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Zerstörtes Haus in Butscha

© Imago/Dominika Zarzycka

Wiederaufbau von Butscha und Irpin: Das Leben nach dem Massaker

In Kiews Vororten hinterließen die russischen Soldaten schwerste Zerstörungen. Jetzt leben hier Menschen in Zugwaggons, reparieren Schulen – und wollen ein neues Konzerthaus bauen.

Vorigen Winter war er hier noch beim Bowling, sagt Bohdan Sidorenko. Jetzt ist das Einkaufszentrum ein verkohlter Trümmerhaufen. Nur das Wellblechdach und die meisten Stützpfeiler stehen noch. Vor dem Krieg wurde die zweistöckige Mall von Irpins Bewohnern „Giraffe“ genannt, weil Farbe und Maserung der Fassade an das Fell dieses Tiers erinnerten. Es gab hier auch Restaurants und eine Bar, letztere könne er nicht empfehlen, sagt Sidorenko. Aber das sei ja nun sowieso egal.

Der 49-Jährige hat eine Fotokamera mitgebracht. Er will die Zerstörung dokumentieren und die Bilder anschließend seiner Frau schicken, die noch in Warschau ausharrt. Es riecht verbrannt. Sidorenko hält sich die Nase zu.

Die Giraffe ist in den ersten Tagen des Kriegs komplett ausgebrannt. Genau wie die Tankstelle gegenüber, wo jetzt die Schrotthalde ist, auf der Trümmer aus den umliegenden Wohnstraßen gestapelt werden. Zwei Bagger schieben Schutt von einem Haufen auf den anderen. Wegen der aufgewirbelten Staubwolken wirkt es, als brenne er noch.

Die Mall „Giraffe“ ist komplett zerstört.
Die Mall „Giraffe“ ist komplett zerstört.

© Sebastian Leber

Die Giraffe und die Tankstelle liegen am nordwestlichen Stadtrand von Irpin. Hundert Meter weiter, jenseits einer kleinen Brücke, beginnt Butscha.

Durch beide Vororte Kiews rollten Ende Februar russische Panzer, die in die ukrainische Hauptstadt vordringen sollten. Es ist ihnen nicht gelungen. Nach einem Monat konnte der Feind vertrieben werden. Geblieben ist die Zerstörung.

Von den ehemals 60 000 Einwohnern Irpins ist die Hälfte mittlerweile zurückgekehrt. Bohdan Sidorenko sagt, er sei bereits seit Ende April wieder da. Zu seiner eigenen Verwunderung sei seine Wohnung unberührt geblieben. Seine Nachbarn hätten dagegen ein verwüstetes Wohnzimmer vorgefunden. „Manche hatten Glück, viele andere nicht.“

Irpin benötigt eine Milliarde US-Dollar

In Irpin sind 1100 Gebäude zerstört, die meisten davon Wohnhäuser. 4000 Familien wurden obdachlos. Lediglich Teile des Südostens der Stadt blieben verschont. Laut der Stadtverwaltung werden allein für den Wiederaufbau der Gebäude 850 Millionen US-Dollar benötigt, weitere 150 Millionen für die Sanierung der Straßen und der übrigen Infrastruktur.

Wer durch Irpin schlendert, erschrickt über das Ausmaß der Verwüstung – und sieht zugleich die Auferstehung einer Stadt. Die neue Eisenbahnbrücke ist bereits eingeweiht, die Busse fahren wieder. Seit vergangener Woche sprudeln die Wasserfontänen auf dem großen Platz vor dem Rathaus. Am Sonntag begann eine stadtweite Kampagne, beschädigte Fensterscheiben auszutauschen. Und die ersten Familien dürfen in die Zugwaggons einziehen, die ihnen in den kommenden Monaten als Unterkunft dienen, bis ihre Häuser repariert sind. Es gibt einen Wagen zum Duschen, dazu eine Waschküche und einen Speisewaggon.

Eine, die Irpins Auferstehung vorantreibt, ist die Kommunalpolitikerin Iryna Yarmolenko. Die 30-Jährige hat einen lockeren Verbund aus nationalen und internationalen Architekten, Stadtplanern und Investoren gegründet, der Projekte zum Wiederaufbau der Stadt entwickelt. Mehr als 300 Freiwillige haben sich gemeldet, darunter Architekten aus Kanada, Chile und Japan. Am Mittwoch sind sie zum „Irpin Reconstruction Summit“ zusammengekommen, Irpins Wiederaufbau-Gipfel.

