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Arbeiterinnen im Film „Regeln am Band“

© Foto: Screenshot/Tagesspiegel

Dokumentarfilm über Schlachtbetriebe: „Die körperliche und psychische Belastung ist enorm“

Die Filmemacherin Yulia Lokshina hat Arbeiter in Schlachtbetrieben begleitet. Für „Regeln am Band“  wurde sie mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnet. Ein Gespräch über Behörden, Billigfleisch und Bertolt Brecht

Von Andreas Busche

Ursprünglich wollte die Regisseurin und Drehbuchautorin Yulia Lokshina, geboren 1986 in Moskau, nur einen Film über die osteuropäischen Leiharbeiterinnen und -arbeiter in deutschen Fleischfabriken machen. Seit dem Ausbruch von Corona in einem Schlachthof bei Gütersloh Anfang Juni ist „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“, ihr Abschlussfilm an der HFF München, plötzlich hochaktuell. Als sie für die Finanzierung ihres Projekts bei deutschen Fernsehsendern vorsprach, hörte sie dort meist, dass sich die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie in den vergangenen Jahren doch gebessert hätten, erzählt Lokshina im Interview in Berlin. Aktuell läuft ihre Ausstellung „Risikogruppen“ in der Medienwerkstatt A.K.T. in Pforzheim, in der unter anderem eine Video-Installation mit Handy- und Imagefilmen aus deutschen Schlachthöfen zu sehen ist. „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“, im Januar beim Max Ophüls Filmfestival als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet, startet am 22. Oktober in den deutschen Kinos.

Frau Lokshina, Sie haben für „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ drei Jahre zum Thema Leiharbeit in deutschen Schlachtbetrieben recherchiert. Was dachten, Sie als Anfang Juni erstmals über die Vorfälle in Rheda-Wiedenbrück hörten?

Als die Pandemie in Deutschland ankam, dachte wir alle, die am Film beteiligt waren, gleich, dass es diese Betriebe besonders hart treffen würde. Ich hatte zu einigen Menschen aus meinem Film noch Kontakt. Eine Arbeiterin erzählte mir, dass ihr Unternehmen nur im privaten Umgang, also zum Beispiel in den Pausen, auf die Hygienevorschriften achtet. Am Band stand man weiter dicht gedrängt. 

Ihr Film beginnt mit einem tödlichen Unfall: Ein polnischer Arbeiter wird von einer Maschine erfasst. Im Film fällt mehrfach der Begriff „tragisch“. Ist das die offizielle Sprachregelung bei solchen Unfällen?

Das Wort ist In Behördengesprächen gefallen. „Unfall“ impliziert ja auch, dass letztlich niemand die Verantwortung trägt. Oder Sicherheitsvorkehrungen nicht eingehalten wurden. Dass auch die Behörden bei solchen extremen Todesfällen von „Unfällen“ sprechen, sagt aber schon viel über die Strukturen aus.

Es geht dabei auch um eine Verlagerung der Ursachen. Im Zweifelsfall wird die Schuld auf die Arbeiterin oder den Arbeiter abgewälzt.

Das ist eine Folge dieser Beschäftigungsverhältnisse. Durch die starke Hierarchisierung gibt es immer eine Instanz, die die Schuld weitergeben kann. Der Fabrikbesitzer an den Subunternehmer, der Subunternehmer an den Vorarbeiter, der Vorarbeiter an den Mann oder die Frau am Band. So wird die Frage der Verantwortung, aber auch die des Risikos individualisiert - eine Methode, die durch die Arbeitsorganisation noch verschärft wird. So kann das Empfinden eines Kollektivkörpers gar nicht erst entstehen. Die Gewerkschaften versuchen, in die Betriebe zu gehen, sie verteilen bei Schichtwechseln am Gelände Flugblätter oder gehen in die Unterkünfte. Aber niemand traut sich. 

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Gibt es zwischen den Arbeiterinnen und Arbeitern Solidarität? Oder eher ein Konkurrenzdenken?

Ich glaube, man gerät immer öfter in Situationen, in denen man zuerst auf sich selbst achten muss. Auch uns wurde mit Misstrauen begegnet. Das führt zu einer Vereinzelung, die zur Folge hat, dass man nicht mehr miteinander spricht und dadurch die eigene Situation als Einzelfall und nicht als strukturelles Problem wahrnimmt. 

Steckt dahinter ein System?

Davon bin ich überzeugt.

 Es fehlt der emotionale Rückhalt.

