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Stimme einer Generation. Anna Prohaska ist gegenwärtig „Artist in Residence“ beim Berliner Konzerthaus.

© Marco Borggreve

Tagesspiegel Plus

Anna Prohaska über Singen im Lockdown: „Man fühlte sich wie Staatsfeind Nummer eins“

Anna Prohaska tritt in den großen Opernhäusern auf – privat hört sie lieber Pop. Ein Gespräch über Singen in der Krise, ihre Liebe zu Grufties und Tenor-Witze.

Anna Prohaska, zurzeit „Artist in Residence“ beim Berliner Konzerthaus, ist eine der besten Sopranistinnen ihrer Generation. Sie stammt aus einer irisch-englisch-österreichischen Musikerfamilie.

Aufgewachsen in Wien und Berlin, studierte sie an der Musikhochschule „Hanns Eisler“, stand mit 18 in der Komischen Oper auf der Bühne und mit 20 an der Staatsoper, der sie seitdem eng verbunden ist. Sie gastiert regelmäßig an den großen Opern- und Konzerthäusern der Welt.

Zuletzt erschienen bei Alpha ihre Alben „Redemption“ und „Paradise Lost“. Im Konzerthaus nimmt sie im Februar gemeinsam mit Philippe Jaroussky Pergolesis „Stabat mater“ auf, das Konzert soll um Ostern ausgestrahlt werden. Die Gala zum 200. Geburtstag des Konzerthauses ist für den 26./27.5. geplant, und sie singt das Ännchen im „Freischütz“ mit La Fura dels Baus (18.6.).

Gerade probt die 37-Jährige den „Freischütz“ an der Bayerischen Staatsoper (Streamingpremiere 13.2.). Wir skypen am Abend, Prohaska sitzt auf dem Sofa ihrer Münchner Unterkunft, sie ist guter Laune und redet sehr schnell.


Frau Prohaska, Singen ist eine öffentliche Äußerung und gleichzeitig etwas Privates, fast Intimes. Hat sich Ihr Verhältnis zum Singen im Lockdown verändert?
Wir brauchen ja nicht nur die stimmlichen Muskeln und die Zwerchfellstütze, sondern auch unsere Nerven. Wir betreten die Höhle des Löwen; wie die Muskeln will auch das Lampenfieber trainiert sein. Wenn das fehlt, ist man aus der Bahn geworfen.

Wobei es keinen großen Unterschied macht, ob 200 statt 2000 Zuschauer im großen Saal sitzen. Manchmal ist es mit der anonymen Menge im Dunkeln sogar einfacher als im kleinen Saal vor vielleicht 70 Leuten. Plötzlich sieht man die Gesichter.

Und das Publikum beim Streaming?
Gestreamte Konzerte vereinen eigentlich das Schlechteste aus beiden Welten, das des physischen Konzerts und das der Konserve. Bei einer Tonaufnahme kann man auf Risiko gehen, ausprobieren und korrigieren, beim realen Konzert gibt es das Adrenalin. Beim Livestreaming fehlt beides. Es ist eine gute Überbrückung im Lockdown, mehr aber nicht.

Ich stellte mich also etwas verschämt an die offene Balkontür und plötzlich applaudierten Passanten, wollten noch eine Arie und noch eine. So fing es an

Anna Prohaska

Und dann hieß es auch noch, Singen sei wegen der Aerosole besonders gefährlich.
Man fühlte sich plötzlich als Staatsfeind Nummer eins, gleichzeitig wurde ich mir der eigenen Gefährdung bewusst. Ich habe keine Vorerkrankungen, trotzdem ist da die Sorge: Was, wenn es mich trifft? Wir Sänger wollen auch bei Operationen das Intubieren unbedingt vermeiden, weil es nahe an die Stimmlippen geht und man eine Stimmbandlähmung riskiert.

Ein PCR-Teststäbchen bis zum Rachen ist okay, aber bitte nicht tiefer. Nach einer OP weiß man nie, ob die Stimme sich vollständig erholt. Zum Glück bin ich keine Panikerin, und am Ende ist die Sehnsucht, mit anderen Menschen für andere Menschen Musik zu machen, stärker als die Angst.

Die Balkonkonzerte in Ihrer Schöneberger Wohnung, war das eine spontane Idee?
Ich war so inspiriert von den Balkonkonzerten in Italien und Spanien, und weil ich das Singen nicht lassen konnte, habe ich zu Hause mit einem guten Freund, der Pianist ist, Repertoire ausprobiert, das mir sonst nicht so liegt.

