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Tschernihiw: Ein ukrainischer Soldat steht auf einem zerstörten russischen Panzer.

© dpa / Evgeniy Maloletka

Kriegsforscher O’Brien im Interview: „Natürlich kann die Ukraine diesen Krieg gewinnen“

Die russischen Truppen in der Ukraine halten nicht mehr lange durch, glaubt Phillips Payson O’Brien. Will Putin seine Ziele noch erreichen, bleibe ihm nur eine Möglichkeit.

| Update:

Der US-Außenminister Antony Blinken hat vergangene Woche gesagt, dass es kein Szenario gibt, in dem die Ukraine den Krieg gegen Russland nicht gewinnt. Eine ziemlich optimistische Feststellung, oder?
Finde ich nicht. Natürlich kann die Ukraine diesen Krieg gewinnen.

Das ist angesichts der Einschätzungen vor dem 24. Februar dennoch eine durchaus überraschende Aussage. Viele Experten glaubten, dass die Ukrainer nur wenige Tage durchhalten, wenn überhaupt. 
Die Ukrainer wurden schwer unterschätzt. Auch von Militäranalysten im Westen. Dabei waren die Ukrainer extrem gut vorbereitet auf den russischen Überfall. Sie waren besser ausgerüstet und hatten eine bessere Strategie, als viele Beobachter gedacht haben. Hinzu kommt, dass die ukrainischen Truppen die bessere Moral haben. Sie wollen ihr Heimatland verteidigen.

Und die russische Armee wurde überschätzt?
Die russische Armee wurde so stark überschätzt, wie die ukrainische unterschätzt wurde. Die Unzulänglichkeiten der Russen ziehen sich durch alle Ebenen. Ihre Möglichkeiten, komplexe Operationen durchzuführen, entsprechen nicht denen eines hochmodernen Militärs. Außerdem sieht es so aus, dass die Moral und der Trainingsstand der Truppen ihnen ziemliche Schwierigkeiten bereiten, so einen großangelegten Feldzug durchzuführen.

Seit 1945 war es nie die Aufgabe der russischen Armee einen Blitzkrieg zu führen, wie die Deutschen während des Zweiten Weltkrieges. Sie haben deshalb keinerlei Erfahrung darin einen Krieg zu führen, wie sie ihn in der Ukraine führen.

Aber zugegeben: Selbst diejenigen, die wie ich skeptischer gegenüber den Fähigkeiten der Russen waren, waren überrascht, wie effektiv die Ukrainer kämpfen. 

Wie kommt man überhaupt dazu zu sagen, dass die Ukrainer effektiv kämpfen? Über deren Verluste ist kaum etwas bekannt. 
Die Ukrainer, das wissen wir von Experten, die das anhand von öffentlich verfügbarem Material verfolgen, haben jetzt mehr Panzer und gepanzerte Fahrzeuge als vor dem Krieg. Sie haben mehr Fahrzeuge erobert, als sie verloren haben. 

In der Tat ist aber unklar, wie stark die ukrainischen Truppen dezimiert sind. Bei den Russen lässt sich das anhand der zerstörten Fahrzeuge hochrechnen, weil in jeder Fahrzeugkategorie eine bestimmte Besatzungsanzahl vorgesehen ist. Die Ukrainer hatten von Beginn an deutlich weniger Fahrzeuge, entsprechend weniger sind auch zerstört worden. 

Für mich zeigt die Tatsache, dass sie es bisher geschafft haben, an vielen Fronten im Land zu kämpfen und dass die Moral bisher offensichtlich nicht gelitten hat, dass die Verluste nicht so gravierend sein können, wie sie es für die Russen sind.

Natürlich werden die Opferzahlen bei den Ukrainern auch vergleichsweise hoch sein. Das müssen sie bei dieser Art Krieg auch. Aber es scheint - und da haben wir anekdotische Evidenz - dass die Opferzahlen bei den Ukrainern ihre Handlungsfähigkeit weniger einschränken als bei den russischen Truppen. 

Bis zu einem Viertel der russischen Truppen könnte schon kampfunfähig sein.

Phillips Payson O’Brien

Das ist auch der Grund, warum Sie sagen, dass die Ukrainer diesen Krieg gewinnen können?
Ja. Schon jetzt musste Moskau bei seinen Kriegszielen Abstriche machen. Putin wollte die ganze Ukraine, jetzt wollen sie „nur“ den Süden und den Osten des Landes erobern. Aktuell sind sie aber nicht mal dort sehr erfolgreich. 

