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Menschen brauchen mehr Hoffnung und Lust auf Zukunft.

© Martha von Maydell / Illustration: Martha von Maydell/https://www.mvmpapercuts.com/

Perspektiven in der Krise: „Wir brauchen Drehbücher der Hoffnung“

Der Philosoph Markus Gabriel beklagt den Mangel an Zuversicht. Denn diese bringe Menschen eher zum Handeln als die Angst. Teil 1 der Befragungs-Serie „Was ist Hoffnung für Sie?“

Von Markus Gabriel

Was bedeutet Hoffnung für mich?

Hoffnung ist die Vorstellung einer besseren Zukunft, die idealerweise das Handeln in der Gegenwart leitet. Hoffnung ist eine besondere Form der zeitlichen Erweiterung unserer gegenwärtigen Erwartungen in die Zukunft hinein. Und dann kehren wir in die Gegenwart zurück.

Hoffnung kann sehr mächtig sein. Was wir als Menschen tun, ist immer ein Spiegelbild der Vorstellung, die wir von uns haben. Menschen sind wie Tiere, wir verstehen uns als Individuen und im Kollektiv. Die verschiedenen Schichten der Identität, individuelle, kollektive und menschliche, existieren alle in einer Projektion in Richtung Zukunft. Wir werden niemals irgendetwas tun, ohne uns eine Alternative vorzustellen.

Was das angesichts des Klimawandels bedeutet?

Um die Klimakrise zu lösen, brauchen wir andere Erzählungen, die weit über den gegenwärtigen Moment hinausreichen. Niemand, der oder die heute am Leben ist, wird relevante Veränderungen im menschlichen Verhalten bezüglich des Klimawandels erleben. Wir werden nicht sehen, wie Dinge besser werden – das bedeutet, dass wir unsere Temporalität vor dem Horizont der Zukunft sehen müssen, weit über die Existenz von allen, die heute leben.

Was ist die Beziehung zwischen Hoffnung und Vernunft – und Wissen?

Die Hoffnung basiert auf der Vernunft. Die Rationalität, unsere Emotionen und unsere Vorstellungskraft sind verbunden. Die Vernunft ist keine kühle Übung darin, Mathegleichungen zu lösen. Die Vernunft steht nicht im Gegensatz zum menschlichen geistigen Leben. Wenn es so wäre, würde es die Moral als Antwort auf die Anliegen von anderen nicht geben. Auch wenn ich Philosoph bin, glaube ich, dass Wissen in den Debatten über unsere gegenwärtige Klimakrise und andere Krisen überbewertet wird. Wir wissen allerlei, aber das verändert nichts. Die Tatsache, dass wir etwas wissen, leitet unser Handeln nicht.

Ich praktiziere eine Philosophie der Zukunft. Das gab es schon in der Vergangenheit. Ludwig Feuerbach hat den Begriff geprägt, und Friedrich Nietzsche hat ihn übernommen. Wir brauchen eine ernsthafte zukunftsgerichtete Philosophie, eine Philosophie der Veränderung. Ich sehe mich philosophisch in den Traditionen von Ernst Bloch und Friedrich Schelling, auf den sich Bloch bezog. Schelling war der erste Philosoph, der uns bereits in den 1830er Jahren sagte, dass die Zukunft, nicht die Gegenwart das Paradigma der Zeit bildet. Ich glaube, das ist der Ursprung von vielem in der Philosophie der Hoffnung.

 Ich bin sehr glücklich mit der Idee, dass wir etwas Neues erreichen müssen. 

Markus Gabriel

Es gibt die Notwendigkeit eines Quantensprungs in der Philosophie. Diesen hat es im naturwissenschaftlichen Wissen und in der industriellen Produktion gegeben – aber er hat kein Äquivalent im Denken. Die Philosophie hat bisher rückwärts geschaut, wie Hegel berühmterweise über die Eule der Minerva gesagt hat. Das gilt für Aristoteles bis Hegel und darüber hinaus. Wir brauchen eine Philosophie, die keine Angst hat vor dem Neuen. Menschen hegen den Verdacht, dass die Schuld im Neuen liegt. Philosophen haben große Angst vor Innovation, vor der Neuartigkeit allgemein. Da bin ich gegenteiliger Meinung. Ich bin sehr glücklich mit der Idee, dass wir etwas Neues erreichen müssen. Die Philosophie als wertegetriebene Erkundung der Zukunft zu betrachten, das würde einen Quantensprung bedeuten.

Ist das Neue immer neu?

Nein. Ich glaube, das sogenannte Mittelalter war radikal innovativ, da man ständig Katastrophen ausgesetzt war. Modernes Denken ist flach. Wir glauben, dass bloßer naturwissenschaftlicher Fortschritt unsere Probleme lösen wird. Und wann immer es zu Störungen kommt, einem Virus, einer Pandemie oder was auch immer, werden wir unglaublich nervös, weil wir dachten, dass wir doch alles verstanden haben. Aber wir werden nicht zu wirklichem Fortschritt kommen, wenn wir immer nur das Alte wiederholen. Und wir brauchen diesen Fortschritt insbesondere mit Blick auf die Klimakrise.

