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Harald Martenstein

© imago images / Revierfoto

Der Fluch des Aktivismus: Identitätspolitik ist Ideologie

Was hat der identitäre Aktivismus mit Fundamentalismus, Kommunismus und Nationalismus gemeinsam? Sie sind Menschensortierer.

| Update:

Wolfgang Thierse hat sich gegen die Identitätspolitik gestellt, große Teile der SPD scheinen auf seiner Seite zu stehen. Vielleicht findet die SPD zu sich selbst zurück.

Die Ideologien mit Allmachtsanspruch hießen bisher religiöser Fundamentalismus, Kommunismus und Nationalismus, gepaart mit Rassismus. Der identitäre Aktivismus ist nun das vierte, neueste Angebot in diesem Marktsegment.

Was haben alle vier gemeinsam? Sie sind Menschensortierer. Sie sehen nicht den Einzelnen, sie denken in Gruppen. Wir und die. Die Gläubigen und die Ungläubigen. Die Partei und die Feinde der Partei. Unser Volk und die anderen, Minderwertigen. Jetzt also: die Diskriminierten und die Privilegierten.

Eine schwarze Rapperin, die Millionen verdient, ist nach dieser Theorie ein Opfer, aufgrund ihrer Identität. Ein weißer Obdachloser, der neben der Mülltonne schläft, ist privilegiert, aufgrund seines Geschlechts und seiner Hautfarbe.

Wie kann man das glauben? Alle vier Ideologien knüpfen an reale Probleme oder legitime Bedürfnisse an. Gegen Frömmigkeit und unaggressiven Patriotismus ist wenig einzuwenden, der Kampf für soziale Gerechtigkeit und gegen Diskriminierung ist nicht nur legitim, sondern notwendig. Am Ende läuft es bei den Ideologen allerdings auf totale Kontrolle durch eine radikale, entschlossene Minderheit hinaus, die Priesterkaste, die Parteibürokratie, den Führer und seine Entourage.

Immer gibt es die Fantasie einer reinen, sauberen Gesellschaft, in der alle Fragen geklärt sind. Immer gibt es die Feinde, die ausgeschaltet werden müssen, und eine neue, von oben verordnete Sprache, immer soll die Erinnerung an eine Vergangenheit ausgemerzt werden, die anders war. In den USA weigern sich inzwischen Lehrer, den angeblichen Rassisten Shakespeare im Unterricht zu behandeln.

Ich habe gelernt, auf das Wort „gefährlich“ zu achten. Wer andere Meinungen „gefährlich“ nennt, verrät, wo er hinwill. Es sind immer Stellvertreter, die anderer Leute Freiheit gefährlich finden, nicht ein Gott, ein ganzes Volk oder die Benachteiligten selbst. Die schwarze Lyrikerin Amanda Gorman hatte sich eine weiße holländische Übersetzerin ausgesucht, die sie schätzt, auf Druck von Aktivisten soll sie nun von einer schwarzen Frau übersetzt werden.

Das Kollektiv zählt, nicht das Individuum. Was du wirklich willst und wer du wirklich bist, wissen die Aktivisten besser als du selbst. Der Arbeiter, der die Partei kritisiert, hört für die Partei auf, Proletarier zu sein, er ist jetzt Konterrevolutionär. Der Gläubige, der zweifelt, heißt Ketzer. Und die Migrantin oder der Homosexuelle, der sich gegen die selbst ernannten Stellvertreter stellt, verwandelt sich in einen „Token“, einen Agenten des Feindes.

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