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1945 wird Taiwan von der Republik China übernommen, von der von Chiang Kai-shek angeführten Kuomintang, die auf dem Festland derweil einen Bürgerkrieg gegen Maos Kommunisten kämpft.

© imago/AGB Photo

Roman über die Geschichte Taiwans: Und dann kamen die Festländer mit Gewehren im Anschlag

Taiwan ist nicht China. Aber was ist es? Stephan Thomes „Pflaumenregen“ erzählt virtuos das Drama einer Familie von der japanischen Kolonialherrschaft über die Kuomintang-Diktatur bis heute.


„Erst kamen britische Kriegsgefangene, dann amerikanische Bomber, später die Festländer mit Gewehren im Anschlag.“ Anfang der 1940er Jahre ist Taiwan ein Blatt im Taifun der Weltmächte. Seit bald einem halben Jahrhundert weht über der Insel die Flagge der japanischen Kolonialmacht, die Hauptstadt Taipeh heißt Taihoku, taiwanesische Kinder skandieren in der Schule Nippons Kaiserpropaganda. Das Reich hat Pearl Harbor angegriffen, kämpft im Pazifischen Krieg gegen die Republik China und verwendet seine Musterkolonie Taiwan als Stützpunkt und Straflager. Japan wird siegen, verkündet Japan. Japan verliert.

Das ist der erste Bruch in Stephan Thomes Roman „Pflaumenregen“, der Taiwans verworrene Geschichte von der Kolonialzeit bis heute am Beispiel einer Familie erzählt. In dem Bergarbeiterdorf Jinguashi, von den Japanern Kinkaseki genannt, wächst beschützt das taiwanesische Mädchen Umeko auf. Ihr großer Bruder Keiji ist Star des Schulbaseballteams und soll dank seiner präzisen Würfe bald aufs Internat nach Tokio, ins „Mutterland“. Der Vater, Herr Ri, lebt ein angepasstes Leben in einem Bürojob unter dem mal strengen, mal gönnerhaften, immer latent bedrohlichen Minendirektor Yamashita – nicht nur dessen „Rasur orientierte sich am Berliner Diktator“, Japans Verbündetem.

Koloniale Spuren: Ein verlassener japanischer Schrein im nordtaiwanesischen Bergarbeiterdorf Jinguashi, in dem der Roman „Pflaumenregen“ beginnt und endet.
Koloniale Spuren: Ein verlassener japanischer Schrein im nordtaiwanesischen Bergarbeiterdorf Jinguashi, in dem der Roman „Pflaumenregen“ beginnt und endet.

© imago/Imaginechina-Tuchong

Ökonomisch geht es Taiwan gut, aber was heißt das schon? Britische Soldaten, die die japanische Armee in Singapur gefangen nimmt, werden in Jinguashi als Zwangsarbeiter in den Tod getrieben. Die Bevölkerung, die im Dunkeln bleiben soll, wird von den Kolonialherren herablassend behandelt, doch Umekos Kindheit ist keine unglückliche. Sie erwächst im Wunder des Noch-nicht-Begreifens, das allenfalls formlose Ahnungen diffuser Mitschuld enthält: „Rannte sie nicht rechtzeitig fort und versteckte sich, sah sie unter den Tüchern eine Hand oder einen Fuß hervorlugen.“

1945 wird Taiwan von Japan an die Republik China übergeben

Einmal denunziert Umeko bei den Japanern einen angeblichen Verräter. Zur Belohnung erhält sie ein Paar Wollsocken. Dann schlägt der Wind um. Im Oktober 1945 taucht am Hafen von Keelung die 70. chinesische Armee auf, ein versehrter Haufen Festlandrepublik, der in China auf dem Verliererposten gegen Maos Kommunisten kämpft, sich einstweilen aber Sieger und Befreier nennen darf. Das im Zweiten Weltkrieg geschlagene Japan tritt Taiwan an die Republik China ab, an die von Chiang Kai-shek geführte Kuomintang (KMT). „Und was übergeben sie?“, fragt Umeko. – „Was schon“, erwidert ihr Vater. „Uns.“

In dieser Bemerkung liegt das große Anliegen des Romans, der die Tragik im Geschichtenerzählen über Taiwan ins Herz trifft: Die einzige der Welt geläufige Erzählung über das Land handelt davon, was es nicht ist – die Volksrepublik China. Weil China das anders sieht, taugt die Geschichte zur immergrünen, nimmer neuen Schlagzeile. Für ein tieferes Verständnis ist die Definition ex negativo recht stumpf.

Ein junger Mann stellt im Taiwan der 1960er Jahre Flaggen der Republik China her, die die Insel nach dem Zweiten Weltkrieg von Japan übernommen hat.
Ein junger Mann stellt im Taiwan der 1960er Jahre Flaggen der Republik China her, die die Insel nach dem Zweiten Weltkrieg von Japan übernommen hat.