Die Konferenz findet per Zoom statt. Iryna Yarmolenko schaltet sich aus Frankreich zu. Am Vortag hat sie am Telefon erzählt, wie sie zu Kriegsbeginn mit ihrem sechsjährigen Sohn geflohen ist. Yarmolenko sagt, sie wäre gern längst nach Irpin zurückgekehrt, doch sie habe Angst um ihr Kind. Es gebe in Irpin kaum Schulen mit Kellern, die bei Luftalarm Schutz böten. Auch das soll sich mit dem Wiederaufbau der Stadt ändern. Denn obwohl die russische Armee aus der Region abgezogen ist und ihre Invasion nun auf den Donbass konzentriert, gibt es weiterhin Raketenangriffe Richtung Kiew.

Verwüstungen wie diese findet man in Irpin in praktisch jeder Straße.
Verwüstungen wie diese findet man in Irpin in praktisch jeder Straße.

© Sebastian Leber

Auf der Zoom-Konferenz stellen die beteiligten Architekturbüros nacheinander ihre Entwürfe vor. Während einige Wohnhäuser und Kindergärten schon jetzt wieder aufgebaut werden, könne man sich für prestigeträchtige, repräsentative Bauten mehr Zeit lassen, sagt Yarmolenko. Das Fußballstadion mit den zerbombten Tribünen etwa. Oder das Konzerthaus.

Wer es sich vor Ort aus der Nähe anschaut, bekommt einen guten Eindruck von den Gefahren, denen Irpins Bewohner über Wochen ausgesetzt waren. Die dekorativen Figuren am Eingangsportal sind mit Einschusslöchern von Gewehrkugeln übersät. Die Nordseite des Gebäudes wurde von Artillerie getroffen, hier finden sich mannsgroße Löcher in der Wand. Ob das Dach durch Raketenbeschuss oder eine abgeworfene Bombe in Brand geriet und einstürzte, ist unklar.

Konzerte finden jetzt draußen auf dem Vorplatz statt. Der verrußte Flügel wurde schon vor Wochen zusammen mit zerschossenen Autotüren, verschmorten Küchengeräten und anderen Zeugnissen der russischen Aggression nach Brüssel verschifft. Dort dient es gerade als Exponat einer Ausstellung, die Spenden generieren soll: „Irpin. Invincible“. Unbesiegbares Irpin.

Viele Gartenzäune sind mit Einschusslöchern übersäht.
Viele Gartenzäune sind mit Einschusslöchern übersäht.

© Sebastian Leber

Ein Fünftel der Bewohner, die zu Beginn des Krieges aus der Stadt flohen, wusste schon vorher, was Vertreibung bedeutet. Sie waren acht Jahre zuvor aus dem Donbass evakuiert worden und hatten sich in dem Kiewer Vorort ein neues Leben aufgebaut. In den letzten Jahren waren sechs Kliniken, fünf Kindergärten, eine neue Schule und Sportplätze eingeweiht worden. Derart große Veränderungen gebe es in keiner anderen ukrainischen Stadt, verkündete der Bürgermeister damals. Es gab Proteste gegen die fortschreitende Bebauung sowie die dafür nötige Abholzung von Waldgebieten. Es hieß, das bestehende Straßennetz sei den vielen neuen Autos nicht gewachsen.

Heute klingt das für die Anwohner nach Problemen aus einem anderen Universum. Problemen, die sie gern hätten.

An einen Neubau des Konzerthauses ist vor 2023 nicht zu denken, da gebe es Dringlicheres, sagt Iryna Yarmolenko. Der Entwurf, der auf der Konferenz in einem Powerpoint-Vortrag gezeigt wird, beinhaltet riesige Glasfassaden, fünf Stockwerke und eine Dachterrasse. Das neue Konzerthaus soll größer, moderner, eindrücklicher werden als sein Vorgänger. Finanzierungskonzepte für solche Projekte gibt es nicht. Die Stadtverwaltung betont seit Wochen, ohne internationale Geldgeber werde das alles unmöglich sein.