Zum Beispiel die Mimi aus Puccinis „La Bohème“, das ist ja eine Rolle, die seit Karl Böhms Zeiten mit dramatischen Stimmen besetzt ist, eine prägende Hörgewohnheit aus den sechziger, siebziger Jahren.

Dabei ist Mimi ein junges, lungenkrankes Mädchen, stimmlich eher weniger kräftig als Musetta. Ich stellte mich also etwas verschämt an die offene Balkontür und plötzlich applaudierten Passanten, wollten noch eine Arie und noch eine. So fing es an.

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Sie haben auf dem Balkon auch „Somewhere over the Rainbow“ gesungen, waren mal Rammstein- und Metallica-Fan. Wie halten Sie es heute mit der Popmusik?
Heavy Metal liebe ich immer noch. Auch Stilmix mag ich sehr gerne, schwedischen Folk mit Elektronik, griechische Volksmusik mit Hip-Hop. Beim Kochen habe ich eben wild zu Rihanna und Placebo getanzt. Privat höre ich wenig klassische Musik, man möchte ja nicht immer von Arbeit umgeben sein. Viele Musiker hören deshalb gar keine Musik, ich höre gern sehr viel andere.

Zu Beginn der Pandemie brachen Sie in hyperaktive Betriebsamkeit aus, warum?
Meine Agentin in England war in Kurzarbeit, die Briten sind da superstreng. Also habe ich selber organisiert, herumtelefoniert, Verträge verhandelt. Sich anzupreisen, ist gar nicht so einfach, es war eine gute Übung. Im Sommer habe ich eine komplette CD-Aufnahme organisiert,

„La Follia“, einschließlich Fotosession, der Kostüme dafür und der Frage, welche Instrumente wir haben wollen. Sie kommt im Frühjahr heraus. Ich denke mir ja gerne Konzeptalben aus, Programmarbeit, Konzertdramaturgie, das liegt mir. Wenn ich den Gesang eines Tages aufgeben sollte, könnte ich in eine Konzertdirektion wechseln oder gründe vielleicht ein kleines Festival ...

Sie haben unter anderem das Bach-Kantaten-Album „Redemption“ herausgebracht, mit der Lautten Compagney. Die Texte klingen ungeheuerlich in Corona-Zeiten: „Ich ende behende mein irdisches Leben“, „Ich freue mich auf meinen Tod“ …
… oder auch „Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe“. Das Rezitativ „Die ganze Welt ist ein Hospital“ haben wir dann doch weggelassen. Ich lege lieber den Finger in die Wunde. Ein Operetten-Album zur Ablenkung? Das hätte für mich ein Durchhalteparolen-Gschmäckle gehabt.

Wir brauchen doch Komödien in diesen grauen Tagen.
Wie viele andere hatte ich wichtige Projekte verloren, nicht nur den „Idomeneo“ an der Staatsoper wenige Tage vor der Premiere, sondern auch eine Riesentournee mit dem „Paradise Lost“-Album oder Messiaens „Saint François d’Assise“ in der Elbphilharmonie mit Kent Nagano, eine tolle, selten aufgeführte Oper.

Mir war nicht nach was Lustigem. Und Bach, das ist ja nicht nur Pest und Tod, er komponiert auch Zeilen wie „Weichet nur, betrübte Schatten“. Er nimmt einen an der Hand und führt einen durch die Dunkelheit. Nach der tiefen Depression in der Mitte des Albums hellt sich die Stimmung wieder auf. Ich wollte die Sinuskurve nachzeichnen, das Auf und Ab, das wir alle gerade erleben.

Leere Ränge, ein erfülltes Herz. Anna Prohaska im Konzerthaus Berlin.
Leere Ränge, ein erfülltes Herz. Anna Prohaska im Konzerthaus Berlin.

© Marco Borggreve

Ist Bach ein Komponist des Trostes?
Total, er verarbeitet noch in den traurigsten Stücken Tanzrhythmen aus der barocken Suite-Tradition, verwendet Gigue-Elemente, lädt zur Gavotte. Das mag ich auch in der Popmusik: tiefmelancholische Stücke, zu denen man beschwingt tanzen kann. Bach ist ein Meister des Danse macabre.

Es ist gerade schlimm für die Kultur und die Musikwelt, vor allem für die zahllosen Freischaffenden, trotzdem brauchen wir die Ekstase. Der barocke Mensch hatte mit vielen Infektionskrankheiten zu kämpfen, Pest, Tuberkulose, Syphilis, es gab keine Antibiotika.

