich nicht nur zu Hause, sondern auch in der Seele gemütlich machen kann.

Doch wer beim Kramen in der Vergangenheit eher missratene Feiertage zu Tage fördert, muss sich nicht grämen. Als Erinnerung können sogar die helfen. Da ist man doch froh, dass der ungeliebte Teil der Verwandtschaft dieses Jahr zu Hause bleibt. Und im Übrigen geben verunglückte Situationen – mit gebührender Distanz – immer die besten Geschichten ab.

Kein Mensch kann vorhersagen, wie der diesjährige Heiligabend in klitzekleiner Runde tatsächlich wird. Aber so viel steht jetzt schon fest: Es ist was ganz Besonderes. Weihnachten 2020 wird niemand so schnell vergessen.

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