Der Entwurf für das neue Konzerthaus von Irpin.
Der Entwurf für das neue Konzerthaus von Irpin.

© promo

Auch Oleksandr Markushyn, der Bürgermeister Irpins, ist an diesem Tag zugeschaltet. Anfang April, kurz nach der Befreiung, führte er Journalisten durch seine Stadt und berichtete, wie die feindlichen Panzer absichtlich über Leichen gerollt seien. Heute ist sein Terminkalender noch voller: Fast täglich nimmt Markushyn neue Hilfslieferungen in Empfang, gedenkt getöteter Kämpfer, ehrt jene, die überlebt haben. Am Dienstag hat er eine neue Bankfiliale eingeweiht. Und mehrmals die Woche führt er hochrangige internationale Politiker durch seine Stadt. Politiker, die im Rahmen ihrer Kiew-Besuche einen kurzen Abstecher machen. Kanadas Premierminister Justin Trudeau war hier, Finnlands Ministerpräsidentin Sanna Marin, Annalena Baerbock und Friedrich Merz, an diesem Donnerstag auch Olaf Scholz.

Irpin ist die beste und nächstgelegene Fotokulisse für EU-Kommissare, Ministerpräsidenten und Abgeordnete, die das Grauen des Kriegs in Bildern transportieren wollen. Gleichzeitig hinterlassen diese Termine bei den Besuchern selbst Eindruck. Nach einer Visite ändern sich Meinung und Motivation ausländischer Politiker, so hat es Alexander Kornienko, der Vizepräsident des ukrainischen Parlaments, neulich formuliert. Das habe sich eben erst beim Besuch irischer Abgeordneter gezeigt. Ein paar Wochen nach ihrer Reise stufte das Parlament in Dublin die russischen Gräueltaten in der Region als Völkermord ein. Wer herkomme, habe keinen Zweifel mehr, was Russland tue, sagte Kornienko.

Von der Giraffe, dem ausgebrannten Einkaufszentrum an Irpins Stadtrand, führt eine zweispurige Straße direkt nach Butscha. Vor dem Krieg war sie viel befahren, morgens in südlicher Richtung nach Kiew, abends zurück in die Vororte. Jetzt ist die Straße komplett leer.

Von dieser Garage in Butscha blieb nur der Türrahmen.
Von dieser Garage in Butscha blieb nur der Türrahmen.

© Sebastian Leber

Im Vergleich zu Irpin wirkt Butscha gespenstisch. Nur ein kleiner Teil der 28 000 Einwohner ist bisher zurückgekehrt, und kaum einer zeigt sich auf der Straße. Die Pinienbäume duften, Vögel zwitschern, zwei Hunde mit zerzaustem Fell liegen in der Sonne.

Hier ein ausgebranntes Auto, dort drei völlig zerstörte Häuser. Gartenzäune haben dicke Einschusslöcher. Viele Geschäfte sind in Butscha noch geschlossen. Auch die Woksalna-Straße, eine der Hauptverkehrsachsen Butschas, ist praktisch menschenleer. In den ersten Kriegswochen gingen Bilder aus der Straße um die Welt – hier versuchten russische Panzer in einer langen Kolonne Richtung Kiew vorzustoßen. Es gibt das Augenzeugenvideo eines Anwohners, der einen Panzer dabei filmte, wie dieser im Vorbeifahren einen vermeintlichen ukrainischen Panzer angriff. In Wahrheit schoss er irrtümlich auf ein Denkmal, das an die sowjetischen Soldaten in den 1980er Jahren in Afghanistan erinnerte.

Überraschung vor Ort: Das Denkmal ist unbeschädigt. Kann es so schnell repariert worden? Nein, nein, sagt der Besitzer des „Dzhem“, eines Cafés nebenan. Der russische Panzer habe damals, im Vorbeifahren, zum Glück nur den steinernen Sockel des Denkmals getroffen. Der Mann grinst breit.

Das sowjetische Denkmal in Butscha steht noch.
Das sowjetische Denkmal in Butscha steht noch.

© Sebastian Leber

Die Zahl der gefundenen Toten steigt in Butscha und Irpin noch immer. Diese Woche erst ist in der Nähe von Butscha ein weiteres Massengrab gefunden worden. Sieben Leichen, alle mit verbundenen Armen, zerschossenen Knien und Einschusslöchern in den Schädeln.