Der Tod war omnipräsent, aber es wurden rauschende Feste gefeiert, opulente Opern aufgeführt und jeden Sonntag erfreute Bach die Leipziger Kirchgänger mit einer neuen Kantate.

Sie befassen sich offenbar gern mit dem Tod. 2014 brachten Sie das Weltkriegsalbum „Behind the Lines“ heraus. Das Konzerthaus, bei dem Sie Artist in Residence sind, folgt dem Jahresmotto „Der Pakt mit dem Teufel“, geplant ist ein „Freischütz“ mit La Fura dels Baus. Und Sie hatten mal eine intensive Gothic-Phase. Woher der Hang zum Morbiden?
Als Opernsängerin kommt man nicht drum herum. Butterfly, Cleopatra, Mimi, Traviata, auf der Bühne wird viel gestorben. Schon als Kind hat mich Moll mehr angesprochen als Dur. Am tollsten ist es bei Schubert, wenn die Moll-Lieder fröhlich sind wie „Mut“ in der „Winterreise“ und sich die „Nebensonnen“ in Dur umgekehrt als das denkbar Traurigste erweisen.

Genauso fasziniert mich bei der Gothic-Szene, welche lebensfrohen, höflichen, unglaublich hilfsbereiten Leute diese düstere Musik hören. Als Teenie fühlte ich mich in der Berliner schwarzen Szene wie in einer Familie. Man weidet sich an der Melancholie und schöpft Lebensmut daraus.

Wobei die Faszination für die Endlichkeit, das Jenseits und das Leid der verlorenen Liebe ja keine Erfindung des Punk ist. Sie stammt aus dem Sturm und Drang, aus der viktorianischen Gothic Novel des 19. Jahrhunderts.

Mein Belcanto ist der Hochbarock, das ist mein Champagner

Anna Prohaska

Bei der klassischen Musik scheinen Sie weniger das 19. Jahrhundert zu lieben als den Barock und die Neue Musik.
Weil das Terrain da weniger abgesteckt ist und sich so viel entdecken lässt. Mit dem Belcanto tue ich mich schwer. Donizetti, Bellini, da fühle ich mich wie ein Voltigierpferd, mehr wie beim Sport als bei der Musik. Mein Belcanto ist der Hochbarock, das ist mein Champagner.

Im Video zu „Paradise Lost“ auf Ihrer Webseite tanzen Sie förmlich bei der Aufnahme, barfuß, mit expressiver Gestik – können Sie dann besser singen?
Wolfgang Katschner, der Leiter der Lautten Compagney, meinte auch bei „Redemption“, du tanzt ja herum wie ein Skelett! Gerade bei Aufnahmen im Studio hilft es mir sehr, mich zu bewegen. Beim Liederabend stehe ich auch mal vollkommen ruhig, das hat seinen eigenen Magnetismus.

Auf der Opernbühne ist es die kontrollierte Bewegung: Als Susanna muss ich ständig jemanden an- oder ausziehen; diese Fummelei erfordert Koordinationstraining, so wie wenn man sich mit der einen Hand den Bauch reibt und mit der anderen auf den Kopf haut.

Man singt oft natürlicher, wenn man von der Gesangstechnik abgelenkt ist. Bei Händels „Orlando“ unter Regie von Claus Guth am Theater an der Wien hatte ich diese krassen Koloraturgirlanden, während es ständig die Treppen rauf- und runterging. Das probt man so lange, bis es irgendwie klappt.

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Gibt es auch Passagen, vor denen Sie sich fürchten?
Im Konzert ist meist genug Adrenalin im Spiel, aber beim Proben denkt man, dass die Chorsänger jetzt lauern: Na, kriegt sie den hohen Ton? Es sind schon die Spitzentöne. Wie viele Sopranistinnen braucht es, um eine Glühbirne einzuschrauben? Zehn. Eine holt die Leiter, eine klettert rauf, acht schubsen sie wieder runter und sagen: So hoch kommt die doch nie!

Es gibt Sopranistinnenwitze?
Klar, auch Tenorwitze. Wie viele Tenöre braucht es, um eine Glühbirne einzuschrauben? Einen. Er hält sich an der Birne fest und wartet, bis die ganze Welt sich um ihn dreht.

Ist Singen immer auch etwas Kindliches?
Im besten Falle ja. Wobei wir Profis das leicht verlernen. Aber ich mag es, einen kindlichen Ton anzuschlagen und in Mahlers vierter Sinfonie bei „Das irdische Leben“ vom weiblichen, tröstenden Engel zum kindlichen Engel zu switchen.