Der Grund: Ihnen fehlen schlicht die Truppen dafür. Weder um großflächig Gebiete zu erobern, noch sie zu halten. Dafür haben sie schon zu viele Opfer zu beklagen und zu viel Material verloren. 

Kann man das in Zahlen fassen? 
Die Russen sind mit rund 200.000 Soldaten in diesen Krieg gegangen, das ist schon mal weniger als die Truppenstärke der ukrainischen Armee, die bei rund 300.000 liegt. Für die Russen kommt erschwerend hinzu, dass sie auf feindlichem Gebiet operieren und handlungsfähig bleiben müssen. Auch das ist personalaufwendig. Nimmt man die Versorgungsverbände dazu, muss man sogar noch mehr Truppen aufwenden. 

Bis zu einem Viertel der russischen Truppen könnte schon kampfunfähig sein; entweder getötet, verletzt, gefangen genommen oder desertiert. Die Armee, die Russland am 24. Februar in den Krieg geschickt hat, verliert gerade den Zusammenhalt. Sie kann noch ein paar Wochen weiterkämpfen, etwas Kraft ist da noch. Aber es ist schwer vorstellbar, wie sie bis zum Sommer effektiv bleiben will.

Was wäre ein Ausweg für Moskau?
Um den Druck auf die Ukraine aufrechtzuerhalten und seine militärischen Ziele in einem langen Krieg zu erreichen, bräuchte Russland eine ganze neue Armee. 

Das sollte eigentlich kein Problem sein. Die russische Armee ist viel größer als die 200.000 Soldaten, die jetzt in der Ukraine sind.
Es wird geschätzt, dass drei Viertel der besten russischen Truppen aktuell in der Ukraine kämpfen. Aber jetzt kommt das Verwunderliche. Fakt ist, die Russen haben Hunderttausende zusätzliche Truppen. Aber die wollen sie offensichtlich nicht nutzen. Warum nicht? Es muss etwas mit dem mangelnden Vertrauen in die Fähigkeiten dieser Truppen zu tun haben. Sie scheinen nicht gut genug zu sein. 

Wie kommen Sie darauf?
In einem Krieg muss man nutzen, was man hat. Wenn die Generäle glauben würden, die in Russland verbliebenen Soldaten würde einen Unterschied machen, würde sie sie nehmen. Russland führt einen großen Krieg. Also einen wirklich großen Krieg, in dem man wirklich viele Truppen braucht. Sowas macht man nicht mit halber Kraft.

 Eine Einkesselung ist eine militärisch hochkomplexe Operation.

Phillips Payson O’Brien

Das ist auch der Grund, warum die schon stark angeschlagenen Truppen aus dem Norden der Ukraine - also der Gegend um Kiew - jetzt in den Donbass verlegt werden?
Ja, das ist eigentlich völlig widersinnig. Diese Truppen sind nicht in einer guten Verfassung, gleich noch einmal in eine Schlacht zu ziehen. Sie haben schon hohe Verluste erlitten. Aber genau diese Kräfte sollen jetzt in den Donbass statt der frischen Truppen, die sie eigentlich noch in Russland haben.

Die russische Armee verfügt über rund 900.000 Mann, heißt es. Da wird sich doch noch wer finden lassen, um in die Ukraine geschickt zu werden. 
Die Zahl beschreibt das gesamte Militärpersonal. Also Armee, Marine, Luftstreitkräfte. Und da ist sicher viel bürokratischer Apparat dabei. Meiner Ansicht nach bleiben aktuell nur rund 50.000 Soldaten, die man als High Level bezeichnen könnte und die nicht in der Ukraine im Einsatz sind. Da sind unter anderem Fallschirmjäger dabei, Marines und die Speznas, Eliteeinheiten für Spezialoperationen. 

Dann gibt es noch ein paar Hunderttausend andere Truppen, die man als nicht sonderlich gut ausgebildet betrachten kann, aber die militärisches Grundwissen haben. Und die Wehrpflichtigen. Sie einzuziehen, hat Putin bisher ausgeschlossen.