Und auch nach dem Abzug der Invasoren kann es hier lebensgefährlich sein. Am Montag hat deswegen Irpins Stadtrat getagt. Er verhängte ein Badeverbot in allen Gewässern für das komplette Jahr. Man habe auf absehbare Zeit keine Kapazitäten, sie nach verbliebenen Minen abzusuchen. Die Polizei soll an beliebten Badestellen patrouillieren. Aus demselben Grund bleiben vorerst auch Waldspaziergänge verboten.

Ein japanischer Architekt arbeitet am Masterplan

Dutzende Hilfsorganisationen sind mittlerweile in Irpin im Einsatz. Unicef hilft beim Wiederaufbau der Schulen, die NGO International Medical Corps unterstützt 2000 Menschen, die ihr Zuhause verloren haben, das Rote Kreuz bietet im Rathaus psychologische Sprechstunden an. Die Rotarier schenkten 300 Matratzen, dank der von Elon Musk gespendeten Starlink-Stationen konnte das Mobilfunknetz per Satellitenkommunikation wiederhergestellt werden.

Parallel wird im Auftrag des Bürgermeisters ein Masterplan für die Stadt erarbeitet. Der japanische Architekt Hiroki Matsuura, Gründer des federführenden Stadtplanungsbüros aus Rotterdam, hat angekündigt, sich nicht nur auf die Reparatur zu fokussieren, sondern auf die vielen Vorzüge der Stadt, die Lebensqualität, das Grün drum herum. Matsuura sagt, Irpin solle sich nicht als „Stadt der Opfer“ ins öffentliche Gedächtnis einprägen.

Die Katastrophe des Kriegs hat in Irpin auch Helden erschaffen. Die Männer etwa, die am Stadtrand, gleich neben der Giraffe-Mall, wochenlang hinter Sandsäcken standhielten. Oder Menschen wie Oleksandr Ilchenko, ein blinder Jugendlicher, der am elften Tag der Besetzung Irpins zu spät zum Abfahrtspunkt des letzten Evakuierungsbusses kam. Der Bus wurde von russischen Soldaten beschossen, alle Mitfahrenden starben. Oleksandr Ilchenko überlebte – und ist jetzt in der Ukraine eine Berühmtheit.

Die zerstörte Brücke von Irpin zieht Besucher an.
Die zerstörte Brücke von Irpin zieht Besucher an.

© Sebastian Leber

Noch weitaus bekannter ist die zerstörte Brücke, die am Südrand Irpins über den gleichnamigen Fluss führt. Sie wurde zu Beginn des Kriegs, am 27. Februar, von ukrainischen Soldaten gesprengt, um das Vorrücken des Feindes nach Kiew zu verhindern. Doch bis zur Brücke kamen die Russen nie. Stattdessen wurde die Stelle zum Hindernis für Tausende Bewohner Irpins, die den Fluss überqueren mussten, um selbst ins vergleichsweise sichere Kiew zu gelangen. Die Flüchtenden mussten, einer nach dem anderem, über notdürftig ausgelegte Holzplanken laufen, während sich die Masse der Wartenden unter einem intakt gebliebenen Brückensegment versteckte.

Auch auf dem „Irpin Reconstruction Summit“ ist der Ort ein Thema. Ein Architekt präsentiert den Entwurf eines Mahnmals: ein Stück der Brücke im Fluss sowie mehrere bronzen glänzende Statuen von Menschen, die darunter Schutz suchen und deren Köpfe in Richtung des anderen Ufers blicken.

Die Brücke selbst liegt heute noch in Trümmern. 20 Meter nebenan haben Arbeiter einen provisorischen Ersatz aus Schotter aufgeschüttet, sodass der Autoverkehr wieder fließt und Baumaterialien leichter in die Stadt gebracht werden können. Die Trümmerbrücke, nur sieben Autominuten von Kiew entfernt, ist inzwischen ein populäres Selfie-Motiv. Soldaten stehen daneben und beobachten das Treiben. Aufs Foto wollen sie nicht. Sorry, sagt einer, das sei ihm leider nicht erlaubt.

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