Yulia Lokshina

Sie haben selbst in Rheda-Wiedenbrück gedreht. Ihre Interviewpartner dort sprechen auch über die Arbeitsbedingungen. 20 Tonnen Fleisch am Tag, die Bänder laufen so schnell, dass die wenigsten hinterherkommen, die Lautstärke ist ohrenbetäubend. Was machen das mit den Menschen?

Die körperliche und psychische Belastung ist enorm. Viele kommen allein, sie haben niemanden, mit dem sie sich austauschen können, so fehlt der emotionale Rückhalt. Das litauische Paar im Film erzählte uns, dass der Tag schnell nur noch aus Arbeit-Essen- Schlafen besteht, und wie einige ihrer Kolleginnen und Kollegen daran mental zerbrochen sind. 

Sie blicken distanziert auf die Verhältnisse. Warum verzichten Sie auf Bilder aus den Schlachthöfen?

Wir haben uns früh dagegen entschieden. Man hätte die Oberfläche zeigen können, die schlechten Arbeitsbedingungen, aber die sozialen Verflechtungen, die zu den Verhältnissen beitragen - der immense Druck oder die Rolle der Vorarbeiter -, hätte man nur schildern können, hätten wir uns ungehindert bewegen können. 

Im Film fällt der Begriff der „Parallelgesellschaft“. Beschreibt das die Leiharbeiterstrukturen?

Dieser Begriff wird oft als Stütze benutzt, mit dem man sich ein Problem vom Hals hält. Das Problem ist benannt und abgesteckt, man nimmt sich dadurch aber auch den Handlungsspielraum. Uns ging es weniger darum, Einblicke in diese isolierten Gemeinschaften zu bekommen, sondern strukturell zu betrachten, wiecsolche„Parallelgesellschaften“ entstehen und erhalten werden.

Clemens Tönnies, Geschäftsführer der Unternehmensgruppe Tönnies Fleisch.
Clemens Tönnies, Geschäftsführer der Unternehmensgruppe Tönnies Fleisch.

© Foto: Bernd Thissen/dpa

Man konnte in den vergangenen Wochen auch immer wieder über die Wohnverhältnisse in den Unterkünften lesen. Die Sozialarbeiterin Inge Bultschnieder sagt im Film, die Menschen leben dort „wie Schweine“. Wie weit bekamen sie in die Privatleben Einblick?

Es ist nicht unmöglich dort zu drehen. Die Wohnverhältnisse unterscheiden sich von Subunternehmen zu Subunternehmen. Inge Bultschnieder erzählte mir, es gibt in einigen Quartieren sogar Spitzel, die darauf achten, wer zu Besuch kommt. Es herrscht ein Klima der Angst. Wir wollten aber nicht haltlos auf die Misere der Menschen filmen. 

Sie wollen die Menschen mit dem Bilderapparat nicht ein zweites Mal ausbeuten?

Ich muss mich immer fragen, was ich mit meinen Bildern erzählen möchte. Wenn es nur darum geht zu zeigen, wie schlimm die Lebenssituation ist, entstehen im Hinterkopf schnell Vergleiche. Ist es denn wirklich so unerträglich? Sind vier Leute pro Zimmer schon zu viel oder erst ab sechs? Müssen die Unterkünfte schimmeln, damit wir die Umstände ablehnen? Diesen relativierenden, bewertenden Blick wollten wir verhindern.

Womit wir bei Brecht wären. Sie begleiten in einem zweiten Handlungsstrang die Theaterklasse eines Münchner Gymnasiums bei den Proben zu „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“. Wie aktuell ist diese beinahe 100 Jahre alte Kapitalismuskritik?

Bei Brecht geht es viel um die Rolle des Glaubens und der Kirche; diese Mechanismen sind heute etwas verschoben. Aber der Glaube an eine Belohnung, die in der Zukunft auf uns wartet, ist geblieben. Nur hat das weniger mit Religion, die Brecht damals kritisierte, zu tun, eher mit ökonomischem Aufstieg. Oder dem europäischen Wirtschaftsraum. Heute kann ich, wenn ich aus einem Land komme, das mir keine Perspektive bietet, woanders arbeiten. Diese europäische Idee wird propagiert, sie löst sich für viele Menschen aber überhaupt nicht ein. Ich möchte nicht sagen, dass sich seit Brecht gar nichts geändert habe. Wir können uns aber fragen, in welchem Verhältnis wir zu diesem historischen Text stehen. Brecht hat Begriffe für die Probleme der Arbeiterschaft gefunden, dieser Diskurs fehlt heute. Wir haben aber auch noch keine Alternative gefunden. 

