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Udo Lindenberg in den 70er Jahren in einer deutschen Fernsehshow.

© imago images/United Archives

Interview mit Jens Balzer : „Freddy Quinn war ein Vorläufer des Deutschraps“

Warum „Tipitipitipso“ unerreicht ist und plattdeutsche Lyrics unterschätzt werden. Ein Gespräch mit dem Pophistoriker Jens Balzer.

Herr Balzer, bei Pop denkt man nicht sofort an die deutsche Sprache. Warum passte beides lange Zeit nicht zusammen?Weil die Wurzeln dessen, was wir heute als deutschen Pop betrachten, in der Rebellion der Jugend gegen die Elterngeneration und in der Amerikanisierung liegen. Es ging darum, sich von einer nationalsozialistisch beschmutzten Kultur abzusetzen, deshalb wurde in den 60er Jahren auf Englisch gesungen. Ich plädiere aber für einen erweiterten Popbegriff, der den Schlager einschließt. Schlager wurden bis in die 70er durchweg auf Deutsch gesungen, allerdings mit exotisierenden und Weltläufigkeit suggerierenden Elementen wie eingestreuten Fremdwörtern.

Ihr Buch beginnt 1946, mit Rudi Schurickes „Capri-Fischern“. Steckte in der Sehnsucht nach der Fremde der Wunsch, aus der deutschen Gegenwart zu fliehen?
Es ging um Flucht, ums Reisen, aber auch um das Gefühl, dass man nicht nur selber vergisst, was vor 1945 passiert war, sondern dass auch alle anderen Völker um einen herum das vergessen würden. Zunächst war Italien das Sehnsuchtsland, besungen auch von René Carol und Vico Torriani. Da hofften die Deutschen auf freundschaftliche Nachsichtigkeit bei der alten Achsenmacht, mit der man im Zweiten Weltkrieg verbündet gewesen war. Die „Capri-Fischer“ waren 1943 erstmals veröffentlich worden, wurden aber gleich wieder von den Zensoren kassiert, weil die Amerikaner Capri erobert hatten. Später rückte Paris in den Mittelpunkt, die Stadt, die man eben noch in Schutt und Asche hatte bomben wollen und die nun als Fantasie-Idylle aus der Zeit vor der deutschen Besatzung beschworen wurde. Gitta Lind sang vom „Café de la Paix in Paris.“

Jens Balzer
Jens Balzer

© Foto: Roland Owsnitzki

Ein Hit von Caterina Valente heißt „Ganz Paris träumt von der Liebe“. Sie attestieren ihr ein „postmodern-eklektizistisches“ Auftreten. Was heißt das?
Aus der heutigen Perspektive könnte man glauben, dass die Schlager wahnsinnig provinziell, spießig und reaktionär waren. Stars wie die Valente waren das Gegenteil, zusammen mit den Textern, Produzenten und Orchestermusikern arbeiteten sie spielerisch und fortschrittlich mit der Musik. Valente kam aus einer Artistenfamilie, war kosmopolitisch und vielsprachig, aus Italien stammend, in Paris geboren. Bei ihren Konzerten wechselte sie zwischen verschiedensten Stilen, ihren Akzent konnte man nicht zuordnen. Ihr Song „Tipitipitipso“ zählt zu den Hauptwerken der deutschen Popgeschichte, darin mischt sie diverse Arten von migrantischen Ethnolekten und Akzenten zu einem artifiziellen Slang. Die Erwartungen des Publikums, exotisch zu sein, spiegelt sie zurück und macht sich zugleich darüber lustig. 

Ist Freddy Quinn die Gegenfigur zu Caterina Valente, der maritime Heimwehsänger, der nie zur See gefahren war?
Freddy war der Vorläufer heutiger Deutschrapper, die sich in eine Welt von Gewalt und Reichtum fantasieren. Anders als bei Valente sollte seine Musik mit einer Biografie beglaubigt werden, die komplett inszeniert war, von einer Vergangenheit in der Fremdenlegion bis zu den Meeresabenteuern. Oft weiß er nicht, wie er wieder nachhause kommen kann, darin zeigt sich die männliche Angst vor der Entwurzelung genauso wie der Genuss an diesem Leiden. 

Die ersten deutschen Beatbands sangen oft in falschem Englisch. Sie sagen: Das macht nichts. Warum?
Aus dem ersten Hit der Lords „Poor Boy“ (1965) stammen die Zeilen: „My mother worked each day / And she learned me to say“. Da hatte sich offensichtlich kein Englischlehrer gefunden, der vor der Veröffentlichung noch mal draufschauen konnte. Natürlich waren diese Songs Imitate, die Bands orientierten sich an den Beatles. Darin steckte eine Geste der Rebellion, denn diese Musik war nicht deutsch. Das führte zu einer fehlerhaften Aneignung, zu absurden, aus Wörterbüchern zusammengestückelten Texten. Die Bands ersetzten Bildung durch Enthusiasmus. Pop erhebt sich aus nationalen kulturellen Verhältnissen, will international sein. Man kann Pop auch nicht am Konservatorium erlernen. Wie man etwas singt, ist wichtiger als was man singt.

Wann begann die Geschichte eines eigenständigen deutschen Pop, mit Udo Lindenberg und Ton Steine Scherben oder erst mit dem Krautrock?
Der Anspruch, etwas Eigenes zu entwickeln, was sich sowohl von der NS-Tradition als auch von der internationalen Musik unterscheidet, den hatten schon die linken Liedermacher der 60er Jahre wie Hannes Wader, Dieter Süverkrüp oder Franz Josef Degenhardt. Mit der amerikanischen Kulturindustrie wollten sie nichts zu tun haben, sie bezogen sich auf Arbeiterlieder und die Musik der Demokratiebewegung von 1848. Einen ähnlichen Anspruch auf Eigenständigkeit verfolgten auch Bands, denen später das Etikett Krautrock angehängt wurde. Deren Absicht war, alle musikalischen Traditionen verlernen zu wollen, eine klassische Dekonditionierung. Holger Czukay sagte, dass ein Musiker nur zwei Möglichkeiten habe, entweder die Musikgeschichte zu überbieten oder ganz von vorn anzufangen. Mit seiner Band Can entschied der sich für die zweite Variante. 