Sie fordern Handeln: Die Klimaaktivistinnen Vanessa Nakate aus Uganda und Greta Thunberg (Mitte) aus Schweden (Mitte r) bei einer Demonstration von «Fridays for Future».
Sie fordern Handeln: Die Klimaaktivistinnen Vanessa Nakate aus Uganda und Greta Thunberg (Mitte) aus Schweden (Mitte r) bei einer Demonstration von «Fridays for Future».

© AP / dpa/LaPresse/AP

Wie übersetzt man Hoffnung in Handlung? Hoffnung kann die Menschen eher zum Handeln bringen als Angst. Für die Klimakrise brauchen wir Drehbücher der Hoffnung. Vieles der Irrationalität in der aktuellen höchst kritischen Situation ist eine Konsequenz des Mangels an Hoffnung. Wir brauchen Orte und Institutionen der Hoffnung. Wir brauchen ein Ministerium der Hoffnung. Dort würden Szenarien entwickelt, die zu neuer Hoffnung führen, Szenarien für die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche. Die Experten können uns sagen, worauf wir hoffen können. Ganz im Sinne von Kant, der es als eine seiner vier Fragen der Philosophie so formulierte: Was darf ich hoffen? Und ich glaube, dass es wichtig ist, diese Frage wiederzubeleben. Traditionell war Hoffnung eher etwas für die Theologen, auch noch bei Kant. Heute ginge es darum, eine säkulare Hoffnung zu entwickeln, eine „neue Hoffnung“ – das ist natürlich auch meine Lieblings-Episode von „Star Wars“.

Die Hoffnung ist damit ein essenzieller Teil einer erneuerten Demokratie.

Im Moment ist die demokratische Öffentlichkeit größtenteils von gegenseitiger Kritik zwischen Parteien oder Individuen getrieben. Kritik ist in Ordnung. Wir brauchen Kritik. Aber Kritik löst keine Probleme, sie zeigt uns nur, welche Probleme noch nicht gelöst sind. Wir brauchen einen Diskurs der Hoffnung und der Freundschaft. Was Derrida eine Politik der Freundschaft genannt hat.

Auch ein neues Vokabular für die Demokratie wäre eine gute Idee. Das erinnert mich daran, was Jonathan Lear „Radikale Hoffnung“ genannt hat. Demokratie sollte auf diese radikale Hoffnung aufbauen. Man sieht das ganz gut in den USA, wo Präsident Biden in den ersten Monaten Projekte angeschoben hat ganz in diesem Sinn, etwa den großen Infrastrukturplan. Das Scheitern der Biden-Administration besteht nun genau darin, dass er seit einer Weile gegen die Hoffnung Politik macht. Und das ist fatal. Denn Hoffnung ist eine demokratische Tugend.

Wie gelingt Veränderung?

Veränderung gelingt dann, wenn unsere kollektive Vorstellung sich verändert. Entscheidend daran ist, dass wir die passende Hoffnung für die richtige Herausforderung entwickeln. Und das bedeutet, dass Hoffnung und gewisse Werte zusammenpassen müssen. Dafür brauchen wir das Wissen aus unterschiedlichen Disziplinen. Und wir müssen die Imagination der Menschen erreichen, also Bilder schaffen einer anderen Welt, einer besseren Zukunft. Das ist übrigens auch das Projekt der Aufklärung.

Was ist die „neue Aufklärung“, die gefordert wird?

Ein wichtiger Gedanke für mich ist, dass wir viel stärker auf das vormoderne Denken zurückgreifen müssen, etwa das Wissen indigener Kulturen, wo es eine dauernde Verbindung mit dem Neuen gab, ein Interesse an Mythologie, Details und Rhythmus. Wir Modernen langweilen uns dabei oft, weil wir nicht verstehen, was wir sehen. Auf gewisse Art müssen wir das Sehen wieder lernen.

Welche Rolle spielt dabei die Moral?

Die Hoffnung sollte in Übereinstimmung mit den moralischen Tatsachen sein. Wir brauchen eine zusätzliche Ebene der Normativität, und die kommt von den moralischen Tatsachen – manche davon sind offensichtlich, und andere sind eher versteckt. Beispielsweise die Taliban, die Mädchen verbieten, die Schule zu besuchen. Wenn also jemand hoffen würde, dass die Taliban zurückkehren, wie gerade geschehen, wäre das nicht mit moralischen Tatsachen zu vereinbaren. Und versteckte moralische Tatsachen zu entdecken, führt zu einer Verbesserung der Gesellschaftsstruktur.

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