© Fotografiert von Lin Chuan-tsu, zur Verfügung gestellt von Lin Chuan-hsiu

Also, was ist Taiwan? Wenn es so einfach wäre. Taiwanesen, das erzählt der 1972 im hessischen Biedenkopf geborene, seit Jahren in Taiwan lebende Autor in virtuoser Breite, das sind die lange malträtierten indigenen Völker; das sind aus dem Kaiserreich der späten Qing-Dynastie übergesiedelte Familien; das sind Kinder, die unter japanischer Beflaggung aufwuchsen und erst als Mittvierziger ihre neue Landessprache Chinesisch lernten, weil neue Herren vom Festland kamen, die ihre Fiktion eines republikanischen Chinas fortführten und diktierten, dass von Taipeh bis Kaohsiung jedermann Chinese zu sein habe.

Taiwanesen, das sind alte KMT-Bürokraten, Erben und Apologeten besagter Diktatur, die Peking einst hassten und jetzt die Hand reichen. Und das sind die Angehörigen der jüngeren, demokratisch sozialisierten Generationen, die genau das keinesfalls wollen.

Das ist im Roman zum Beispiel Zhu-li, genannt Julie, Doktorandin aus Taipeh im Jahr 2016 und Umekos Enkelin. Mit ihrem in den USA lebenden Onkel, dem Literaturdozenten Harry, versucht sie, ihre nach den 1940ern verschwiegene Familiengeschichte zu erforschen. Umeko, kulturell fast eine Japanerin, hat damals ausgerechnet einen Mann vom Festland geheiratet, Spross einer KMT-Familie – derselben KMT, die 1947 das „228-Massaker“ an der Bevölkerung verübt. Schätzungen zufolge werden bis zu 28.000 Taiwanesen getötet, um Aufstände gegen die Festländer niederzuschlagen. Ob Großmutter das Blutbad mitbekommen habe?, wird Julie einmal von ihrem Cousin gefragt. „Mit Sicherheit, aber darüber spricht sie nicht.“

Übrigens, hier lebt ein Volk

So erzählt der Roman die Geschichte Taiwans auf die einzige Art, die ihr gerecht wird: als gebrochenen, von Leerstellen durchsetzten Generationenstoff, in dem die Stille dröhnt wie Streit. Taiwan wird nach dem 228-Massaker von der KMT unter Kriegsrecht gestellt, ein paranoider Polizeistaat, der überall japanische Günstlinge oder kommunistische Agenten Pekings wittert. Das Regime verbannt Umekos Bruder Keiji auf die Grüne Insel, ein Eiland östlich der Hauptinsel, auf das politische Gefangene entsorgt werden. Zehn Jahre bleibt Keiji dort inhaftiert. Zehn Jahre bedeutet: unschuldig.

„Noch war eine friedliche Lösung der Krise möglich“, denkt Keijis und Umekos Vater, „aber dafür mussten die Verantwortlichen einsehen, dass sie nicht ein ganzes Volk zu Volksverrätern erklären konnten. Bisher schienen sie nicht einmal zu verstehen, dass auf der Insel überhaupt ein Volk lebte.“

Stephan Thome: „Pflaumenregen“. Roman. Suhrkamp, Berlin 2021. 526 Seiten, 25 €.
Stephan Thome: „Pflaumenregen“. Roman. Suhrkamp, Berlin 2021. 526 Seiten, 25 €.

© Suhrkamp

Man möchte den letzten Satz plakatieren, wenn man dieser Tage wieder hört, wie Taiwan etlichen Beobachtern als kaum mehr denn ein geopolitischer Spielball der Globalmächte China und USA gilt. Viele Jahre bevor die Geschichte mit Umekos Rückkehr in ihr Kindheitsdorf ihr Ende nimmt, offenbart Keiji ihr einen Schlüssel zur taiwanesischen Emanzipation, gleichsam einen Weg heraus aus dem 20. Jahrhundert: „Vielleicht gibt es eine Wahrheit, die beide uns vorenthalten wollen, damals die Japaner, heute die Chinesen. Um das herauszufinden, müssen wir unsere Geschichte allerdings selbst erzählen. Bisher haben es immer andere für uns getan. Das heißt, sie haben ihre Geschichte erzählt, wir kamen halt darin vor.“

In Stephan Thomes Roman muss China vorkommen, aus historischen Gründen einerseits, wegen des aktuellen – bislang nur verbalen – Dauerfeuers der Festländer mit Gewehren im Anschlag andererseits. „Man identifiziert sich ungern mit einem Land, das einen ständig mit Krieg bedroht“, sagt dazu Harry. Eine Lösung für dieses schwierigste aller taiwanesischen Gegenwartsprobleme kann selbst ein großer Roman nicht liefern. Aber „Pflaumenregen“ ist einer.

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