Und es ist gleichzeitig etwas Spirituelles?
Ich bin sehr katholisch geprägt. Unsere Gesellschaft fußt auf dem Christentum und den monotheistischen Religionen. Auch Atheisten feiern Weihnachten, es gibt keinen Grund, das verschämt zu negieren, und wenn die christliche Abendlandsideologie von Pegida und Co. noch so schrecklich ist.

Die Oper erwuchs aus dem szenischen Oratorium, ohne Gottesdienst würde es sie nicht geben. Mittelalterliche Lieder mit oft unanständigen Texten basieren auf gregorianischen Chorälen, umgekehrt hat Händel sich für die Oratorien bei seinen teils schlüpfrigen Opernarien bedient.

Das Profane und das Sakrale sind untrennbar miteinander verbunden. Auch deshalb finde ich es übrigens unmöglich, dass beim Lockdown zwischen Kirchen und Konzerthäusern ein Unterschied gemacht wird.

Anna Prohaska bei der Probe von „Hippolyte et Aricie“ in der Staatsoper Unter den Linden.,2018.
Anna Prohaska bei der Probe von „Hippolyte et Aricie“ in der Staatsoper Unter den Linden.,2018.

© imago/Future Image

Wie schaffen Sie es, so textverständlich zu singen?
Danke für das Kompliment! Anders als etwa die Baritone sind wir Soprane sehr weit von der Sprechstimme entfernt. Dietrich Fischer-Dieskau zum Beispiel sang näher an der Lage, in der er auch sprach. Als Sopran dagegen soll ich die Konsonanten auch noch in der hohen Lage präzise artikulieren und gleichzeitig den Klangfluss nicht unterbrechen.

Das heißt, man formt die Konsonanten eher vorne und versucht, die Zunge und den Kiefer nicht so viel zu bewegen. Eins meiner großen Vorbilder ist da Christine Schäfer, die Arbeit daran hört nie auf.

Die Kunst, sich zu verausgaben, ohne sich zu überfordern, kriegen Sie das hin? Auch Sie hatten schon Kehlkopfentzündungen.
Die Crux ist das Neinsagen-Können. Natürlich ist die Stimme jetzt im Lockdown ausgeruhter. Ich hoffe, es gelingt mir auch in der Post-Corona-Zeit, nicht von Termin zu Termin zu hetzen aus Angst, meine Miete nicht zahlen zu können, wenn ich nicht tausend Projekte habe.

Je gestresster man ist, desto anfälliger wird man für Viren und die klassische Kehlkopfentzündung, vor allem, wenn man im Winter zwischen Hotels, Flughäfen und Auftritten hin- und herjettet.

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Über Nachhaltigkeit reden gerade viele.
Ich hoffe, die Agenturen und Veranstalter besinnen sich tatsächlich. Warum nicht mehr Residenzen, also auch mal zwei Wochen in einer Stadt, mit mehreren Programmen? Warum steht auf dem Tourneeplan Berlin–London–Hamburg und nicht die Zugstrecke –Berlin–Hamburg?

Der Musikbetrieb muss flexibler werden, auch was den Fetisch Exklusivität betrifft. Da will ein Veranstalter ein bestimmtes Werk nur deshalb nicht, weil man es ein paar Tage vorher in einer Stadt aufgeführt hat, die weniger als 200 Kilometer entfernt liegt. Das ist doch Mist.

Oder die Konzertprogramme: Ouvertüre, Solokonzert, Pause, Symphonie, immer dasselbe. Selbst im 19. Jahrhundert war man experimenteller als beim eingeschweißten Konzertabo-Angebot von heute. Bei meiner ersten Prohaska-Session haben mein Pianist Caspar Frantz und ich etwa 40 Minuten musiziert und 30 Minuten geredet.

Nehmen Sie die Komische Oper, die mit dem Bus in den Wedding oder nach Neukölln gefahren ist. Rattles „Rhythm is it!“, „Fidelio“ als Inszenierung mit Gefängnisinsassen … es gibt viele Versuche, aber es muss mehr werden.

Aber überall wollen die Leute jetzt safe spaces, ich kann das Wort nicht mehr hören. Wer in Watte eingepackt leben möchte, soll nicht ins Internet gehen

Anna Prohaska

Was sollte sich noch ändern?
Die Machtstrukturen. Viele Solisten trauen sich zum Beispiel nicht, im Vertrag auf Ausfallhonorar-Klauseln zu bestehen, weil sie Angst haben, als schwierig abgestempelt und nicht mehr engagiert zu werden. Es gibt tolle, unterstützende Intendanten, Dirigentinnen und Dirigenten, aber eben auch solche, die hofiert werden wollen.