Die Dokumentarfilmerin Yulia Lokshina 
Die Dokumentarfilmerin Yulia Lokshina 

© Foto: Isabelle Bertolone

Das strukturelle Problem in der Wahrnehmung von neoliberalen Arbeitsverhältnissen zeigt sich besonders treffend in der Diskussion im „Integrationsrat“ der Stadt Gütersloh, in der die Situation der Leiharbeiter thematisiert wird. Gleich zu Beginn heißt es, man möchte nicht, dass in dem Gremium die Unternehmen, in diesem Fall Tönnies, diskutiert werden. Man will über Arbeitsbedingungen sprechen, ohne die Rolle der Verantwortlichen zu kritisieren.

Diese Betriebe haben in ihren Gemeinden zum Teil sehr großen Einfluss, weil sie etwa in die kommunalen Strukturen (Kindergärten, Spielplätze, Vereine) investieren. Das führt zu einer erhöhten gesellschaftlichen Akzeptanz und damit auch zu einer Duldungshaltung gegenüber den Missständen, die irgendwie unangenehm sind, aber einen auch nicht direkt betreffen.

Haben sich die Menschen also mit unserem ökonomischen System insgeheim abgefunden? Einer sagt in Ihrem Film: „Es ist das System, das wir gewählt haben.“

Dieser Haltung sind wir in den Recherchen und Dreharbeiten immer wieder begegnet, auch in der Gymnasialklasse. Der Sozialismus gilt als ein gescheiterter Versuch, und nun müssen wir uns eben mit der sozialen Marktwirtschaft arrangieren, dem vermeintlich bestmöglichen System. So reden auch die Erwachsenen, etwa eine der Frauen im „Integrationsrat“. Planwirtschaft, das wollen wir nicht. 

Wir sollten uns auch immer fragen, was das mit uns zu tun hat

Yulia Lokshina

In den Gesprächen, die Sie filmen, ob mit Arbeiterinnen und in der Theaterklasse, geht es immer wieder um gesellschaftliche Verantwortung.

Es bringt nichts, bloß auf isolierte Missstände hinzuweisen, die uns nicht unmittelbar berühren. Speziell bei diesem Thema müssen wir uns fragen, was das mit uns zu tun hat, mit unserem Wohlstand. Man kann die Wohnverhältnisse in einer Arbeiterbaracke nicht isoliert betrachten. Es geht ja nicht nur um diesen einen Betrieb, der jetzt gerade in den Medien ist – oder gar eine einzelne Branche. Die Frage ist vielmehr, wie wir unseren Lebensraum gestalten wollen? Was akzeptieren wir? Die Missstände kamen ja nur wegen Corona wieder in die Öffentlichkeit, obwohl wir schon lange wissen, wie es in den Produktionsstätten zugeht. 

Ein Demonstrant im Schweinekostüm.
Ein Demonstrant im Schweinekostüm.

© Foto: Screenshot/Tagesspiegel

Vertrauen Sie darauf, dass wir das billige Fleisch beim nächsten Einkauf im Kühlregal liegen lassen? Damit würde man die Verantwortung allerdings auf die Menschen abwälzen. „Die Politik zieht nach“, heißt es im Film einmal.

Es erfordert natürlich eine politische Regulierung. Und diese Veränderung muss von der Bevölkerung gefordert und mitgetragen werden. 

Ministerin Julia Klöckner erklärte gerade, es gebe kein Recht auf Billigfleisch.

Mit diesem Begriff ist niemandem gedient, er verdreht die Diskussion. Die Frage ist doch, warum das Fleisch so billig ist. Dieses Produkt ist letztlich selbst eine Misshandlung von Menschen, den Arbeitern, aber auch den Konsumentinnen und Konsumenten, die dieses schlechte Fleisch essen. Die Fleischpreise sind niedrig, aber die Gewinnmargen hoch. Und es liegt nicht an den Menschen die am Existenzminimum leben und arbeiten und es sich sonst nicht leisten könnten. Es ist das Symptom eines gesamtgesellschaftlichen Problems das, ökonomisch und sozial, in der Produktion, aber auch im Bereich der Bildung, eine Veränderung braucht.

Vielleicht ist Brecht auch darum so hilfreich. Er war Moralist, kein Ökonom.

(Lacht) Hoffentlich bin ich nicht zu moralistisch. Ich will mit meinem Film keine Handlungsanweisungen geben, sondern Zusammenhänge erschließen. Und vielleicht neue Perspektiven eröffnen. 

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