Caterina Valente
Caterina Valente

© imago/ZUMA Press

Hat jemand wie Udo Lindenberg die deutsche Sprache verändert?
Unbedingt. Lindenberg verband das Abhorchen von dem, was gerade auf der Straße gesprochen wurde, mit Wortneuschöpfungen wie „Controlletti“ oder „Fuzzi“. Er etablierte Redewendungen wie „keine Panik“, holte Anglizismen wie „rumflippern“ oder „ausknocken“ in die deutsche Sprache und machte „geil“ zum Synonym für „gut“. Lindenberg könnte der jüngere Bruder von Freddy sein, er inszenierte sich als einsamer Wolf. Sein erstes deutschsprachiges Album hieß „Daumen im Wind“. Immer auf dem Sprung, nicht gemacht für länger anhaltende Zweierbeziehungen. Nach dem Motto: Der Mann ist bei sich nur wenn er einsam ist. 

Ab den 60er Jahren erblühte eine große Szene türkischsprachiger Popmusik in Deutschland. Warum bekam die Mehrheitsgesellschaft davon kaum etwas mit?
Weil diese Kultur ignoriert wurde. Die Migranten, die ins Land kamen, sollten nicht auf Dauer bleiben, deshalb nannte man sie Gastarbeiter. 1964 war in Köln das Türküola Label gegründet worden. Es brachte Musik heraus, die von Sängerinnen und Sängern, die in Deutschland lebten, oft mit Orchestern in Istanbul eingespielt wurde. Die Lieder erzählten von der Sehnsucht nach der Heimat und von Alltagsproblemen in der Fremde. Sie wurden ab den 70er Jahren vor allem auf Kompaktkassetten veröffentlicht und in Obst- und Gemüseläden der deutsch-türkischen Community verkauft. Media Control erhob dort keine Zahlen, deshalb schaffte es diese Musik nie in die Hitparade. 

Deutschsprachiger Hip-Hop entstand als Medium antirassistischer Politik. Heute geht es bei Stars wie Kollegah oder Farid Bang um Gewaltfantasien und Abwertung von Frauen. Woher kommt dieser Wandel?
Die Ambivalenz zwischen antirassistischem Empowerment und sexistischen, gewaltverherrlichenden Texten gab es genauso in den USA. In Deutschland ging es einer antirassistischen Fraktion mit Formationen wie Advanced Chemistry in den 90ern darum, den Kindern der sogenannten Gastarbeiter eine Stimme zu verleihen und auf die Pogrome in Hoyerswerda, Solingen oder Mölln zu reagieren. Daneben existierte die Spaßfraktion mit Vertretern wie den Fantastischen Vier. In den 00er und 10er Jahren wurde diese Musik Medium der migrantischen Selbstermächtigung. So divers wie damals war Popmusik noch nie. Das führte aber nicht dazu, dass die Inhalte progressiver wurden. Es zeigte sich, dass eine Gesellschaft, die divers ist auch auf diverse Weise reaktionär sein kann. 

Migrantischer Straßenrap wird heute gerade von nicht migrantischen Mittelschichtjugendlichen gehört. Liegt das an der Lust am Exotischen?
Bei den Konzerten, wo ich war, bestand das Publikum zum überwiegenden Teil aus biodeutschen Kids, die Pseudo-Ghettoromantik geil finden. Maskuline Krassheit, diese Art von sexistischer, verletzender, roher Sprache fände man bei weißen Deutschen unangemessen. Bei migrantisch markierten Männern wirkt sie interessant. Als die Entwicklung 2001 mit dem Label Aggro Berlin losging, war eine Menge inverser Rassismus mit im Spiel. Darin wiederholte sich die Rezeption schwarzer Musik in den USA. N.W.A. – eine Abkürzung für Niggaz Wit Attitudes – waren in den 90ern davon überrascht, dass sie bei ihren ersten großen Tourneen in Hallen auftraten, die nahezu ausschließlich mit weißen Kids gefüllt waren. 

Sie begeistern sich für Obskuritäten wie die plattdeutschen Songs von Knut Kiesewetter oder den Mittelalterfolk von Ougenweide. Ist deutscher Pop vor allem in den Nischen interessant?
Einspruch. Das waren in den 70er Jahren keine Nischen. Kiesewetter hat von seinem Album „Leeder vun mien Friesenhof“ 500 000 Stück verkauft. Ougenweide waren riesig, ihr Einfluss reicht bis in den Mittelalterrock der Gegenwart, mit Bands wie In Extremo, Schandmaul, Corvus Corax. Deren Tourneen sind ausverkauft. Normalerweise gehen Alben von Tocotronic von Null auf Eins in den Charts. In diesem Jahr hat das nicht geklappt, weil gleichzeitig eine Platte von Versengold erschien, einer norddeutschen, zum Teil auf Plattdeutsch singenden Folk- und Seemannsliederband der Mittelalterszene. 

Welche drei deutschen Popalben sollte man unbedingt hören?
Empfehlen würde ich ein Album mit Caterina Valentes Songs aus den 50ern, das ist extrem tolle Musik. Interessant finde ich auch Kiesewetters plattdeutsche Platte von 1976. Das größte deutschsprachige Album ist für mich aber „Monarchie und Alltag“ von Fehlfarben von 1980. 

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