Ohne Hierarchie geht es nicht, einer sollte in der Kunst das letzte Wort haben. Aber ohne Austausch und die Gemeinschaft aller Gewerke geht es auch nicht. Ich möchte eine Rolle auch mitentwickeln dürfen, ich gehöre ja zu denen, die auch schauspielerisch bereit sind, sehr weit zu gehen. Ich bin nicht zimperlich, also keine Primadonna.

Sehen Sie sich als Sängerin in der Verantwortung für Frauenbilder?
Wenn die Regie Blondchen in Mozarts „Entführung aus dem Serail“ zum Kammerkätzchen verniedlicht, ist das furchtbar. Viel lieber arbeite ich mit Schauspielregisseuren wie Michael Thalheimer, Katie Mitchell, Jürgen Flimm oder Jossi Wieler zusammen, die einen einbinden.

Wie Katie Mitchell habe ich Interesse an komplexen, widersprüchlichen Frauenfiguren. Aber ich fände es falsch, keine Opfer mehr zu verkörpern. Frauen werden geschlagen und missbraucht, häusliche Gewalt ist eine Realität. Ein ikonischer Held wie Marlon Brando in „Endstation Sehnsucht“ würde heutzutage nicht mehr als sympathischer, erotischer Mann verherrlicht werden.

Aber überall wollen die Leute jetzt safe spaces, ich kann das Wort nicht mehr hören. Wer in Watte eingepackt leben möchte, soll nicht ins Internet gehen. Die Welt ist hart, es gibt böse Menschen, die Böses sagen. Dieser Radikalisierung kann man aber mit Graustufen entgegentreten. Wir müssen uns mehr mit den Ambivalenzen des Lebens auseinandersetzen.

Anna Prohaska und Max Emanuel Cencic bei der Probe zur Oper „Krönung der Poppea“ in der Staatsoper, 2017.
Anna Prohaska und Max Emanuel Cencic bei der Probe zur Oper „Krönung der Poppea“ in der Staatsoper, 2017.

© imago/Scherf

Wie haben Sie die MeToo-Debatte erlebt?

Ich hatte den Eindruck, in den USA hört man eher den Opfern zu, mögliche Täter werden schnell an den Pranger gestellt. Im deutschsprachigen Raum herrscht ein unglaublicher Respekt vor grauen Eminenzen.

Anders kann ich mir die Bereitschaft nicht erklären, großen Künstlern menschliche Verfehlungen oder sogar Straftaten zu verzeihen. Roman Polanski wird in den USA verteufelt, in Europa wurde er auf Händen getragen.

Das hat sich inzwischen geändert. Und über den Führungsstil prominenter Dirigenten wurde kontrovers diskutiert.
Wenn einer wie Simon Rattle große Musik machen kann, ohne rumzuschreien oder andere zu demütigen, wieso können das andere nicht auch? Bei Rattle geht die Genialität Hand in Hand mit einer tiefen Menschlichkeit; noch wenn er einen kritisiert, bleibt er Gentleman.

Manche Musiker haben aber auch eine masochistische Ader, sie wollen zusammengepfiffen werden, glauben, nur dann wird es gut. Es ist nicht leicht, sich im Ökosystem Orchester zu behaupten. Wer schleimt sich beim Chef ein, wer wird immer ignoriert – da bin ich lieber ein freies Radikal.

Denken Sie eigentlich beim Singen?
Sehr viel sogar. Das eine sind die Selbstzweifel, die laufen mit, wie Untertitel. Dann stelle ich mir die Szene vor, die Geschichte, die Stimmung, in der meine Figur sich gerade befindet. Und die Gegenwart ist auch noch da.

Wenn ich im Dezember in der Elbphilharmonie mit Mahlers Engel singe, „Kein’ Musik ist ja nicht auf Erden/ Die uns’rer verglichen kann werden“, dann denke ich an all die Musikerinnen und Musiker, denen die Weihnachtssaison weggebrochen ist.

Weil ihnen schon in der Passionszeit der „money month“ fehlte, wie die Briten sagen, verkaufen sie ihre Instrumente und satteln auf Chiropraktiker um. Ihr Lebenstraum ist zerstört. Ich glaube nicht, dass die Politiker darüber nachdenken.

Immerhin können die „unständig“ Beschäftigten, auch die Saisonarbeiter in der Kultur, neuerdings Unterstützung für Soloselbstständige beantragen.
Aber erst jetzt! Es betrifft die meisten Schauspieler, Musiker und Tänzer, es hat viel zu lange gedauert.

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