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Nun verlagert sich der Krieg in die Ostukraine. Eines der Hauptziele dort ist die Einkesselung von großen ukrainischen Truppenverbänden im Donbass. Dafür wollen die russischen Truppen einen Korridor zwischen der Stadt Izium nach Süden schlagen. Wird das gelingen?
Sie haben selbst dafür aktuell nicht ausreichend Truppen dort. Laut Pentagon sind aktuell 30 russische Batallione im Donbass. Das werden nach den Verlusten der vergangenen Wochen noch 20.000, höchstens 24.000 Soldaten sein. Die Seperatistentruppen würde ich nicht dazuzählen, sie sind militärisch nicht wirklich gut ausgebildet. 

Wenn das also wirklich das ist, was sie jetzt im Donbass haben, reicht das nicht. Das ist nicht genug, um die Einkesselung zu schaffen. Das ist wirklich ein großes Gebiet. Wenn man die lange Donbass-Linie von Charkiw im Norden nach Mariupol im Süden zieht sind das mehr als 400 Kilometer. 

Auch hier gilt: Um diese Operationen zu schaffen, bräuchten die Russen bedeutende Verstärkung und neue, frische Truppen…

… die offensichtlich nicht kommen.
Genau. So eine Einkesselung ist eine militärisch hochkomplexe Operation. Sie müssen erst einmal die ukrainischen Linien durchbrechen. Dann müssen sie die ukrainischen Straßen einnehmen und sichern. Das ist den Russen schon beim Angriff auf Kiew nicht gelungen.

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Dann müssen sie sich mit anderen Truppen verbünden und diese Linie halten. Das schafft man nur mit wirklich guten Soldaten und nicht mit Milizen, die Kanonenfutter sind. Diese Blitzkrieg-Manöver, über die die Russen immer sprechen, dafür braucht man wirklich viele und gute Leute. 

Aber zumindest die Logistik dürfte für die russische Armee im Osten und Süden nicht mehr eine solche Herausforderung sein. 
Das könnte man meinen, ja. Die Gebiete liegen näher an der russischen Grenze. Sie haben Nachschub-Depots auf der Krim, in Donetzk, Luhansk und Belgorod auf der russischen Seite. Sie haben also sehr viel besseren Zugriff auf ihren Nachschub als sagen wir nahe Kiew, wo sie wirklich Probleme hatten.

Aber auch hier greifen die Ukrainer immer wieder Logistikpunkte an. Sogar auf russischem Gebiet, wie kürzlich nahe Belgorod. Außerdem werden immer wieder die Nachschub-Kolonnen attackiert.

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Wenn die Russen aktuell keine Chance haben ihre Ziele zu erreichen, was ist mit den Ukrainern? 
Auch sie werden versuchen, mehr Kräfte in den Donbass zu verlegen. Für sie ist das einfacher, weil sie nicht so große Distanzen überwinden müssen und die Versorgung der Truppen insgesamt einfacher ist. Vor allem weil die Eisenbahnen größtenteils noch funktionieren.

Werden die Ukrainer fähig sein, die russischen Truppen zurückzudrängen? 
Ich denke, sie werden versuchen, die russischen Truppen so auszulaugen, dass sie die Linien nicht mehr halten können und sich zurückziehen müssen. Vielleicht werden die Ukrainer versuchen, eigene, große Gegenoffensiven zu starten. Das ist aber sehr risikoreich und man braucht viele Panzer. Aber wie gesagt, ich glaube nicht, dass sie das riskieren müssen. 

Weil die russischen Truppen vorher erschöpft sind?
Ja, die Ukrainer müssen das weitermachen, was sie bisher sehr erfolgreich gemacht haben. Dann werden die Russen bald nicht mehr genug Truppen haben, um so ein großes Gebiet zu halten.

Und dann geht es zurück zu den alten Grenzen des Donbass, wie sie vor dem 24. Februar waren und dann ist dieser Krieg zu Ende?
Das hängt vor allem davon ab, ob Putin so auf diesen Krieg fixiert ist, dass er alles aufs Spiel setzt und nochmal eine neue Armee in die Ukraine schickt. Wenn das nicht passiert, wird der Krieg dieses Jahr zu Ende sein, vielleicht sogar schon im Sommer. Es muss dann eine Einigung auf politischer Ebene geben. Wenn es eine Mobilmachung der gesamten russischen Gesellschaft gibt, könnte der Krieg aber auch noch einige Jahre dauern. 

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